Der als Ungleichheits- und Starökonom gefeierte Franzose Thomas Piketty, Professor an der Paris School of Economics und der École des Hautes Études en Sciences Sociales, behauptet in seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert", dass der Kapitalismus die Reichen fast automatisch immer reicher mache. Sobald die Kapitaleinkünfte (return on capital, "r") größer als das Wirtschaftswachstum (economic growth, "g") seien, also r > g, trete diese Entwicklung automatisch ein. Anhand historischer Daten versucht Piketty zu belegen, dass r in der Regel größer gewesen war als g. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs seien die Kapitaleinkünfte gegenüber dem Wirtschaftswachstum stark angestiegen. Piketty weist in seinem Buch eine Erkenntnis nach, die auch alle Nicht- oder Stammtisch-Ökonomen wissen: Mit Geld lässt sich viel mehr Geld verdienen als mit den eigenen Händen. Sein Zwischenfazit: Ein unregulierter Kapitalismus führt unweigerlich zu steigender Vermögenskonzentration und dies wiederum zu einer stagnierenden Wirtschaft, die eine Bedrohung für die Demokratie darstellt. Wie lässt sich das Dilemma lösen? Einkommen jenseits von 500.000 oder einer Million US-Dollar könnten mit einer Steuer von 80 Prozent belegt werden. Allerdings soll die Besteuerung so gestaffelt werden, damit die Mittelschicht nicht darunter leidet. Liegt der französische Ökonom mit seiner These zur Ungleichheit nun richtig oder falsch?
Die wesentlichen Thesen und Thomas Pikettys Kapitalismus-Kritik werden in der kompakten Veröffentlichung von Ulrich Horstmann auf etwas mehr als 100 Seiten verständlich dargestellt und interpretiert:
- Piketty – wie Karl Marx – bedient vor allem die Sehnsucht der Bevölkerung. Deswegen ist eine Auseinandersetzung mit seinen Thesen für jeden politisch denkenden Menschen geboten, um eine Verführung der Massen zu verhindern.
- Pikettys Weltformel r > g, durchschnittliche Kapitalrendite > Wachstumsrate der Wirtschaft, die seine These von der Kapitalkonzentration begründet, ist ungeeignet, dies zu untermauern. Kapitalbesitzer reinvestieren nur einen Teil der Rendite, ein anderer Teil wird verbraucht, als Steuer abgeführt oder vernichtet. Langfristig ist diese Formel im Gleichgewicht: r = g. Hierzu lesenswert ist die Kritik von Hans-Werner Sinn, der anhand des Beispiels der Aufschüttung eines Erdhaufens zeigt, dass der von Piketty postulierte Zusammenhang nicht richtig ist und allenfalls temporär r > g gilt. Langfristig "konvergiert die prozentuale Wachstumsrate der Menge an Erde, die auf dem Haufen liegt, gegen die Wachstumsrate der Schaufelgröße".
- Keinesfalls gibt es die von Piketty wie Marx behaupteten Gesetzmäßigkeiten. Statistiken können alles oder nichts beweisen.
- Die wichtigere Frage ist, wie viele Menschen teilen sich die Lohn- und Kapitaleinkommen in welchem Verhältnis beziehungsweise wie kann die Zahl der abhängig Beschäftigten sinken und die der Vermögensbesitzer steigen?
Horstmann weist zurecht darauf hin, dass es bei der als ungerecht empfundenen Verteilungsfrage nicht auf das Verhältnis von Vermögen und Volkseinkommen ankommt, sondern auf die Anteile am Volkseinkommen. Diese Anteile sind zwar im längeren Zeitablauf relativ konstant, können aber proaktiv durch ein progressives Steuersystem und Anreize zur Vermögensbildung zum "Wohlstand für alle" (Ludwig Erhard) verbessert werden. Eine sozialistische 80-prozentige Einkommensteuer oder eine weltweite Vermögenssteuer, wie Piketty es vorschlägt, käme einer Enteignung gleich und deren effektive Durchsetzung ist nachweislich völlig unrealistisch.
Horstmann zeigt auf, dass ein Blick nach Ludwig Erhard bessere Lösungsansätze liefert: Nach Ludwig Erhard ist der Markt dann sozial, wenn der Staat freien und uneingeschränkten Wettbewerb garantiert. Eine solche Ordnungspolitik setzt auf Machtkontrolle der Wirtschaft (etwa durch Auflösung von Kartellen) und bindet die Politik selbst (durch eine unabhängig agierende Notenbank), um die Verschuldung tragfähig zu halten. "Wie weit wir uns von diesen freiheitlichen Prinzipen entfernt haben, lässt sich unschwer erkennen, aber nur durch die Rückkehr zu den Prinzipien lässt sich wieder 'Wohlstand für alle' schaffen," so Horstmann. Die Alternative ist der Rückfall in den umverteilenden, zentralistischen Behördenstaat. Er verteilt dann die wachsende Armut an sozial und demokratisch entrechtete Untertanen. Statt auf den Lenkungsstaat mit enger Führung setzte Erhard auf freie und selbstbewusste Bürger. Er warnte vor geschichtlichen Rückfällen, zumal er einen solchen Staat in den 1930er und 1940er Jahren in Deutschland bis zur Währungsreform selbst miterlebte.
Die Leistung von Ulrich Horstmann liegt vor allem darin, dass er die Thesen von Thomas Piketty neutral analysiert und an vielen Stellen demystifiziert. So wird die Datenbasis in Zweifel gezogen und auch Pikettys Weltformel r>g kritisch hinterfragt. Bei Piketty wird vor allem die Rolle des Staates nicht berücksichtigt, obwohl dieser mit seiner Politik eine wichtige Rolle bei der Umverteilung spielt.
Statt die Umverteilung mit "Reichensteuern" auf die Spitze zu treiben, so Ulrich Horstmann, sollten die Chancen für niedrigere Einkommensempfänger verbessert werden. Pikettys umstrittene Thesen sollten Anlass bieten für Reformen, wenn auch für ganz andere, als der französische Ökonom vorgeschlagen hat, so das Fazit von Ulrich Horstmann. Mit seiner Ungleichheitsthese hat Piketty die Gerechtigkeitsfrage wieder in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt. Die Leistung von Piketty liegt daher vor allem darin, dass er mit seinem Buch eine lebhafte und wichtige Debatte über grundlegende Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der ökonomischen Forschung angestoßen hat. Und der Mehrwert der Publikation von Ulrich Horstmann ist darin zu sehen, dass er die wesentlichen Argumente von Piketty kompakt zusammenfasst und sich kritisch mit seiner Formel für Reichtum auseinandersetzt.