Das Buch "Das geopolitische Risiko" begrüßt die Leser zur Einleitung mit einem potenziellen Szenario für das Jahr 2025. Wir lesen etwas von analogen und digitalen Seidenstraßen, der EU-Taxonomie, astronomischen Staatsverschuldungen und Risiken in der Wertschöpfungsnetzen. Und Unternehmenslenker können lesen, dass sie eine neue Verantwortung übernehmen müssen. Eine Verantwortung, die Unternehmenslenker bereits seit vielen Jahrzehnten übernommen haben. Die neue Verantwortung manifestiert sich – nach Ansicht der Autoren – in drei Buchstaben: ESG. D.h. im Kern geht es um Environment (u.a. Umwelt und Klima), Social (soziale Gerechtigkeit, Arbeitsrechte, Diversität, Menschenrechte) und Governance (u.a. Aufsichtsstrukturen, Compliance). Und auch GeoTech wird im Jahr 2025 ein zentrales Thema sein, so die Autoren weiter. Unternehmen werden gezwungen, sich zu entscheiden, welche Technologien sie bei wem einkaufen und wo sie eingesetzt werden. D.h. es geht nicht mehr nur um Technologie, sondern zunehmend um Geografie, wo Entwicklung, Produktion und Distribution von Produkten sowie Datenverarbeitung angesiedelt werden.
Ist das alles neu? Als Entscheider habe ich mich auch in der Vergangenheit entscheiden müssen, welche Relevanz Umweltthemen, soziale Gerechtigkeit oder auch Governance-Themen spielen. So war und ist beispielsweise in vielen mittelständischen Unternehmen der "ehrbare Kaufmann" Sinnbild für die verantwortungsvolle Teilhabe am Wirtschaftsleben – nach innen und außen gerichtet. Als Garantie diente der ehrbare Kaufmann jahrhundertelang als feste Größe in unwägbaren Zeiten, ohne festgeschriebene Handelsgesetze, im Zeitalter von Kriegen und Verwerfungen sowie wechselnden Machtverhältnissen. Er war bodenständig, vorsichtig und risikoscheu auf der einen Seite. Gleichzeitig zeichnete ihn auf der anderen Seite Wagemut aus.
Kurzum, kalkuliert Risiken eingehend, um neue Handelsbeziehungen in entfernten Teilen der bekannten Welt aufzubauen. Und das zu einer Zeit, als die bekannte Wirtschaftswelt Europas von den Kaufleuten der Hanse im Norden und den italienischen Kaufleuten des Südens geprägt wurde. Einen wichtigen Eckpfeiler bildete in diesem Kontext die Ehre, die in vielen Fällen als höchstes Gut innerhalb der Gesellschaft fungierte. Wichtig waren hier vor allem ethische Kompetenzen. Tugenden wie Integrität, Aufrichtigkeit oder Anstand ließen den Kaufmann ehrbar werden.
Heute ist der ehrbare Kaufmann weitgehend aus dem Sprachgebrauch verschwunden und mit ihm das stille Übereinkommen sich an klare und transparente Spielregeln des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Miteinander zu halten. Stattdessen dominieren EU-Taxonomie, Corporate Sustainbility Reporting Directive, Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und vieles mehr.
In den Kapiteln 2 bis 7 lassen die beiden Autoren Entwicklungen Revue passieren, die für viele Unternehmenslenker nicht wirklich neu sein werden. Beispielsweise, dass sich Unternehmen auf eine neue Weltordnung einstellen müssen. Und dass wir einen Perspektivenwechsel benötigen und das Geopolitik eine größere Rolle spielen wird. Und wir lernen, dass die Welt digitaler, und dass der Kapitalmarkt auf dem Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt und noch spielen wird.
Die Rolle der Politik und in Teilen geopolitische Blindheit politischer Entscheidungsträger wird als Ursache in diesem Kontext weitestgehend ausgeblendet. So wir nicht erwähnt, dass wir weitestgehend in einer Welt "ohne Weltordnung" leben. Wie kann es sein, dass der Planungsstab des Auswärtigen Amtes seine Krisenanalysen nur noch für wenige Wochen im Voraus erstellt (Zitat Prof. Schmid, vormals BND, auf dem RiskNET Summit 2015). Wo ist die geopolitische Strategie der EU oder Deutschlands nachzulesen?
Erst die Erosion des internationalen Systems mit einer zunehmenden Orientierungslosigkeit – sowohl auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene – hat zu diesem Dilemma geführt. Und selbstverständlich haben diese Zerfallserscheinungen massive Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Prozesse der Staaten. Wie dramatisch die Lage ist, erkennt man daran, dass von 183 Staaten sich nach Zahlen der Vereinten Nationen ein Drittel im Zerfall befinden.
Hinzu komme die neue US-amerikanische Politik Barak Obama vom "Leading from behind", sprich vom Rücksitz aus zu führen. Wenn die USA vom Rücksitz aus führen, wer sitzt dann am Steuer und ist Beifahrer? Die Frage bleibt bis heute aktuell unbeantwortet.
Und selbstverständlich haben Unternehmen und Risikomanager sich in der Vergangenheit immer schon mit geopolitischen Fragestellungen und Risiken beschäftigt (man denke etwa an Risiken im Kontext globaler Wertschöpfungsnetze, Investitionen im Ausland oder dem Management von Wechselkursrisiken).
Die entscheidende Frage ist jedoch, wie Unternehmen zukünftige geopolitische Szenarien erkennen können oder gar Frühwarnindikatoren zur Unternehmenssteuerung nutzen können. Doch dieses wichtige Thema nach relevanten Methoden und Tools wird im Buch auf gerade mal 20 Seiten stichwortmäßig und unvollständig beschrieben. Das Kapitel liest sich eher wie ein kompakter Flyer für Beratungsleistungen. Warum gehen die Autoren nicht auf das umfangreiche Portfolio an analytischen Methoden und Kreativitätsmethoden (Business Wargaming, Spieltheorie, deterministische und stochastische Szenarioanalyse etc.) ein?
Fazit: Wer eine allgemeine Einführung in die Relevanz des Themas Geopolitik sucht, mag in dem Buch ein paar wenige Anregungen finden. Wer allerdings (beispielsweise als Unternehmenslenker oder auch Vorstand) auf der Suche nach konkreten Lösungswegen (im Sinne Methoden oder Tools) ist, wird von der Oberflächlichkeit des Buches enttäuscht sein. Vermisst habe ich als Risikomanager vor allem auch konkrete (!) Ausführungen zu Szenarien im Zusammenhang mit der Unterbrechung von Lieferketten, geopolitische Risiken im Kontext von Handelsrestriktionen, der Energieversorgung im geopolitischen Kontext sowie die massive Zunahme geopolitisch motivierter Cyberattacken.