Am 24. Februar 2022 begann die Invasion russischer Truppen in die Ukraine. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat die nach dem kalten Krieg entstandene Hoffnung auf eine friedliche Weltordnung wie Seifenblasen platzen lassen. Doch nicht nur für den Westen, sondern auch für Russland selbst könnte dieser Angriffskrieg eine Zeitenwende bedeuten. Die Hintergründe für die Krise sind komplex. Die Situation war bereits in der Vergangenheit mehr als fragil, worauf kritische Stimmen auch immer wieder hingewiesen hatten. Im Februar 2007 wies der russische Präsident Wladimir Putin auf der 43. Münchner "Sicherheitskonferenz" auf die Risiken einer NATO-Osterweiterung und einer monopolaren Welt hin. Die NATO-Osterweiterung sei "ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt." Welche zentralen Herausforderungen für Politik und Wirtschaft aus dem Konflikt resultieren und welche Szenarien in einer Welt der Unordnung folgen, haben wir mit Professor em. Dr. Günther Schmid, einem renommierten Experten für internationale Sicherheitspolitik, diskutiert.
Der Arabische Frühling führte im Jahr 2011 zu massiven Störungen in der Wertschöpfungskette der Automobilindustrie, da ein großer Anteil der Kabelbäume in Ägypten und Tunesien produziert wurden. Nun stellt sich heraus, dass große Anteile dieser "Nervensysteme" für ein Auto heute in der Ukraine produziert werden. Der Ukraine-Krieg hat nun ein weiteres Mal zu einer massiven Störung der Supply Chain geführt. Fehlt Unternehmen (geo)politische Kompetenz? Und fehlt Politikern im Umkehrschluss ökonomische Kompetenz?
Günther Schmid: Auf der einen Seite haben Unternehmen kaum Vorstellungen über den Alltag eines Politikers. Und auf der anderen Seite haben Politiker nur eine sehr geringe Kenntnis von wirtschaftlichen Abläufen oder auch von industriellen Lieferketten. Kurzum: Beide Seiten haben für die jeweilige andere Seite nur ein sehr geringes Verständnis – sie leben in zwei verschiedenen Lebenswelten. In anderen Staaten, beispielsweise in Frankreich, in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten, besteht hier eher eine Symbiose. Dort gehen Ökonomen in die Politik und wieder zurück. Über diesen "Drehtür-Effekt" lernen beide Seiten voneinander. In Deutschland sehe ich das kaum. Hier vermisse ich in der deutschen Politik ein breiteres Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge, auch über mögliche Versorgungslücken oder potenzielle Störungen in den Supply Chains. Die beiden wirtschaftlichen und politischen Erfahrungswelten haben zu wenige Berührungspunkte. Das wäre aber wichtig, um die Auswirkungen geopolitischer Entwicklungen für die Wirtschaft beurteilen zu können.
Man kann das in ein einfaches Bild fassen: Alle Akteure sitzen gemeinsam in einem Zug und fahren Richtung Zukunft. Im ersten Waggon sitzt die Politik, im zweiten Waggon die Wirtschaft und im dritten Wagen fährt die Gesellschaft. Doch es gibt keine Übergänge zwischen den einzelnen Waggons.
In diesem Zusammenhang wird es spannend sein zu sehen, welche Staatsvorstellung wir als Gesellschaft zukünftig haben werden. Die Vergangenheit war eher durch das Bild eines eher trägen Wohlfahrtsstaats geprägt. Möglicherweise sind wir heute und in der Zukunft eher auf dem Weg zu einem Vorsorgestaat, d.h. zu einem Staat, der sich um Daseinsvorsorge, um die Sicherheit von Versorgungs- und Lieferketten und kritischen Infrastrukturen kümmert. Dabei geht es um einen Staat, der sich um wichtige Details kümmert, beispielsweise die Beschaffung von Masken, Schutzanzügen und wichtigen strategischen Gütern. Das kann aber auch ins andere Extrem ausschlagen: Der "Über-Staat", der sich um alles kümmert und die Eigenverantwortung des Bürgers zudeckt.
Frank Romeike im Dialog mit Günther Schmid
Das Thema Rohstoffversorgung greife ich gerne auf. Der Rohstoffrisiko-Index listet Rohstoffe mit einem extrem hohen Versorgungsrisiko, so etwa Yttrium. Dieses Seltenerdmetall wird beispielsweise für den Bau von Permanentmagneten für Elektromotoren sowie für Lasergeräte benötigt, d.h. für hoch relevante Zukunftstechnologien. Und Yttrium ist praktisch nicht ersetzbar. Außerdem wird es fast ausschließlich (99 Prozent) in China abgebaut. Im Jahr 2015 haben Sie auf dem RiskNET Summit darauf hingewiesen, dass der Planungsstab des Auswärtigen Amtes seine Krisenanalysen nur noch maximal vier Wochen im Voraus durchführt. Das geht mir als Risikomanager nicht in den Kopf: Kein Unternehmen denkt in Wochen oder gar Monaten. Müsste der Staat nicht strategischer und langfristiger denken, um eine Rohstoffversorgung sicherzustellen?
Günther Schmid: Geopolitische Fragestellungen sind bis heute keine Denkkategorie in Deutschland. Außenpolitische Debatten werden in Deutschland im Wesentlichen ereignis-, kriegs- oder personenorientiert geführt – aber nicht strategisch übergreifend. Es fehlt ein Verständnis für eine strategische Sicherheitspolitik. Fragestellungen wie "Was wären die Folgen, wenn wir die Türkei in die EU aufnähmen?" oder "Was würde geschehen, wenn wir Griechenland nicht unter den Rettungsschirm nehmen?" oder "Wie positionieren wir uns mittelfristig gegenüber China?" werden kaum langfristig und strategisch analysiert. Auch zentrale Fragen nach der Rohstoffsicherung und Versorgungssicherheit eines großen Exportlandes wie Deutschland haben in Politik und Gesellschaft zu wenige interessiert.
Auch durch und nach der Wiedervereinigung 1990/91 haben wir Deutschland als "Insel der Glückseeligen" betrachtet, umgeben von einem Ring von Freunden. In dieser Perspektive waren Begriffe wie Macht- oder Geopolitik in Deutschland keine Denkkategorie. Hinzu kam, dass wir seit 1990/91 jede strategische Bedrohungswahrnehmung verloren haben – sowohl mental als auch in den Weißbüchern der Bundeswehr. Bedrohungen fanden in der offiziellen Wahrnehmung nicht statt; sie wurden umgedeutet in globale Risiken. Kriege sind wahrgenommen worden als regionale Randphänomene – obwohl Konflikte immer näher gerückt sind: Jemen, Syrien, Libyen, Afghanistan, Krim und so weiter. Kriege wurden als "anachronistische Überbleibsel" einer längst vergangenen Zeit betrachtet. Sicherheit war der kleinste, eher abstrakte gemeinsame Nenner in der Mentalität der Deutschen und ihrer politischen Elite. Nach der Wiedervereinigung dominierte in Teilen der Parteien eine eher pazifistische Grundstimmung.
Sowohl die Gesellschaft als auch Politik und Wirtschaft haben Bedrohungen aus dem Blickwinkel verloren. Die deutsche Wiedervereinigung schien eine Art Blaupause für eine Welt zu sein, die sich in die richtige Richtung entwickelt. Parallel zu diesen politischen Entwicklungen entfaltete sich in der Gesellschaft ein deutlicher Trend zur Individualisierung, Empfindsamkeit, Achtsamkeit und Inklusion. Ein Kriegs- oder Feindbild passte nicht in dieses Bild. Man war davon überzeugt, dass man mit multilateraler Diplomatie, "guten Diensten" und wirtschaftlichen Mitteln alle Probleme auf dieser Welt lösen könne.
Dies war leider eine schwerwiegende Fehleinschätzung, wie wir heute wissen. Die regelbasierte, liberale Weltordnung war ein Mythos und eine Lebenslüge. Bis heute verweisen Politiker auf sie, obwohl es diese Weltordnung nie gab. Sie war immer nur eine Teilordnung, die lediglich für Europa und Nordamerika galt. Bereits die Machtverschiebungen und Aufstände im Kontext der sog. "Farben- revolutionen" in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und in Kirgisistan (2005) haben uns vor Augen geführt, dass die liberale, regelbasierte Weltordnung ein Mythos war. Vor diesem Hintergrund einer eher euphorischen Grundstimmung hat zur damaligen Zeit kaum ein Politiker eine fundierte geopolitische Risiko- oder Bedrohungsanalyse in Mitteleuropa für die folgenden Jahre für notwendig gehalten.
Ein weiterer Grund ist auch darin zu sehen, dass wir in der deutschen Außenpolitik und ihrem Entscheidungsprozess systemimmanente Defizite haben. Wir haben keine klare Hierarchie bei außenpolitischen Entscheidungen, wie beispielweise in Frankreich oder den USA. Dort ist der Präsident der oberste außen- und sicherheitspolitische Entscheidungsträger und Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Und auch in Russland gibt es eine klare vertikale Gliederung. In Deutschland verfügen wir über einen fragmentierten Entscheidungsapparat – aus Koalitionsregierung, Bundestag und Beamtenschaft, d.h. wir suchen im Entscheidungsprozess immer den Konsens auf kleinstem gemeinsamem Nenner. Politologisch könnte man das als konsensuale Entscheidungsfindung mit bürokratischen Konsensformulierungen bezeichnen. So wurde beispielsweise bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine Verschleierungsrhetorik gepflegt, die für die Etikettierung solcher Einsätze immer wieder verwendet wird: Nicht Krieg, sondern Stabilisierungs- oder Polizeieinsätze. Der Soldat ist "Entwicklungshelfer in Uniform", "Mediator", aber nicht Kämpfer.
Das ausgeprägte bürokratische Silodenken ist eine weitere Hürde: Es fehlt ein Dialog zwischen den Silos und eine übergreifende Kommunikation in der Ministerialbürokratie. Und es fehlt eine langfristige strategische Ausrichtung, wie sie beispielsweise große Wirtschaftsunternehmen vornehmen. Die Realität des Alltags eines deutschen Politikers ist die "Schlagzeilenwelt".
Vorausschauendes Agieren oder auch ein "Über-den-Tellerrand-schauen" zahlt sich für einen in Legislaturperioden denkenden Politiker heute kaum aus.
Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler hat jüngst einmal darauf hingewiesen, dass die Deutschen von den Unbilden der Welt in Ruhe gelassen werden möchten und sich möglichst aus den weltpolitischen Konflikten heraushalten wollen. Merkels Wahlkampfmotto im Jahr 2017 "Sie kennen mich" und "Gut leben in Deutschland" reflektiert dieses nur sehr begrenzte Interesse an außenpolitischen und geopolitischen Fragestellungen.
Professor em. Dr. Günther Schmid war von 1985 bis Ende 2014 im nachgeordneten Geschäftsbereich des Bundeskanzleramts mit Zuständigkeit für das Themenfeld internationale Sicherheitspolitik und globale Fragen (mit Schwerpunkt Asien/China) tätig. An der Beamtenhochschule München/Berlin hatte er eine Professur für Internationale Politik und Sicherheit inne. In den Jahren 1975 bis 1984 war er als wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter am Seminar für Internationale Politik der LMU (Lehrstuhl Prof. Dr. Gottfried-Karl Kindermann) forschend und lehrend tätig. Studium der Politischen Wissenschaft (Internationale Politik), Neueren Geschichte sowie des Staats- und Völkerrechts an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) sowie im Ausland, Magister artium 1975, Promotion 1977/78.
[Das Interview ist in den News 04/2022 des Frankfurter Instituts für Risikomanagement und Regulierung (FIRM) veröffentlicht worden]