Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, hat die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) hart kritisiert. In einer aktuellen Studie kommt der Ökonom zu dem Urteil, dass die EZB-Politik der Eurozone inzwischen mehr nutze als schade. Das "selbstgefällige Auftreten" ihres Präsidenten Mario Draghi findet Folkerts-Landau daher "zunehmend unangebracht".
Das Eigenlob der Europäischen Zentralbank für Ausmaß und Kreativität ihrer Geldpolitik seit 2012 scheint zunehmend unangebracht zu sein. Tatsache ist vielmehr, dass der Euroraum seit der berühmten „Whatever it takes“-Rede von Herrn Draghi im Jahr 2012 kaum Wachstum, dafür aber die schlechteste Arbeitsmarktentwicklung aller wichtigen Industrienationen, nicht tragfähige Verschuldungsquoten sowie eine weit hinter dem eigenen Ziel zurückbleibende Inflation verzeichnet hat.
Die Argumente für die Intervention der EZB werden zunehmend schwächer, mittlerweile dominieren die negativen Folgen. Dieser Artikel befasst sich mit fünf Schattenseiten der aktuellen Geldpolitik.
Die erste Schattenseite betrifft die Tatsache, dass die Intervention der EZB paradoxerweise jene Reformdynamik erstickt, die sie eigentlich ermöglichen sollte. Bis Juli 2012 sahen sich die Regierungen aufgrund hoher Zinsen und einer Refinanzierungsnot ge-zwungen, ernsthaft Reformen voranzutreiben. Tatsächlich wurden vor 2012 mehr als die Hälfte der von der OECD empfohlenen Wachstumsinitiativen im Euroraum umgesetzt. Im letzten Jahr waren es dagegen nur noch 20%. Die Intervention der EZB hat de facto die Aussichten auf bedeutende Reformen der Arbeitsmärkte und Rechts-, Sozial- und Steu-ersysteme in Europa zunichte gemacht.
Die zweite Schattenseite betrifft die Tatsache, dass die Anleihekurse ihre Signalfunktion für die Märkte verloren haben. Seit die Anleger Ende 2014 damit begonnen haben, An-leihekäufe der Zentralbank zu antizipieren, sind die Spreads von Staatsanleihen inner-halb des Euroraums eng miteinander verkoppelt. Nicht aussagekräftige Staatsanleihe-renditen verzerren das gesamte Anlageuniversum, dessen Preise von ihnen abgeleitet werden.
Die vielleicht dunkelste Seite der Geldpolitik der EZB ist die zunehmende Risikokon-zentration in der Bilanz des Eurosystems – voraussichtlich EUR 2 Bio. bis März 2018. Bei einer Umschuldung eines EWU-Landes müssen die Verbindlichkeiten der Zentral-bank des betreffenden Landes wahrscheinlich von den Steuerzahlern der anderen Euro-länder getragen werden. Dies ist eine Vergemeinschaftung der Schulden.
Der vierte Punkt ist der Schaden, den die Intervention der EZB den Sparern im Euroraum zufügt. Die hohen und stabilen Neubewertungsgewinne, die in den letzten Jahren die Gesamtrenditen gestützt haben, werden sich nicht wiederholen. Nun werden die steigenden Energiepreise, die allgemein niedrige Verzinsung und letztlich der Mean-Reversion-Effekt ihren Tribut fordern.
Die letzte dunkle Seite ist die durch die EZB-Politik hervorgerufene Fehlallokation von Kapital, die den Prozess der schöpferischen Zerstörung verhindert und Vermögenspreisblasen entstehen lässt. Die verstärkte Kreditvergabe ist hauptsächlich bestehenden Kreditnehmern mit geringer Bonität zugute gekommen und hat in Schieflage geratene Banken davor bewahrt, Abschreibungen auf Kredite vornehmen zu müssen. Ohne schöpferische Zerstörung in kränkelnden Branchen haben Anleger in Ländern mit hoher Sparquote schlicht den Preis solider Vermögenswerte in die Höhe getrieben.
Die Geldpolitik hat Reformen abgewürgt
Nach einer gleichzeitigen Lockerung der Geld- und der Fiskalpolitik während der Krise im Jahr 2009 kam es zu einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen der Europäischen Zentralbank und den Regierungen des Euroraums, so der Chefvolkswirt. Die extrem lockere Geldpolitik sollte fortgesetzt werden, um eine fiskalische Konsolidierung zu ermöglichen. Die Staatshaushalte, die erheblich unter der Rezession, antizyklischen Ausgabenentscheidungen und der Unterstützung für den Finanzsektor gelitten hatten, mussten wieder unter Kontrolle gebracht und schwierige Reformen zur Steigerung der Produktivität mussten auf den Weg gebracht werden.
Abb. 01: Anteil der umgesetzten OECD-Reformvorschläge (Going for Growth), % [Daten für 2015 nur vollständig umgesetzte Reformen. Nur für Eurozone insgesamt verfügbar. Die (vormaligen) Krisenländer sind: Irland, Griechenland, Spanien, Italien, Portugal, und Slowenien. “Andere EWU-Staaten" sind die restlichen EWU-Staaten ohne Zypern, Lettland, Litauen und Malta, Quellen: ECB, OECD]
David Folkerts-Landau, Group Chief Economist der Deutschen Bank: "Politiker brauchen jedoch zwingende Gründe, um ihren Job für unpopuläre Reformen zu riskieren – zu offensichtlich war, welche ihrer Wähler durch die Reformen verlieren würden, während die Gewinner nicht unmittelbar erkennbar waren. Bis Juli 2012 standen dieser politikimmanenten Zurückhaltung ein dringender Handlungsbedarf aufgrund exorbitant gestiegener Zinsen und Risikoaufschläge und die dadurch induzierte Gefahr, die Staatsschulden nicht refinanzieren zu können, gegenüber. Untätigkeit hätte ein Rettungsprogramm der Troika bedeutet, das wiederum Reformen und unpopuläre Ausgabenkürzungen zur Bedingung gehabt hätte."
Jegliche Reformanreize wurden jedoch durch das Versprechen der EZB zunichte gemacht, man werde in Schieflage geratene Länder durch OMT auffangen. Als Rechtfertigung wurde damals auf die auseinanderlaufenden Risikoaufschläge bei Staatsanleihen verwiesen, die als Zeichen unwirksamer geldpolitischer Transmissionskanäle und nicht etwa abweichender länderspezifischer Risiken zu werten seien.
Seit 2012 haben Programme wie OMT und PSPP den Euroraum davon abgehalten, der harten Realität ins Auge zu blicken. Die Länder der Peripherie sind nicht in der Lage, ein für den Abbau der hohen Schuldenlast und Arbeitslosigkeit ausreichendes Wachstum zu generieren. Zudem stehen keine bedeutenden Reformen der Arbeitsmärkte und Rechts-, Sozial- und Steuersysteme in Aussicht. Bei Nullwachstum und einem Haushaltsdefizit von 2,5 Prozent ist eine Staatsverschuldung im dreistelligen Bereich wie im Fall Italiens nicht tragfähig, so der Chefvolkswirt weiter.
Anleihekurse haben ihre Signalfunktion verloren
Auch die Finanzanalyse ist der EZB-Politik zum Opfer gefallen. Seit die Märkte gen Ende 2014 damit begonnen haben, den Erwerb von Staatsanleihen durch die Zentralbank – der schließlich im Januar 2015 angekündigt wurde – zu antizipieren, sind die Spreads von Staatsanleihen innerhalb des Euroraums mehr oder weniger miteinander verkoppelt. David Folkerts-Landau: "So bewegen sich beispielsweise die Spreads von italienischen und spanischen Staatsanleihen gegenüber Bundesanleihen trotz der politischen Risiken in beiden Ländern im Bereich von 120 Basispunkten. Lediglich die Spreads portugiesischer Anleihen sind in den vergangenen zwölf Monaten um knapp 120 Basispunkte auf 310 Basispunkte gestiegen. Grund hierfür waren zunehmende Befürchtungen, die einzige Rating-Agentur, die portugiesische Anleihen weiterhin mit Investment Grade bewertet, könne ihre Einschätzung ändern, wodurch diese nicht mehr für das Quantitative Easing in Frage kämen. Dieses Szenario ist bislang jedoch nicht eingetreten."
Diese Entkopplung inländischer Anleiherenditen von den sich verändernden politischen und fiskalischen Risiken ist auf die Anleihekäufe der EZB zurückzuführen. Niedrige oder nicht aussagekräftige Renditen für Staatsanleihen verhindern nicht nur, dass stabilitätsgefährde Maßnahmen der Politik durch die Märkte "abgestraft" werden. Sie führen auch zu einer Verzerrung des gesamten Anleiheuniversums, dessen Kurse auf den Kursen von Staatsanleihen basieren. Derzeit sorgt dies für erhebliche Verwerfungen, diese werden aber wesentlich dramatischer ausfallen, wenn sich die Verzerrungen auflösen, wozu es früher oder später zwangsläufig kommen muss.
Damoklesschwert über den Quantitative-Easing-Bemühungen
Die möglicherweise schwerwiegendste Negativauswirkung der EZB-Geldpolitik betrifft die Frage, was aus den beträchtlichen Forderungen der Zentralbank gegen die Mitgliedstaaten wird, die die Bilanz des Eurosystems anschwellen lassen. Angesichts der potenziellen Verluste, die ein Kernland durch die mit den zwei größten Rettungsfonds (EFS und ESM), dem Quantitative Easing-Programm und Target2 verbundenen Kosten theoretisch tragen muss, ist es nahezu unvorstellbar, dass ein Mitgliedsland fallen gelassen würde, sofern es sich nicht um einen kleines Land mit geringem Ansteckungseffekt handelt.
Abb. 02: Deutschlands dominantes Target 2 Saldo [Quellen: Haver, ECB]
Dieses Damoklesschwert schwebt bereits seit Langem über den Quantitative-Easing-Bemühungen, so der Chefvolkswirt in seiner Analyse. Um die Sorgen zu zerstreuen, dass Verluste im Falle eines Zahlungsausfalls innerhalb des Eurosystems vergesellschaftet würden, hat die EZB festgelegt, dass vier Fünftel der Staatsanleihen des Euroraumes, die 88 Prozent der im Rahmen des PSPPs getätigten Ankäufe ausmachen, von den Zentralbanken der betreffenden Länder selbst erworben werden. Dabei richtet sich die EZB nach einem festen Kapitalschlüssel. Somit erwirbt die Bundesbank deutsche Bundesanleihen, während die Banca d'Italia BTPs kauft, ohne dass dabei eine Risikoteilung zwischen den beiden stattfindet. Die übrigen 12 Prozent sind für Anleihen reserviert, die von internationalen Organisationen und multilateralen Entwicklungsbanken begeben werden.
Diese Maßnahme bietet jedoch nur unzuverlässigen Schutz. Im Falle einer Umschuldung eines Mitgliedstaates des Euroraums wird es kaum möglich sein, dessen nationale Zentralbank sich selbst zu überlassen, zumal diese nicht auf die Unterstützung der eigenen Regierung bauen könnte. Somit bleibt das Risiko, dass schließlich die Steuerzahler anderer Mitgliedstaaten des Euroraums für den Schaden aufkommen müssten. Letztlich wären sie es, die zahlen müssten, wenn auch nur durch den langfristigen Verzicht auf mögliche Gewinnabführungen ihrer nationalen Zentralbank. Im Grunde genommen bedeutet dies jedoch nichts anderes als eine Vergemeinschaftung der Schulden, so David Folkerts-Landau in seiner Veröffentlichung.
Es bestehen bereits heute hohe Ungleichgewichte im Target2-System, die sich künftig weiter verstärken werden. Diese Ungleichgewichte, die sich teilweise aus den akkumulierten Leistungsbilanzdefiziten oder -überschüssen der Mitgliedstaaten der Eurozone im Vergleich zueinander ergeben, wurden erstmals in der ersten Jahreshälfte 2012 während der Finanzierungskrise in den Peripherieländern des Euroraumes zu einem Problem. Die Kapitalflucht aus den Peripherieländern in die Kern-Volkswirtschaften sorgte damals für eine deutliche Verstärkung dieser Ungleichgewichte. 2013 und 2014, nach Präsident Draghis "Whatever it takes"-Rede, war dann ein Rückgang der Target2-Salden zu verzeichnen. Seither haben sie jedoch wieder zugenommen und haben nun das Niveau erreicht, auf dem sie sich auf dem Höhepunkt der Bankenfinanzierungskrise im Jahr 2012 befanden.
Wie ein kürzlich veröffentlichter Artikel der niederländischen Zentralbank nahe legt, ist dieser Wiederanstieg zum Teil auf das Quantitative Easing zurückzuführen. Anleger, die im Rahmen des Quantitative-Easing-Programms die Anleihen wirtschaftlich schwächerer Länder an die nationale Zentralbank verkaufen, transferieren die Erlöse eher auf Bankkonten in den Ländern mit der vermutlich besten Bonität. Die jüngste Zunahme der Target2-Ungleichgewichte unterscheidet sich insofern etwas von der Situation im Jahr 2012, dass sie angebotsgesteuert (Quantitative Easing) und nicht nachfragegesteuert (Kapitalflucht) ist. Die zugrundeliegende Logik bleibt jedoch dieselbe.
Es ist nicht schwer vorstellbar, dass diese beiden Faktoren die Target2-Ungleichgewichte in extremen Krisenzeiten auf ein bisher unerreichtes Niveau ansteigen lassen könnten.
Dabei geht es nicht nur um die tatsächlichen Kosten, sondern vielmehr auch um das demokratische Mandat, das dem Eurosystem zugrunde liegt, kritisiert der Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Bereits 2011 wies Bundesbankpräsident Jens Weidmann nachdrücklich darauf hin, dass die EZB nicht über die demokratische Legitimation verfüge, entsprechende Risiken in der Bilanz der deutschen Zentralbank anzuhäufen. Falls es tatsächlich zu einem derart gewaltigen Rettungspaket kommen sollte, würde dies eine Welle der Entrüstung auslösen, gegen die die Wut der Bevölkerung über die Rettung von Banken nach der Finanzkrise noch vergleichsweise vielleicht harmlos aussehen würde.
Schwere Zeiten für Sparer
Die Beeinträchtigung der langfristigen Planungssicherheit der Sparer ist eine weitere dunkle Seite des anhaltenden Niedrig- und Negativzinsumfelds.
Abb. 03: Sinkende Inflation stützte Realrenditen [Quellen: Deutsche Bank Research, Eurostat]
Die nominalen Gesamtrenditen für deutsche Haushalte lagen in den vergangenen vier Jahren im Schnitt bei 3,4 Prozent, vergleichbar mit dem Durchschnitt der gesamten 2000er Jahre und ähnlich wie im Rest des Euroraums. Tatsächlich sind die realen Renditen aufgrund der rückläufigen Inflation seit 2012 sogar leicht gestiegen. Selbst die nominalen Renditen auf verzinsliche Investments sind bis 2015 nicht unter 2 Prozent gefallen, da ein großer Teil der längerfristigen Investments (überwiegend jene mit höherem Kupon) den Effekt der schwindenden Renditen am Markt abgemildert hat. Zudem wurden die Gesamtrenditen in den letzten Jahren durch hohe und stabile Neubewertungsgewinne gestützt. Somit deutet alles darauf hin, dass die Sparer bisher nicht die volle Last der EZB-Geldpolitik zu spüren bekommen haben.
Viele dieser Effekte laufen mittlerweile aus und lassen sich sicherlich nicht wiederholen. Zunächst werden die allmählich ansteigenden Energiepreise in diesem und im kommenden Jahr die Gesamtinflation ansteigen lassen, was die realen Renditen aufzehrt. Zudem wird die Dämpfungswirkung langfristiger verzinslicher Investments mit hohen Kupons vermutlich nachlassen, da die Haushalte immer weniger dieser Vermögenswerte halten.
Blasenbildung statt schöpferischer Zerstörung
Zwar sollten die sinkenden Zinssätze die Aktivität in der Realwirtschaft ankurbeln, doch bleiben Anlagemöglichkeiten aufgrund mangelnder Strukturreformen und ausbleibender schöpferischer Zerstörung in ineffizienten Branchen weiterhin rar. OMT und der Einbruch der Anleihespreads haben für die Kreditnehmer mit der geringsten Bonität einen überproportionalen Nutzen gebracht. Untersuchungen zeigen auf, dass Banken in Peripherieländern mit großen Beständen an inländischen Staatsanleihen aufgrund von Neubewertungsgewinnen von einer „Rekapitalisierung durch die Hintertür“ profitieren. Diese Banken haben zwar ihre Kreditvergabe ausgeweitet, dies ist jedoch hauptsächlich bestehenden Kreditnehmern mit geringer Bonität zugute gekommen. Diese Unternehmen profitierten von Zinssätzen, die häufig unter den Zinssätzen lagen die öffentliche Kreditnehmer mit hoher Bonität zu zahlen hatten. Zudem nutzten sie die günstige Finanzierung, um Schulden abzubauen, statt neue Arbeitsplätze zu schaffen oder zu investieren. Die Studienautoren (V. Acharya/T. Eisert/C. Eufinger/C. Hirsch (2016): Whatever it takes: The Real Effects of Unconventional Monetary Policy, Mai 2016) zeigen, dass durch OMTs Zombie-Unternehmen durch Endloskredite (Evergreening) am Leben erhalten wurden.
Der Artikel macht zudem deutlich, dass die Fehlallokation von Kapital den Arbeitsmarkt und das Wachstum im Euroraum schwächt. In Branchen mit einem hohen Anteil an Zombie-Unternehmen müssen gesunde Unternehmen höhere Zinsen zahlen und investieren deutlich weniger als entsprechende Unternehmen in Branchen mit wenigen Zombies. Dies unterstützt die Ansicht, dass die Ankündigung von OMT eine schöpferische Zerstörung verhindert und die Produktpreise niedrig hält.
[Text basierend auf Deutsche Bank Research: Die dunklen Seiten des QE, Vergemeinschaftung von Schulden durch die Hintertür, Enteignung der Sparer und Blasenbildung, 1. November 2016]