Die Entwicklung der Inflation hat in den letzten Jahren viele Fragezeichen aufgegeben. Lange Zeit lebten wir in der Angst, dass sie wegen der guten Konjunktur und der lockeren Geldpolitik außer Kontrolle geraten und nach oben ausbrechen könnte. In der zyklischen Abschwächung der letzten Monate hätte sie eigentlich kräftig nach unten gehen müssen. Weder das eine noch das andere ist geschehen. Seit 2017 bewegt sie sich unter Schwankungen im Schnitt um die 1,5 Prozent. Das ist für sich genommen ein hervorragendes Ergebnis. Es bedeutet, dass wir praktisch Stabilität haben.
Eigentlich müssten wir vor Freude in die Luft springen. Eine Welt ohne Inflation ist Goldilocks pur. Wie sehr haben wir uns immer gewünscht, dass Güter und Dienste auf den Märkten nicht permanent teurer werden und unser Geld nicht immer mehr an Wert verliert? Ein stabiler Geldwert ist Lebensqualität für alle Schichten der Bevölkerung.
Er entschädigt die Sparer – jedenfalls ein bisschen – für die niedrigen Zinsen. Die Altersvorsorge wird etwas leichter, weil weniger für den Lebensabend zurückgelegt werden muss (unter der Voraussetzung, dass die Inflation auch künftig so niedrig bleibt). Von den positiven Wirkungen der Stabilität auf Wachstum und Beschäftigung sowie auf die Einkommens- und Vermögensverteilung gar nicht zu reden. Auch die Kapitalmärkte profitieren, wenn die Preise stabil sind.
Inflation Euroraum [Quelle: EZB]
Trotzdem ist von Euphorie wenig zu spüren. Wie kommt das? Wenn man genauer hinschaut, gibt es dafür eine Reihe von Gründen.
Einer ist, dass viele dem Frieden nicht trauen. Sie fürchten, die Preise könnten mit einer Zeitverzögerung doch reagieren. Das dicke Ende könnte also noch kommen. Die amerikanische Notenbank hat sich die Option auf weitere Zinserhöhungen in diesem Jahr vorsorglich offen gehalten. Andererseits winkt die Europäische Zentralbank ab. Sie erwartet noch für die nächsten zwei Jahre Preissteigerungen von unter 2 Prozent. Da muss man keine Angst haben.
Zweitens ist die Inflation noch nicht völlig weg. Sie ist nur nicht mehr so groß wie befürchtet. Es gibt immer noch Grund zum Klagen. Besonders ärgerlich sind die hohen Steigerungen in einzelnen Bereichen der Wirtschaft, zum Beispiel bei Mieten und Hauspreisen.
Drittens sind die Zentralbanken nicht zufrieden. Die EZB müsste laut Gesetz eigentlich eine Inflation von "nahe aber unter 2 Prozent" erreichen. Sie bräuchte also eine höhere Inflation. Allerdings ist das Unterschießen des Inflationsziels für die meisten Menschen weniger schlimm, vorausgesetzt es gibt keine Deflation. Das ist derzeit aber nicht der Fall. Niemand wird der EZB also einen Strick drehen. Im Übrigen beträgt die Abweichung der aktuellen Preissteigerung von dem Ziel nur ein paar Zehntel Prozentpunkte. Das ist nicht die Welt.
Viertens haben wir anstelle der Inflation ein neues Problem: Die Abschwächung der Konjunktur und die Angst vor einer Rezession. Das eine hat zwar mit dem anderen nur bedingt etwas zu tun. Die Preissteigerung war auch niedrig, als die wirtschaftliche Aktivität noch besser war. Trotzdem belastet es natürlich die Stimmung.
Fünftens und im Zusammenhang damit gibt es grundsätzliche Zweifel. Wenn gute Konjunktur nicht mehr automatisch zu höheren Löhnen und mehr Preissteigerungen führt und schlechte nicht zu niedrigeren Löhnen und weniger Geldentwertung, dann stimmt etwas nicht in der Volkswirtschaft. Der marktwirtschaftliche Preismechanismus ist gestört. Die geringe Inflation ist nicht – wie das früher der Fall war – Ausdruck der Tatsache, dass sich die Wirtschaft im Gleichgewicht befindet.
Sie wird vielmehr durch strukturelle Faktoren gering gehalten. Das sind die neuen Technologien, die die Kosten senken und die Preise digitaler Produkte niedrig halten. Das ist das wachsende Angebot der Niedriglohnländer auf den Weltmärkten. Das ist die Zurückhaltung der Gewerkschaften, weil ihre Mitglieder Angst vor Arbeitsplatzverlusten haben. Das ist die Ausweitung der Laufzeit bei Tarifabschlüssen (zuletzt fast drei Jahre im öffentlichen Dienst). Der Ölpreis wird durch die großen Förderländer stabilisiert.
Das ist ein Problem. Inflation ist unter normalen Umständen wie ein Fieberthermometer. Das Fieber steigt an, wenn es Ungleichgewichte gibt oder sie größer werden. Es geht runter, wenn der Patient gesund wird. Wenn das Fieber jetzt trotz der Ungleichgewichte nicht zunimmt, dann geht es uns nicht besser, sondern das Thermometer ist kaputt oder funktioniert nicht mehr richtig. Das ist kein gutes Zeichen. Vor allem fehlt es der Wirtschaftspolitik an dem Kompass, an dem sie sich bei ihrem Kurs orientieren kann.
Die Finanzpolitik hat keine Bremse, die öffentlichen Defizite in Grenzen zu halten. In den USA erreicht der Fehlbetrag im Bundeshaushalt derzeit 900 Mrd. US-Dollar – trotzdem scheint sich keiner daran zu stören. Die Europäische Zentralbank hat vorige Woche Feueralarm ausgerufen und ihre Löschzüge ausgefahren. Dabei geht sie selbst davon aus, dass wir weit von einer Rezession entfernt sind.
Für die Kapitalmärkte sind niedrige Inflationsraten, wenn sie wie jetzt keine Deflation signalisieren, gut. Bei Bonds muss man keine Kursverluste befürchten, in den letzten Wochen gab es sogar trotz der niedrigen Zinsen Kursgewinne. Bei Aktien verringert sich die Unsicherheit. Berücksichtigen Sie aber, dass unter der Oberfläche einer "heilen Welt" Probleme lauern, die erhebliche Unsicherheit und Schwankungen mit sich bringen.
Autor:
Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.