Weshalb Sie nicht alles kontrollieren können – und weshalb das gut ist

Coffin Corner


Amel Karboul (2020): Coffin Corner. Weshalb Sie nicht alles kontrollieren können – und weshalb das gut ist, 2. Auflage, 253 Seiten, Midas Verlag, Zürich 2020, ISBN 978-3-03876-501-1 Book Review

Um sehr praxisnah etwas über "Coffin Corner" zu lernen, lohnt sich eine Ursachenanalyse des Air-France-Flugs 447 (AF 447), bei dem in der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 2009 auf dem Rückflug von Rio de Janeiro nach Paris, alle 228 Insassen ihr Leben verloren.

Der Airbus A330-203 stürzte über dem Atlantik ab, weil ursächlich u.a. die Pitot-Sonden zur Geschwindigkeitsmessung des Flugzeugs zeitweise ausgefallen waren. Als Ursache wurden – auch basierend auf Erfahrungen aus Flügen in der Vergangenheit – mit einer hohen Wahrscheinlichkeit Verstopfung der Piton-Rohre (auch Staudrucksonde; engl. pitot tube) durch Eiskristalle identifiziert ("likely following the obstruction of the pitot tubes by ice crystals"). Aufgrund fehlender Daten über Geschwindigkeit und weitere Parameter steuerten die Piloten das Flugzeug in einem Blindflug, was dazu führte, dass sich das Flugzeug in einem Bereich außerhalb eines möglichen sicheren Betriebs bewegte. Aufgrund von Höhe und Geschwindigkeit führte dies zu einem Strömungsabriss und dem Absturz des Flugzeugs. So stellt sich aus der Perspektive des Risikomanagements vor allem die Frage, ob der Unfallauslöser (Cause) "vereiste Pitot-Rohre" hätte verhindert werden können, beispielsweise durch alternative Heizsysteme.

Das von der Autorin verwendete Bild der Coffin Corner (Sargecke) stammt aus der Luftfahrt. Dieser auch als Q-Corner bezeichnete Bereich in großer Flughöhe beschreibt den Korridor, bei dem die Mindestgeschwindigkeit und Höchstgeschwindigkeit sich stark annähern. In diesem Bereich darf das Flugzeug weder schneller noch langsamer fliegen.

Möglichst hoch zu fliegen, bedeutet einen geringeren Reibungswiderstand und eine Optimierung des Kerosinverbrauchs. Möglichst hoch fliegen ist also effizient. Doch in hohen Höhen unterwegs zu sein, birgt auch ein hohes Risiko, denn je geringer die Luftdichte ist, desto schneller muss das Flugzeug fliegen, um noch genügend Auftrieb zu bekommen. Wird das Flugzeug zu langsam, kommt es zu einem Strömungsabriss mit möglicherweise katastrophalen Folgen (siehe oben). Je effizienter ein Flugzeug fliegt, desto mehr nähert es sich dem Punkt, an dem Mindest- und Maximalgeschwindigkeit gleich sind. Die Höhenzone direkt unterhalb dieses Punktes ist der "Coffin Corner". Leider geht die Autorin in ihrem Exkurs zum Absturz des AF 447 nicht auf die eigentlichen Ursachen (siehe oben) ein und lässt die Leser im Glauben, dass die Piloten einen Fehler gemacht hätten. Das ist jedoch ein Trugschluss.

Die Autorin Amel Karboul ist in vielen Kulturen zu Hause. Geboren in Tunis, kam sie zum Maschinenbaustudium nach Deutschland und schloss ihr Ingenieursstudium ab. Die Autorin ist davon überzeugt, dass sie mit Unsicherheit anders umgeht, als die Mehrzahl der Menschen, die in Mitteleuropa, Nordamerika oder Japan aufgewachsen sind. Sie ist in einer Kultur aufgewachsen, in der Intuition und die Entscheidung eines Augenblicks manchmal wichtiger sind, als alles kontrollieren zu können. Aus ihrer Sicht gibt es zwei grundverschiedene Haltungen, um mit Unsicherheit umzugehen. "Die erste ist diejenige, die viele Unternehmen in den Industrienationen jahrzehntelang extrem erfolgreich gemacht hat – und die sie jetzt in Gefahr bringt. Es ist das lineare Denken: Ich setze mir ein Ziel und lege, möglichst detailliert, die einzelnen Schritte hin zum Ziel fest. […] Meinen Plan setze ich dann möglichst genau um und kontrolliere bei jedem Schritt, ob ich noch 'auf der Spur' bin." Die Autorin nennt diesen Ansatz "Railway-Denken". Das Gegenteil ist das "Granatapfel-Denken". So wie ein Granatapfel viele Kerne hat, die ohne Kerngehäuse gleichberechtigt nebeneinander liegen, kennt diese Denkweise viele Möglichkeiten, viele Realitäten, viele Perspektiven, viele Wege. "Zwischen diesen Wegen entscheidet man sich ganz spontan, ungeplant, und erst, wenn die Möglichkeiten offen vor einem liegen", so Amel Karboul.

Sie ist davon überzeugt, dass unvorhergesehene Ereignisse nicht nur einzelne Unternehmen, sondern ganze Branchen aus der Bahn werfen. "Disruptive Technologiesprünge, überraschende Veränderungen, katastrophale Abweichungen von der Normalität – das ist nur eine bestimmte Sichtweise. Das können Sie nur dann so sehen, wenn Sie überhaupt an die 'bestehende Ordnung' glauben – also wenn Sie die Haltung haben, dass die Ordnung normal ist und das disruptive Ereignis die Ausnahme", so die Autorin. Die Welt, die Wirtschaft, die Gesellschaft verlaufen nicht mehr nach dem einfachen Ursache-Wirkungs-Prinzip, sondern folgen der Struktur komplexer Systeme. Am Beispiel des "Arabischen Frühlings" skizziert die Autorin, wie die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi ein komplexes System beeinflusst. Und die Vorstellung, durch Controlling, ERP, DIN-Normen und Prozessmanagement gegenüber der als feindlich wahrgenommenen Komplexität der Welt gewappnet zu sein, "ist nicht mehr und nicht weniger als ein gutes Gefühl", so Amel Karboul auf Seite 33. Sie verweist in diesem Kontext auf die Unternehmenspleiten von Kodak, Quelle und Loewe, die auch alle über entsprechende Zertifizierungen verfügten. So kommt die Autorin zu dem Schluss, dass Optimieren kein Erfolgsgarant ist, sondern genau das Gegenteil. Ein Mehr an Unsicherheit können Unternehmen nicht mit einem mehr an Wissen, Planung, Kontrolle und mehr Optimierung steuern. Dafür gebe es einfach viel zu viele Fakten und Einflussfaktoren, so die Argumentationskette. "Je mehr Informationen Sie sammeln, desto schwieriger wird es zu bestimmen, welche davon relevant sind und welche wie miteinander zusammenhängen". Auch Big Data sei eine große Einladung zu Fehlschlüssen, folgert die Autorin. Die perfekte Organisation und Planung können recht schnell vom Sicherheitsgurt zur Fessel werden.

Die Autorin zeigt auf, dass viele Unternehmen höchstmögliche Sicherheit anstreben, und sich genau dadurch in einem Coffin Corner wiederfinden, in einem Bereich des höchsten Risikos. Als Grund wird die Betriebsblindheit in vielen Organisationen angeführt. Viele Unternehmen rennen ins Unheil, weil sie Scheuklappen tragen, die ihnen den Blick nach links und rechts versperren. Und zu allem Unglück wissen sie nicht einmal, dass ihr Blickfeld verengt ist, so die Autorin.

Die These ist gewagt und lässt sich mit Gegenbeispielen zumindest entkräften. Blicken auf die Ursachen der Kodak-Insolvenz. Bereits im Jahr 1974 baute der junge Kodak-Ingenieur Steve Sasson die erste digitale Kamera der Welt. Wenige Jahre später, im Jahr 1978, ließ Kodak die neue Kamera patentieren. Das Patent Nr. US4131919A wurde zur Grundlage für alle Digitalkameras von heute. Und im Jahr 1987 fertigte Kodak die weltweit erste digitale Spiegelreflexkamera für den japanischen Konzern Canon, die Canon New F-1 Electro-Optic Camera. Weniger Jahre später, im Jahr 1989, brachte Kodak seine erste Digitaldruckmaschine heraus, die Kodak XL 7700. Und trotzdem stellte am 19. Januar 2012 Kodak einen Insolvenzantrag gemäß Chapter 11 des amerikanischen Insolvenzrechts.

Kodak trug keine Scheuklappen und scheiterte auch nicht an einer fehlenden Innovationsfähigkeit oder am Aufkommen der neuen digitalen Fototechnik. Vielmehr war Kodak ein Vorreiter im Bereich der digitalen Fotografie. Die Ursachen für den Niedergang liegen im Bereich der strategischen Ausrichtung. Das Kodak-Management verfügte über äußerst begrenzte Antizipationsfähigkeit zukünftiger Szenarien. Zu lange hatte Kodak auf die analoge Fotografie gesetzt und die digitale Revolution unterschätzt. Starke Kräfte im Unternehmen blockieren jegliche Veränderungen. So kämpfen Entscheider mit der Situation, dass ein großer Anteil des Umsatzes auf dem traditionellen Geschäftsfeld generiert wird, obwohl das Marktsegment substituiert wird. Die Wissenschaftler Probst/Raisch bezeichnen dies als Premature-Aging-Syndrom.

Nach Ansicht der Autorin kann das neue Ziel im 21. Jahrhundert nicht mehr maximale Effizienz sein. Das neue Ziel, dass Karboul vorschlägt, heißt "ausreichende Dynamikrobustheit". Statt Helden brauchen wir Menschen, so die Autorin. Vorstandschefs an der Spitze der Unternehmenspyramide vergleicht sie mit John Wayne, einem einsamen Helden und Kämpfer, der immer Recht hat. "Je weiter einer oben in der Hierarchie sitzt, desto weniger hat er mit der Außenwelt zu tun. Dafür steigt seine Macht und die ihm entgegengebrachte Wertschätzung." Ihr Alternativvorschlag: Dynamische Netzwerkstrukturen und weniger Arroganz. Der Vorschlag ist weder innovativ noch neu.

Der Leser lernt, dass das größte Risiko darin besteht, zu versuchen überhaupt kein Risiko einzugehen. Diese Aussage ist trivial und enthält wenig Neues. Die Vielzahl sehr erfolgreicher mittelständischer Unternehmen und "hidden champions" bestätigen vielmehr, dass viele Unternehmenslenker ein gutes Gespür für das Eingehen der richtigen Risiken haben. Die Risiken sind nichts anderes als die Kehrseite der Medaille in Form von Chancen. Großkonzerne mit einem angestellten Vorstand unterscheiden sich hier von "echten" Unternehmern, die "mit beiden Beinen im Risiko stehen". Die im Anhang abgedruckten Stimmen zum Buch (ThyssenKrupp, Linde, Metro, Adidas, Merck etc.) belegen, dass Amel Karboul in ihrem Buch vor allem die Perspektive von angestellten Vorständen in Konzernen in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellt. Also gerade eben keine Unternehmer! Es wird ausgeblendet, dass über 99 Prozent aller Unternehmen in Deutschland aus dem Mittelstand kommen, die mehr als die Hälfte der Wertschöpfung generieren und fast 60 Prozent aller Arbeitsplätze erschaffen. Viele diese Unternehmen, unter denen nicht wenige "hidden champions" sind, zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie sich permanent neu erfinden und häufig auch eine völlig andere Unternehmenskultur aufweisen als Großkonzerne.

Fazit: Nicht destotrotz liefert die Autorin mit ihrem Buch eine unterhaltsame Lektüre mit einigen Impulsen, um den Status Quo zu überdenken und alternative Wege einzuschlagen. Leider sind die Vorschläge weder besonders neu oder innovativ. Noch liefert die Autorin konkrete Umsetzungsideen, beispielsweise den Einsatz einer deterministischen oder stochastischen Szenarioanalyse, um systematisch "Zukunft zu denken" und "aus der Zukunft zu lernen". Das völlig spontane und ungeplante "Granatapfel-Denken" kann wohl nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

[ Source of cover photo: Midas Verlag ]
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