Was haben Alexander der Große, Dschingis Khan, das Britische Empire unter Königin Victoria, die UDSSR und dessen Parteivorsitzender Leonid Breschnew sowie George W. Bush und die USA gemeinsam? Sie alle waren oder engagierten sich machtpolitisch in Afghanistan (oder was zu ihrer Zeit zum heutigen Staatsgebiet Afghanistan gehört). Die fremden Mächte führten Krieg, unterwarfen die Menschen oder "diktierten" sozialistische oder demokratische Reformen. Je nachdem, wer gerade vor Ort war und was die fremden Aggressoren als Eroberungs-, Kolonial- und Besatzungsziel im Gepäck mitführten.
Letzter unrühmlicher Akt dieser Fremdherrschaften ist der übereilte Abzug der USA und ihrer Verbündeten aus dem Land am Hindukusch. Und wie immer zeigt die Moral von der Geschichte: Krieg ist ungerecht und kennt nur Verlierer. Am meisten verloren hat das afghanische Volk über all die Jahrhunderte der Fremdherrschaften. Denn dessen Schicksal lag zu oft in den Händen machhungriger Despoten und westlichen Regierungen, die mit militärischem Nachdruck ihre politischen und vor allem wirtschaftliche Ziele durchsetzen wollten. Im Gegenzug winkten den über 30 Millionen Afghanen ausländische Versprechungen – in den letzten 20 Jahren vor allem Aufbau, Demokratie und eine soziale und wirtschaftliche Belebung des Landes. Welch Trugschluss für die Menschen vor Ort. Denn eines zeigt sich am Beispiel Afghanistan erneut: Politik ist Macht und für Sentimentalitäten ist kein Platz. Daraus entstand für die Menschen im Land ein nicht enden wollender Alptraum. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger formulierte es einmal so: "Am schlimmsten ist Afghanistan für die Afghanen." Aber der Reihe nach.
Der Feind meines Feindes ist mein Freund
Als im Februar 1989 die sowjetischen Truppen über den Grenzfluss Amu Darja zurück in die zerfallende UDSSR zogen, endete ein fast zehn Jahre dauernder Krieg im Nachbarland Afghanistan. Ein Krieg, den die Sowjetunion, wie viele Mächte davor und danach, nicht gewinnen konnte. So kontrollierten die Mudschaheddin laut Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB) 1988 "rund 60 Prozent Afghanistans". Die BPB führt an: "Die Aufständischen zermürben die Besatzer mit Guerillataktiken und strategischen Rückzügen in die nahezu unzugänglichen Bergregionen Afghanistans." Der Grund für den Erfolg lag in den Waffen- und Geldlieferungen vonseiten der USA, Saudi-Arabiens sowie des Nachbarlandes Pakistan. Alleine von rund drei Milliarden US-Dollar ist die Rede, die die Widerstandskämpfer im Krieg gegen die sowjetischen Besatzer aus den USA erhielten. Hinzu kam die US-amerikanische Central Intelligence Agency (CIA), die während der "Operation Cyclone" im Land agierte. Und auch die Bundesrepublik Deutschland mischte im Rahmen der Operation "Sommerregen" mithilfe des Bundesnachrichtendienstes (BND) kräftig in Afghanistan mit. So kommt die ARD in einem jüngst veröffentlichten Beitrag zu dem Schluss: "Schon in den 1980er-Jahren waren die deutschen Spione am Hindukusch sehr umtriebig – und knüpften damals Kontakte zu den afghanischen Aufständischen, den Mudschaheddin, von denen sich einige Islamisten später auch den Taliban anschlossen. Die Operation ‚Sommerregen‘ hatte zum Ziel, den Widerstandskampf gegen die sowjetischen Besatzungstruppen in Afghanistan zu unterstützen und nebenbei Informationen über Ausstattung und Fähigkeiten der Sowjetarmee zu sammeln."
Es zeigt sich einmal mehr: Der Feind meines Feindes ist mein Freund – sprich, um die Sowjetunion vor Ort zu besiegen, war den westlichen Staaten und ihren Geheimdiensten jedes Mittel recht. Ein Mittel der Wahl, das auch die kommenden Jahrzehnte zum Zuge kam und von dem bis zu ihrem übereilten Abzug sowohl US-Amerikaner als auch ihre Verbündeten im August 2021 reichlich Gebrauch machten. Alleine Deutschland lieferte in den rund 20 Jahren seines militärischen Engagements Waffen im Wert von über 400 Millionen Euro nach Afghanistan. Nur mit dem Unterschied, dass diesmal neben den eigenen Streitkräften und der NATO auch afghanische Sicherheitskräfte im Mittelpunkt der Zuwendungen standen und keine aufständischen Mudschaheddin.
Geopolitisches Fiasko und die Idee des Westens
Die Doppelmoral, mit der die europäischen Staatenlenker in den letzten Jahrzehnten in Afghanistan auftraten, ist fast unerträglich. So kommt "Die Zeit" zu dem Schluss: "Der Sieg der Taliban ist mehr als nur ein geopolitisches Fiasko. Er stellt die Idee des Westens infrage: Der hat seinen normativen Selbstanspruch in den Schmutz gezogen." Der Westen habe die Rede von den Menschenrechten zur lächerlichen Phrase gemacht, zum abwaschbaren Dekor seiner schwindenden Macht, zur rhetorischen Camouflage in geopolitisch wechselndem Gelände. Und die deutsche Außenpolitik? Heiko Maas irrt umher, von der Türkei über Pakistan bis nach Katar. Um zu verhandeln, wo es nichts mehr zu verhandeln gibt. Das deutsche Außenministerium hat in diesem Zuge nichts Besseres zu sagen als das Folgende: "Nach der Machtübernahme der Taliban droht Afghanistan, erneut in blutigen Konflikten zu versinken. Außenminister Heiko Maas reist heute in die Region, um über weitere Ausreisewege sowie die sicherheits- und geopolitischen Auswirkungen der Entwicklungen zu sprechen." Zwei Anmerkungen hierzu: 1. Befindet sich Afghanistan nicht seit Jahrzehnten in einem Zustand blutiger Konflikte? 2. Über die sicherheits- und geopolitischen Auswirkungen sprechen? Die sollten auch bei Herrn Maas mittlerweile angekommen sein. Zusammengefasst: Das ist politisches Gewäsch vom Feinsten – ohne Sinn, Verstand und Plan. Im Grunde zeigt sich daran, dass die deutsche Außenpolitik defacto in der Region nicht existiert. Handlungsunfähig, abhängig von denen, die es nach westlichem Dafürhalten zu kontrollieren galt, nämlich den Taliban.
Exportschlager Demokratie und die Büchse der Pandora
Das naive Verständnis vieler westlicher Regierungen und ihrer Politiker im Umgang mit anderen Kulturkreisen hat eine schlechte Tradition. Zu oft folgten Fehleinschätzungen der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lagen in den Ländern. Zu viel Hoffnung wurde in die rein wirtschaftlichen Interessen vor Ort gesteckt. Zu oft wurde auf Kosten der jeweiligen Bevölkerungen gelogen, Krieg geführt und mit dem Feigenblatt demokratischer Wunschvorstellungen versucht mit militärischen Mitteln dem Ganzen Nachdruck zu verleihen. Afghanistan bildet hier keine Ausnahme in einer langen Reihe an Staaten, die heute – auch aufgrund des Eingriffs westlicher Staaten – im völligen Chaos versunken sind. Vor diesem Hintergrund zeigt sich erneut, dass der Exportschlager Demokratie in vielen Teilen der Welt ein Auslaufmodell ist. Nicht jedes Land ist Willens, diesem Irrglauben demokratisch und westlich geprägter Wertevorstellungen blind zu folgen. Warum auch bei den Scherbenhaufen, die sowohl von den USA, der NATO, aber auch vonseiten der Europäische Union (EU) zu oft hinterlassen wurden.
Da trat in den letzten Jahrzehnten schon fast ein koloniales Gehabe an den Tag, das nach den immer gleichen Regeln zu funktionieren schien: Wir geben Geld und bestimmen, wie und wo es langgeht – auch wenn wir unsere Beine unter fremde Tische stecken. Anders formuliert: Viel hilft eben nicht viel. Und nein Herr Maas. Ihre Aussage, wonach sich militärisch zu engagieren, oftmals die Voraussetzung dafür sei, zivil helfen zu können, führt in die Sackgasse. Das ist "wohlfeiles Geschwätz" und nichts anderes. Denn mit Gewalt zu versuchen ganze Regionen im eigenen Sinne zu formen funktionierte noch nie. Da ist selbst der ehemalige US-Verteidigungsminister Chuck Hagel ein ganzes Stück weiter mit seiner Einschätzung, wenn er mit Blick auf Afghanistan sagt: "Wir haben die Kultur nie verstanden, wir haben die Religion nie verstanden, das Stammesdenken, die Geschichte." Sein Resümee gegenüber dem Sender CNN fällt eindeutig aus: "Man ist zum Scheitern verurteilt, wenn man das nicht versteht." ["The history of Afghanistan we didn’t understand at all,” says former US Secretary of Defense Chuck Hagel. “We never understood the culture. We never understood the religion. We never understood the tribalism."]
Mehr noch öffnet eine solche "Politik" die Schleusen für Schlimmeres. Es könnte auch die "Büchse der Pandora" sein. Denn neben den Taliban machen sich radikalere Kräfte im Land breit. Sie stoßen nur zu leicht in ein Vakuum, das ein destabilisierter Staat wieder einmal hinterlässt – vor allem aufgrund ausländischer Staaten, die nicht lernen wollen aus Afghanistans Geschichte. Eine Geschichte, die sich wiederholt und unter der die Bevölkerung leidet, wie gehabt. Und so bleibt es wohl bei Enzensbergers Aussage, wonach Afghanistan am schlimmsten sei für die Afghanen selbst.