Weltweit sind heute 437 Kernkraftwerke in Betrieb und 61 in Bau[1]. Ihre Gesamtleistung beläuft sich auf 372.325 MW. 125 Reaktorblöcke wurden bis heute aus verschiedenen Gründen ausser Betrieb genommen[2]. Der Beginn der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie geht auf die 1950er Jahre zurück. In den Jahren 1970 bis 1990 erlebten die Kernkraftwerke einen Aufschwung.
Im Jahr 1990 veröffentlichte die GRS, Gesellschaft für Reaktorsicherheit (Köln) die Untersuchung im Auftrag des Bundesministers für Forschung und Technologie "Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B"[3]. Gemäß dieser Studie ist die erwartete Häufigkeit einer Kernschmelze mit 10-5/a und 10-4/a sehr gering. Die Analyse derartig seltener Vorgänge und der sich daraus ergebenden Belastungen des Sicherheitsbehälters würden aber naturgemäß große Unsicherheiten enthalten.[4]
Am 28. März 1979 ereignete sich eine Kernschmelze in einem Reaktorblock von Three Mile Island, in Harrisburg (Pennsylvania). Am 26. April 1986 explodierte der Reaktor Nr. 4 in Tschernobyl (Ukraine). Am 11. März 2011 wurden drei Reaktoren bzw. deren Notstromgeneratoren im japanischen Fukushima von einem Tsunami überschwemmt und endeten mit der Kernschmelze. Der Tsunami forderte gegen 20.000 Todesopfer. Etwa 150.000 bis 200.000 Menschen mussten nach dem Nuklearunfall evakuiert werden. Über Todesopfer und Gesundheitsschäden in Folge des Nuklearunfalls gibt es bis heute noch keine Angaben. Die freigesetzte Radioaktivität betrug etwa 10 Prozent bis 20 Prozent der Mengen von Tschernobyl [5]
Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima wird die zivile Nutzung der Kernenergie weltweit hinterfragt und teilweise in Frage gestellt. Eine vertiefte Analyse der Umstände und der Vorkommnisse sowie der offensichtlich falschen Risikoeinschätzung führen zu den Grundfragen des Risikomanagements.
Unfallhergang
Das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi I nahm nach dem Projektbeginn in 1966 am 26. März 1971 den Betrieb auf. Erst nach einem Erdbeben der Stärke 6.6 vom 16. Juli 2007 wurde bei den Kraftwerkblöcken von Fukushima I eine Mauer von 5.7 m Höhe zum Schutz vor Tsunamis errichtet. Einige Notstromgeneratoren befanden sich immer noch direkt auf Bodenhöhe am Meeresufer[6]. Das Bild unten zeigt die Anlagen von Fukushima I (Unit 1-4) der ersten Ausbaustufe nahe Meereshöhe und Fukushima I (Unit 5-6) der zweiten Ausbaustufe mit einer Überhöhung zum Meeresspiegel von 13 Metern[7]. Alle Fukushima-Daiichi-Reaktoren sind Siedewasser-Typen Mark I und II (ursprünglicher Entwurf von General Electric).
[Quelle: Wikipedia]
Siedewasserreaktoren haben nur einen Dampfkreislauf, der vom Reaktor direkt zu den Dampfturbinen führt. Der Dampf wird im Kondensator mit Frischwasser (Meerwasser) abgekühlt und wieder zum Reaktordruckbehälter zurückgeführt.
[Quelle: Wikipedia]
Der Unfallhergang der Nuklearkatastrophe von Fukushima ist an verschiedenen Literaturstellen eingehend dokumentiert worden[8]. Nachfolgend werden die wichtigsten Ereignisdaten dargestellt.[9]
9. März 2011 | |
11:45:20 | Erdbeben der Stärke 7.3 Mw,170 km östlich von Sendai, leitet eine Absenkung des Meeresbodens ein |
11.März 2011 | |
14:46:23 | Erdbeben der Stärke 9.0 Mw, das sogenannte Tohoku-Erdbeben, das stärkste Beben in der historisch dokumentierten Geschichte Japans |
14:46:46 | Einfahren der Steuerstäbe und Schnellabschaltung der Reaktoren 1-3. Die Reaktoren 4-6 sind nicht in Betrieb |
14:47 /14:48 | Einzelne Reaktorblöcke erfahren eine Horizontalbeschleunigung von bis zu 0.56 g, die Extremwerte liegen um bis zu 26% über den zulässigen Höchstwerten. Möglicherweise wurde einer der Kühlkreisläufe beschädigt |
14:47 /14:48 | Ausfall der externen Stromversorgung an den Schaltanlagen der Kernkraftwerke. Zwölf von dreizehn Notstromdieselgeneratoren starten ordnungsgemäß |
14:47 /14:48 | In den Kraftwerkeinheiten 1-3 erscheinen in den Leitständen zahlreiche Alarm- und Warnanzeigen |
15:27 | Die erste von mehreren Tsunamiwellen von vorerst 4 Metern Höhe treffen bei Fukushima I ein. Die hinter der 5.7 Meter hohen Schutzmauer angebrachten Wasserpumpen werden zerstört. Damit fallen die Kühlung aller Reaktoren sowie die Kühlung der Abklingbecken und der neun wassergekühlten Notstromgeneratoren aus |
| Die Tsunamiwellen erreichen darauf Höhen von 13 bis 15 Metern. Die Reaktoren 1 bis 4 stehen bis 5 Meter tief im Wasser. Fünf der laufenden zwölf Notstromaggregate und die meisten Stromverteiler fallen aus |
15:36 | Alle Notstromgeneratoren fallen aus, die Wechselstromversorgung bricht zusammen. Teile der Leit- und Steuerungstechnik können vorläufig noch mit Notstrombatterien weiter betrieben werden, schätzungsweise acht Stunden lang |
| Die Abführung der Reaktorwärme ins Meer ist nicht mehr möglich. Die Kondensationskammern beginnen sich zu erhitzen |
15:42 | TEPCO meldet den nuklearen Notfall für die Reaktorblöcke 1 bis 3 an die Atomaufsichtsbehörde der Japanische Regierung |
16:55 | TEPCO organisiert mobile Stromgeneratoren aus anderen Kraftwerken für den Einsatz in Fukushima |
18:00 | Nach dem völligen Ausfall der Notkühlung des Reaktors 1 ist vermutlich bereits so viel Wasser verdampft, dass die Brennstäbe teilweise freiliegen. Die Wasserstandsmesser sind durch die Hitze wahrscheinlich dekalibriert, sodass keine verlässlichen Informationen über den Reaktorzustand vorhanden sind. |
18:20 | Die mobilen Stromgeneratoren bleiben im Verkehr stecken |
19:03 | Die freigelegten Brennstäbe im Reaktor 1 beginnen zu schmelzen, und es laufen verschiedene chemische Prozesse ab, es bildet sich Wasserstoff und radioaktive Spaltprodukte werden im Innern freigesetzt |
20:50 | Evakuierung der Bevölkerung im Umkreis von 2 Km |
21.19 | Mit dem Einsatz von Feuerlöschpumpen wird eine provisorische Kühlung des Reaktors 1 versucht, sie scheint zu funktionieren |
21:51 | Die Arbeiter dürfen wegen der hohen Strahlung das Reaktorgebäude 1 nicht mehr betreten. |
| Die ersten von 70 Notstromgeneratoren sind eingetroffen, man kann sie aber nicht anschliessen, da sich die Anschlusspunkte im überfluteten Untergeschoss befinden, die mitgelieferten Kabel zu kurz sind, und die Tsunamitrümmer die Arbeiten teilweise verhindern |
12. März 2011 | |
00:06 | Der Kraftwerksleiter ordnet Vorbereitungen für die Druckentlastung des Reaktors 1 an. Es wird festgestellt, dass die Notkühlung von Reaktor 3 nicht richtig funktioniert |
00:45 | Mit einem mobilen Notstromgenerator gelingt es, vom Leitstand aus den Druck des Reaktors 1 abzulesen. Der zulässige Höchstwert ist überschritten |
01:12 | Die Emissionen für eine mögliche Druckentlastung von Reaktor 1 werden geschätzt. Die Druckentlastung wird auf 03:30 vorgesehen. Diese ist aber nicht ohne weiteres möglich, da die elektrischen Ventile außer Betrieb sind |
01:48 | Der Treibstoff der Feuerwehrpumpe ist ausgegangen. Sie kann nicht wieder in Betrieb genommen werden, vermutlich auch weil der Druck im Reaktor zu hoch ist. Der Druck im Reaktor steigt weiter an, stabilisiert sich später, vermutlich weil Dichtungen im Sicherheitsbehälter nachgegeben haben und Dampf entweicht |
04:00 | Man versucht immer noch, die mobilen Notstromgeneratoren anzuschließen |
05:46 | Man versucht immer wieder, mit Feuerwehrpumpen und Fahrzeugen Süsswasser in den Reaktor 1 zu pumpen. Vorhandene Hydranten mit 8000 m3 sind wegen der Tsunamischäden unbrauchbar |
06:50 | Die Atomaufsichtsbehörde weist TEPCO an, die Druckentlastung der Sicherheitsbehälter der Reaktoren 1 und 2 vorzunehmen |
09:04 | Ab diesem Zeitpunkt versuchen die Arbeiter in Schutzanzügen und mit Sauerstoffatmung eine manuelle Druckentlastung vorzunehmen. Die Strahlenbelastung der Arbeiter soll auf bis 300 mSv/h angestiegen sein, ein Wert, bei dem innerhalb von eineinhalb Stunden eine akute Strahlenkrankheit eintritt |
11:00 | Ein Druckentlastungsversuch im Sicherheitsbehälter bei Reaktor 2 ist nicht möglich |
11:36 | Die Notkühlung des Reaktors 3 fällt aus |
12:02 | Ein Druckentlastungsversuch bei Reaktor 2 misslingt, die Ventile schließen sich sofort wieder |
12:25 | Die Atomaufsichtsbehörde teilt mit, dass möglicherweise eine Kernschmelze eingetreten ist |
14:49 | In der Umgebung des Reaktors 1 wird Caesium nachgewiesen |
14:53 | Ende der Süßwassereinspeisung in Reaktor 1, die Wasservorräte sind erschöpft |
15:18 | Die TEPCO ist bereit, die Reaktorkühlung mit Meerwasser fortzusetzen, wartet auf die Bewilligung der Behörden |
15:25 | Während Stromanschlussarbeiten an einer Kühlwasserpumpe ereignet sich eine Wasserstoffexplosion zwischen Sicherheitsbehälter und Aussenhülle des Reaktors 1 |
19:04 | Die Arbeiter beginnen, mit einer Feuerwehrpumpe Meerwasser in den Reaktor 1 einzuspritzen |
20:41 | Erste Druckentlastung aus dem Sicherheitsbehälter von Reaktor 3 |
13. März 2013 | |
05:10 | Nach verschiedenen Notkühlversuchen in Reaktor 3 liegen die Brennstäbe vermutlich trocken, die Kernschmelze hat eingesetzt |
08:33 | Anstieg der Strahlenbelastung an der Geländegrenze auf 1.2 mSv/h |
09:20 | Druckentlastung des Sicherheitsbehälters von Reaktor 3 |
15:38 | Die meisten der 80.000 Einwohner sind aus dem 20-km-Bereich evakuiert worden. Die Medien sprechen allerdings von 200.000 Personen |
14. März 2011 | |
11:01 | Wasserstoffexplosion bei Reaktor 3, die Explosion beschädigt möglicherweise die Kühlung oder Stromversorgung von Reaktor 2, Ölbrand in Block 3 |
13:18 | Der Wasserstand in Reaktor 2 scheint zurückzugehen, man vermutet, dass das Notkühlsystem ausgefallen ist |
18:00 | Die Brennstäbe von Reaktor 2 liegen gänzlich frei, anschliessend beginnt die Druckentlastung des Sicherheitsbehälters, in Reaktorblock 2 beginnt die Kernschmelze |
15. März 2011 | |
06:10 | Wasserstoffexplosion an der Kondensationskammer unter Reaktor 2 |
06:12 | Knallgasexplosion an Reaktor 4, es wird vermutet, dass Wasserstoff von Reaktor 3 durch verbundene Rohre und ausgefallene Ventile zu Reaktor 4 gelangt ist |
| Wegen der zunehmenden Strahlung werden vorübergehend alle Mitarbeiter vom Gelände abgezogen, die nicht für die Kühlung der Reaktoren gebraucht werden. Nur noch 50 von 800 TEPCO-Mitarbeiter arbeiten weiter, zusammen mit den Helfern von Feuerwehr, Selbstverteidigungskräften und Freiwilligen. Das Arbeitsministerium setzt die zulässige Strahlungsdosis für Arbeiter in Kernkraftwerken in Notsituationen von 100 auf 250 mSv/a herauf. |
10:22 | An Reaktor 3 wird eine Strahlung von 400 mSv/h gemessen. Diese Strahlungsintensität kann innerhalb von einer Stunde eine akute Strahlenkrankheit auslösen. |
In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten gehen die gefährlichen Arbeiten zur Stabilisierung und Sicherung der havarierten Kernreaktoren und der Abklingbecken weiter. Man rechnet damit, dass die Entsorgungsarbeiten mit der vollständigen Behebung der Reaktorschäden und der Umweltschäden 30-40 Jahre dauern werden[10] und einen Schadenbetrag von 300 Mrd. US-Dollar kosten könnten[11].
Erdbeben und Tsumamis in Japan
Die Erdbebenstärke wird mit verschiedenen Skalen gemessen, wobei die 12-stufige Mercalli-Skala die am weitesten verbreitete Messmethode ist. Im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe von Fukushima gibt das obere Ende der Mercalli-Skala eine Vorstellung von der Intensität und der Auswirkung eines Bebens.
Stufe | Bezeichnung | Beschreibung | Beschleunigung |
I-VI | |||
VII | sehr stark | Selbst in fahrenden Autos spürbar, das Stehen wird schwierig. Schäden an Möbeln, lose Mauersteine fallen herab. Gebäude in unzureichender Bauweise oder mit fehlerhaftem Bauentwurf werden stark beschädigt, leichte bis mittlere Schäden an normalen Gebäuden. Schäden vernachlässigbar bei guter Bauweise und -art | 0,05-0,1 g |
VIII | zerstörend | Das Autofahren wird schwierig. Leichte Schäden an Gebäuden mit guter Bauweise und -art, beträchtliche Schäden an normalen Gebäuden bis zum Teileinsturz. Große Schäden an Gebäuden in unzureichender Bauweise oder mit fehlerhaftem Bauentwurf. Einsturz von Kaminen, Fabrikschornsteinen, Säulen, Denkmälern und Wänden möglich. Schwere Möbel stürzen um. Abbrechen von Ästen, in Brunnen Änderungen des Wasserspiegels möglich, bei nassem Untergrund Risse in steilem Gelände | 0,1-0,2 g |
IX | verwüstend | Beträchtliche Schäden an Gebäuden mit guter Bauweise und -art, selbst gut geplante Tragwerksstrukturen verziehen sich. Große Schäden an stabilen Gebäuden bis zum Teileinsturz. Häuser werden von ihren Fundamenten verschoben, Schäden an unterirdischen Rohrleitungen und Talsperren, Risse im Erdboden | 0,2-0,5 g |
X | vernichtend | Selbst gut ausgeführte Holz-Rahmenkonstruktionen werden teilweise zerstört, die meisten gemauerten Objekte und Tragwerkskonstruktionen werden samt ihrer Fundamente zerstört. Bahnschienen werden verbogen, einige Brücken werden zerstört. Starke Schäden an Dämmen, große Erdrutsche, das Wasser in Seen, Flüssen und Kanälen tritt über die Ufer, weit verbreitet Risse im Erdboden | 0,5-1 g |
XI | Katastrophe | Fast alle gemauerten Gebäude stürzen ein, Brücken werden zerstört, Bahnschienen werden stark verbogen, große Risse im Erdboden, Versorgungsleitungen werden zerstört | 1-2 g |
XII | große Katastrophe | Totale Zerstörung, starke Veränderungen an der Erdoberfläche, Objekte werden in die Luft geschleudert, die Erdoberfläche bewegt sich in Wellen, große Felsmassen können in Bewegung geraten | > 2 g |
In Japan sind Erdbeben und Tsunamis bekannt. Oft wird das Erdbeben von Tokyo vom 1. September 1923 um 11:58 Uhr erwähnt (großes Kanto-Erdbeben). Dem Erdbeben mit der geschätzten Oberflächenmagnitude von 7.9 Ms (Mercalli-Skala) folgte ein Tsunami mit einer Wellenhöhe von bis zu 12 Metern. Das Erdbeben forderte etwa 142.800 Todesopfer[12]. Dem Erdbeben folgten viele Brände, da zur Mittagszeit gerade an vielen Herden mit Holz das Essen zubereitet wurde. Bei der dichten Bebauung der seinerzeitigen Stadt Tokyo und mit dem Aufkommen eines starken Taifun-Windes entstand ein Feuersturm, der bei den durch das Erdbeben zerstörten Wasserleitungen praktisch nicht gelöscht werden konnte. Etwa 30.000 Menschen flohen aus Ihren brennenden Häusern auf das Gelände eines Militärdepots, wo sie im Feuersturm eingeschlossen den Tod fanden.
Das Erdbeben hat die Bevölkerung besonders deshalb überrascht, weil nicht nur die traditionellen Holzhäuser ein Opfer der Flammen wurden, sondern weil die Häuser, die im neueren Stil mit Ziegelsteinen gebaut wurden, durch das Erdbeben zusammenfielen. Nur Gebäude aus Stahlbeton hielten einigermaßen den Erschütterungen stand. Das ist ein Grund, dass Stahlbeton zum dominierenden Baustoff in Japan werden sollte. Das nachfolgende Bild zeigt das zerstörte Tokyo nach dem Erdbeben[13]
Der Wiederaufbau der Stadt Tokyo dauerte bis 1930. Zur Erinnerung an diese Katastrophe wurde im Jahr 1960 der 1. September zum Katastrophenvorsorgetag erklärt, "um die Menschen an die Notwendigkeit vorbeugender Maßnahmen zu erinnern"[14].
Die dokumentierte Erdbebengeschichte Japans geht über Jahrhunderte zurück und wird mit folgenden Daten ausgewiesen[15]:
Jahr | Ort | Magnitude |
869 | Jōgan-Sanriku-Erdbeben, Tohoku | 8.6 |
1586 | Ise / Seishu | 8.2 |
1703 | Boso / Genroku-Erdbeben | 8.0 |
1707 | Nankaido | 8.4 |
1847 | Nagano | 7.4 |
1855 | Tokyo | 7.0 |
1891 | Mino und Owari | 8.0 |
1896 | Sanriku-Küste | 8.0 |
1923 | Kanto-Erdbeben, Tokyo | 7.9 |
1933 | Sanriku-Küste | 8.4 |
1944 | ? | 8.1 |
1945 | Honshu | 7.1 |
1948 | Honshu | 7.3 |
1964 | Honshu | 7.5 |
1983 | Akita | 7.7 |
1993 | Hokkaido | 7.7 |
1994 | Tohoku | 7.8 |
1995 | Kobe | 6.9 |
Das Tōhoku-Erdbeben 2011, das zur Katastrophe von Fukushima Daiichi geführt hat, ist mit der Stärke 9.0 Mw (Momentenmagnitude[16]) das grösste Erdbeben, das Japan in seiner Geschichte erlebt hat. Man hielt ein derart starkes Erdbeben in Japan für nicht möglich. Das weltweit stärkste gemessene Erdbeben ereignete sich am 22. Mai 1960 in Chile (Valdivia Erdbeben), das eine Stärke von 9.5 MW verzeichnete[17].
Starke Erdbeben sind oft auch von Tusnamis begleitet. In der Region Nord-Japans gibt es Hunderte von historischen Tsunami-Steinen ("Tsunami-seki"), die teilweise über 600 Jahre alt sind. Sie markieren die Stelle, wo die Wellen des Tsunami endeten. Der unten gezeigte Tsunami-Stein steht in der Nähe der Ortschaft Kensennuma, etwa 200 km nördlich von Fukushima. Die Inschrift soll lauten: „Sei immer auf überraschende Tsunamis vorbereitet. Entscheide Dich fürs Leben, anstatt für Besitz und Wertsachen“[18].
Die Ermahnungen dieser Steine der Vergangenheit sind vergessen worden. Konsequenterweise hätten auch keine Bauzonen unterhalb dieser Markierungen bewilligt werden dürfen. Es erstaunt, dass die Fukushima Kernkraftwerke an dieser Stelle gebaut werden durften und erst im Jahre 2007 die ungenügende ungenügende Schutzmauer vor den Reaktoren erstellt wurde.
Risikoeinschätzung (am Beispiel der GRS Studie B)
Seit der zivilen Nutzung der Kernenergie gibt es mehrere Reaktorsicherheitsstudien. Die erste stammt aus dem Jahr 1975 und wurde von Norman Rasmussen in den USA erstellt. Diese Studie hat auch die Bezeichnung WASH 1400. Rasmussen entwickelte dazu ein wahrscheinlichkeitstheoretisches Verfahren für die Sicherheitsbeurteilung (Probabilistic Risk Assessment, PRA) für Kernkraftwerke. Die Schlussfolgerung der Studie stellte fest, dass die Sicherheitsrisiken von Kernkraftwerken sehr niedrig waren, verglichen mit dem Risiko, dass ein Mensch von einem Meteoriten getroffen würde[19].
In Deutschland entstanden in der Folge mehrere Studien durch die GRS, Gesellschaft für Reaktorsicherheit). Die Studie A wurde 1979 veröffentlicht und befasst sich eingehend damit, "die mit Unfällen verbundenen Schadensfolgen außerhalb der Anlage, insbesondere um das Ausmass und die Häufigkeit gesundheitlicher Schäden für die Bevölkerung zu ermitteln"[20]. Die Studie B wurde anschließend im Jahr 1981 begonnen und im Jahr 1986 veröffentlicht. Die Studie bezieht sich auf den Reaktor Biblis B.
Eine weitere bedeutende Studie stammt von der Nuclear Regulatory Commission NRC aus den USA und wurde 1987/1991 veröffentlicht[21].
Die ersten Sicherheitsstudien wurden hauptsächlich dazu benutzt, die Sicherheitstechnik der Anlagen zu überprüfen und Verbesserungsmöglichkeiten zu erkennen. Die nachfolgenden Risikobeurteilungen gingen einen Schritt weiter. Die GRS Studie B formuliert die Ziele wie folgt:
- "Identifizieren von Schwachstellen und sicherheitstechnischen Verbesserungen,
- Die Ermittlung von Sicherheitsreserven bei Störfall- und Unfallabläufen, die Auslegungsgrenzen überschreiten,
- Die Beurteilung anlageninterner Notfallmaßnahmen."[22]
Die Sicherheitsanforderungen an einen Kernreaktor umfassen
- "Kontrolle der Reaktivität
Der Reaktor muss jederzeit sicher abgeschaltet und im abgeschalteten Zustand gehalten werden können.
- Kernkühlung
Auch nach Abschalten des Reaktors muss die Kühlung des Reaktors und eine Abfuhr der Nachwärme langfristig sichergestellt werden.
- Einschluss der radioaktiven Stoffe
Radioaktive Stoffe müssen zurückgehalten werden"[23].
Der Aufbau und die Funktionsweise eines Druckwasserreaktors, wie in Biblis B gebaut, wird in nachfolgendem Bild dargestellt[24]:
[Quelle: Wikipedia]
Die Methodik, mit der nun die Reaktorsicherheit bewertet werden kann, ist die sog. Fehlerbaum und Ablaufanalyse, die auch in der DIN-Norm 25424 [25] beschrieben worden ist. Die Fehlerbaum- und Ablaufanalyse ist in zwei Teile gegliedert, nämlich den Teil für die Ursachenfindung und den Teil für die Ermittlung und Abschätzung der Auswirkungen. Im Mittelpunkt steht das sog. „Top Event“ oder das Ausgangsereignis, das definiert und mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit gekennzeichnet ist.
Bei jedem Kernkraftwerk ist das "Top Event" die Kernschmelze. Diese kann im extremen Fall auch zu einem Bersten des Reaktorbehälters führen, wie in Tschernobyl. Die primären Ursachen des "Top Events" liegen eine Stufe tiefer bzw. sind konkreter und werden dann selbst zum Ausgangsereignis der Fehler- und Ereignisbaums.
Das nachfolgende Bild zeigt den Fehlerbaum und den Ereignisbaum[26]
Die Ausgangsereignisse, die zu einer Kernschmelze oder zum Austritt von Radioaktivität führen können, sind in der GRS Studie B wie folgt gruppiert:
- Lecks in der Hauptkühlmittelleitung
- Lecks am Druckbehälter durch Transienten
- Dampferzeuger-Heizrohr-Lecks
- Betriebstransienten (beispielsweise Stromausfall, Speisewasserausfall)
- Frischdampf-Leitungsleck
- Ausfall Reaktor-Schnellabschaltung
- Übergreifende anlageninterne Ereignisse (Brand, Flutung)
- Anlagenexterne Ereignisse (Erdbeben, Flugzeugabsturz)[27].
Bei den Ursachen im Fehlerbaum wird von den Systemkomponenten und deren Funktionen ausgegangen und eine Zuverlässigkeitsanalyse erstellt. Dabei werden Ausfälle und Nichtverfügbarkeit quantitativ bewertet.
Die Inputs für die Fehlerbaumanalyse sind die sicherheitsrelevanten Systeme und Komponenten des Kernkraftwerkes. Die wichtigsten davon sind:
- Reaktorschnellabschaltsystem,
- Reaktorkühlkreislauf,
- Speisewasser-Dampf-Kreislauf,
- Volumenregelsystem (Kühlmittel des Reaktors),
- Begrenzungs- und Regelungseinrichtungen (Wärmeabfuhr),
- Reaktorschutzsystem (Grenzwerte),
- Elektrische Energieversorgung,
- Notspeisewassersystem,
- Elemente des Not- und Nachkühlsystems,
- Notstandssystem,
- Sicherheitsbehälter und Gebäudeabschlusssystem. [28]
Beim Ereignisbaum wird immer eine Systemfunktion in Betracht gezogen und die Wahrscheinlichkeit des Systemerhalts oder des Systemverlusts berechnet. Daraus ergeben sich einzelne Szenarien für die Entwicklung des Systemzustandes nach einem Ausgangsereignis. Man spricht auch von verschiedenen Schadenszuständen.
Die GRS Studie B empfiehlt auf der Grundlage der durchgeführten Risikostudie Änderungen der Systemtechnik betreffend der Gestaltung von Kernreaktoren, einschließlich von verschiedenen Funktionsprüfungen zur Erhöhung der Sicherheit der Anlagen.
Das Ergebnis der Risikobeurteilung der GRS Studie B lässt sich – wie bereits in der Einleitung angesprochen – wie folgt beschreiben:
- Die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze liegt zwischen 10-5/a und 10-4/a, umgerechnet auf die weltweit seit ca. 50 Jahren in Betrieb stehenden durchschnittlich 200 Reaktoren bei einer Kernschmelze in 10 Jahren.
- Bei der Berücksichtigung von anlageinternen Notfallmaßnahmen liegt die Eintrittswahrscheinlichkeit um eine Zehnerpotenz tiefer, also weltweit betrachtet bei einmal in 100 Jahren.
- Kernschmelzen mit einer bedeutenden Belastung des Sicherheitsbehälters hingegen werden mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 10-8/a bis 10-6/a eingeschätzt. Dies würde einem Zeitraum von einmal in 100 bis einmal in 10.000 Jahren entsprechen.
Die GRS-Studie B bezieht sich ausdrücklich auf das Kernkraftwerk Biblis B. Die Frage, ob die Erkenntnisse auch auf andere Kernkraftwerke abgeleitet werden dürfen, bleibt unbeantwortet, man könnte sagen: Wissenschaftlich betrachtet nein, praktisch wird genau das aber gemacht. Dies findet darin seine Begründung, dass eine Kernschmelze und der Austritt von Radioaktivität keine eng begrenzbaren Phänomene darstellen, sondern immer eine überregionale bis globale Bedeutung erlangen. In der Sprache des Risikomanagements könnte man den Vergleich zwischen der GRS-Studie B und der Realität als massive Unterschätzung des "credible worst case" im Risikobewertungsmodell von Kernkraftwerke im Allgemeinen bezeichnen.
Festzustellen ist zudem, dass – mit Ausnahme der Kernschmelze von Three Mile Island im Jahr 1976 - die andern Reaktorunfälle entweder durch menschliche Manipulation (Tschernobyl) oder durch unterschätzte Naturgefahren (Fukushima) verursacht wurden. Bei Fukushima funktionierte die Anlagentechnik an sich einwandfrei.
Konsequenzen für das Risikomanagement
Die Nuklearkatastrophe von Fukushima wäre vermeidbar gewesen. Die IAEA, die NAIIC und die CARNEGIE-Studie[29]
haben insbesondere auch zu technischen und regulatorischen Fragen ihre Schlussfolgerungen und Empfehlungen abgegeben.[Quelle: Wikipedia]
Der IAEA Mission Report[30] führt 15 „Conclusions“ auf und fügt diesen 16 Lektionen an.
Die Schlussfolgerung Nr. 3 ist offensichtlich: Die Gefahr von Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami wurde unterschätzt. Es wird dazu auch berichtet, dass seinerzeit der Bauplatz von Fukushima auf einer Anhöhe von 35 m.ü.M. stand, den man aus drei Gründen dann auf 10 m.ü.M. absenkte: (1) Kostenersparnis für Meerwasserpumpen, (2) höhere Erdbebensicherheit des stabileren Grundgesteins und (3) einfachere Übernahme der 500 To schweren Druckbehälter bei Anlieferung per Schiff über das Meer[31].
Die IAEA hat bereits im Jahr 2003 einen "safety guide"[32] zur Risikoeinschätzung auch von Naturereignissen erlassen, der sich auch eingehend mit Tsunamis befasst.
Sowohl die NISA (Nuclear and Industrial Safety Agency) als auch die TEPCO (Tokyo Electric Power Company) müssen sich schwere Vorwürfe gefallen lassen, weil sie sich um diese Empfehlungen der IAEA nicht kümmerten.
Die Tatsache, dass die 5,7m hohe Schutzmauer erst nach einem relativ geringen Erdbeben in 2007 gebaut wurde, zeigt, dass die Gefahr von Erdbeben mit nachfolgenden Tsunamis immer noch nicht als ernstes Risiko erkannt worden ist. Bei der Dimensionierung der Schutzmauer hätte man auch die historischen Erfahrungen berücksichtigen müssen, einschließlich einer Sicherheitsmarge bei Erdbeben und Tsunamis. Im fehlenden Bewusstsein über diese im Norden Japans seit Jahrhunderten bekannte Gefahr ist der Hauptgrund für die Katastrophe zu sehen.
Was bedeuten diese Feststellungen aus der Sicht des Risikomanagements? Man kann anhand des Prozesses Risikomanagement einige weitere Schlussfolgerungen ziehen:
Die Kernkraftwerke von Fukushima 1-4 wurden seinerzeit mit schweren Konstruktionsfehlern entworfen, die darauf beruhten, dass man bei der Festlegung der Rahmenbedingungen die Erdbeben- und Tsunamierfahrungen von Japan nur teilweise berücksichtigte. Die Anlage war in der Lage, das starke Erdbeben zu absorbieren, die Reaktor-Schnellabschaltung funktionierte einwandfrei, die Notstromversorgung sprang wie geplant an. Doch die Tsunamigefährdung blieb außer Acht bzw. wurde schon von Anfang an massiv unterschätzt.
Diese einseitige Berücksichtigung der Rahmenbedingungen führte direkt zu den Fehlern in der Risikoidentifikation und die Risikoanalyse. Hier wurden die verfügbaren Informationen nicht berücksichtigt. Das Risikomanagement nach ISO 31000 baut auf mehreren Grundsätzen auf, von denen der sechste lautet "Risikomanagement stützt sich auf die besten verfügbaren Informationen".
"Die Eingaben in den Risikomanagementprozess beruhen auf Informationsquellen wie historischen Daten, Erfahrungen, Rückmeldungen von Interessierten Kreisen, Beobachtungen, Prognosen und Expertenmeinungen. Gleichwohl sollten sich die Entscheidungsträger über die Grenzen der eingesetzten Daten oder Modelle sowie eventuelle Meinungsverschiedenheiten unter Experten informieren und diese berücksichtigen"[33].
Die Analyse der historischen Daten, insbesondere der Erdbebendaten zeigen, dass die extremsten Erdbeben in Japan mehrfach deutlich über der Intensität 8 der Mercalli-Skala gelegen haben. Die Stärke des Erdbebens von Fukushima wurde zwar historisch noch nie zuvor erreicht, aber die Auslegung des Kernkraftwerkes und der Schutzmauer lag deutlich unterhalb der historisch bekannten Werte.
Wenn einmal eine Anlage in Betrieb genommen worden ist, können nachfolgende neue Erkenntnisse für die Risikoanalysen kaum mehr einfließen, denn das Abwägen zwischen Chancen und Gefahren, zwischen positiven und negativen Auswirkungen des Risikos auf Ziele[34] wird immer schwieriger. Bei der Planung, Realisierung und dem Betrieb und der Überwachung der Kernkraftwerke spielen die positiven Aspekte des Risikos eine dominierende Rolle. Die kostengünstige Energie und die damit verbundenen wirtschaftlichen Vorteile ließen auch die nachträgliche Beschäftigung mit den wirklichen Gefahren durch die Natur und durch den Menschen nicht mehr zu.
Die Risikobewertung als Ergebnis der Risikoidentifikation und Risikoanalyse zeigt im Fall von Fukushima ebenfalls schwere Mängel: Diese können mit den verschiedenen Ansätzen der Risikobeurteilung, dem top-down- und bottom-up-Ansatz, teilweise erklärt werden:
Die Risikobeurteilung eines Kernkraftwerkes ist stark ingenieurtechnisch geprägt. Die Methode des Probabilistic Risk Assessment (PRA), die auf Rasmussen zurückgeht[35], findet hohe internationale Anerkennung. Sie liegt auch der GRS-Studie B zugrunde. Die PRA ist eine bottom-up-Methode, worunter die "Vorgehensweise bei der Risikobeurteilung, bei der die design- und prozess-spezifischen Einzelteile einer Organisation oder eines Systems Gegenstand der Risikoidentifikation und der Risikoanalyse sind" verstanden wird[36]. Demgegenüber wird der top-down-Ansatz definiert als "Vorgehensweise bei der Risikobeurteilung, bei der die Gesamtheit der Organisation oder des Systems Gegenstand der Risikoidentifikation und Risikoanalyse sind"[37] .
Die bottom-up Risikobeurteilung am Beispiel eines einzigen Reaktors wie Biblis B führt zu sehr geringen Eintrittswahrscheinlichkeiten von 10-4 bis 10-5 bei einer einzelnen Anlage. Dass diese Aussage weltweit betrachtet für die Vergangenheit genau richtig war und eine Kernschmelze einmal in 10 Jahren bedeutet, hat kaum jemand zur Kenntnis genommen. Nur ein top-down-Ansatz, der das Risiko auch im globalen Zusammenhang betrachtet, kommt zu dieser überraschenden Erkenntnis. Es ist ein beunruhigendes Missverständnis unter verschiedenen Stakeholdern, dass so gegensätzliche Sichtweisen zu einem identischen Risiko entstehen können.
Der Grund liegt darin, dass in der Risikobewertung und in der technischen Gestaltung von Kernkraftwerken bisher Faktoren ausserhalb des Systems, insbesondere Naturereignisse und menschliche und institutionelle Faktoren, worunter auch die staatliche Aufsicht über Bau und Betrieb solcher Anlagen gehört, nicht die ihnen zukommende Rolle spielten. Dies ist insbesondere im NAIIC Report aus Japan betreffend dem Nuklearunfall von Fukushima zu entnehmen[38].
Schliesslich wurde des Credible Worst Case Szenario bei der Risikobewertung nicht berücksichtigt: Die ONR 49000-Serie[39], die eine Spezifikation der ISO 31000 darstellt, setzt sich eingehend mit Risikoszenarien auseinander. Im definitorischen Teil ist folgendes nachzulesen:
"Risikoszenario: konkrete und bildhafte Darstellung eines Risikos mit Annahmen über mögliche Zusam-menhänge von Ursachen und Abfolgen von Ereignissen oder Entwicklungen, die aufzeigt, wie sich Chancen bzw. Bedrohungen/Gefahren in einer Organisation oder in einem System verwirklichen lassen.
Ein Szenario hat eine oder mehrere Gefahren/Bedrohungen/Chancen als Quellen/Ursachen und beinhaltet verschiedene Auswirkungen auf die Ziele einer Organisation, ihre Tätigkeiten und Anforderungen oder auf das Funktionieren eines Systems.
Im Risikomanagement wird das Szenario oft als schlimmst möglicher, aber dennoch glaubwürdiger Fall (credible worst case) dargestellt, weil eine solche Extremsituation die Führungskräfte und die Organisation besonders schwer treffen kann.
Ein Szenario ist glaubwürdig, wenn es in der menschlichen Erfahrung, im Erfahrungsbereich von Führungskräften oder von Risikoexperten schon vorgekommen ist und ein erneutes Eintreten nicht ausgeschlossen werden kann.
Zudem gibt es Szenarien, die gemäß Expertenwissen für möglich gehalten werden und begründet sind, auch wenn sie noch nie eingetroffen sind".
Vergleicht man die GRS-Studie B mit der inzwischen eingetretenen Realität, kommt zum Ausdruck, dass die technische Systemsicherheit durchaus im Rahmen der Schätzungen liegen, ja sogar noch viel besser wären, dass aber externe Faktoren (Erdbeben, Tsunami) sowie der Einfluss des Menschen, der Regulatoren und der Anlagenbetreiber massiv unterschätzt worden sind.
Die Nuclear Accident Independent Investigation Commission NAIIC kommt zum eindeutigen Schluss: "...we conclude that the accident was clearly “manmade.” We believe that the root causes were the organizational and regulatory systems that supported faulty rationales for decisions and actions, [...]"[40]
Schlussfolgerungen
Die zukunftsorientierte Schlussfolgerung 5 des IAEA Mission Reports ist für diejenigen Länder, die nach wie vor auf die Nuklearenergie setzen, von größter Bedeutung:
"An updating of regulatory requirements and guidelines should be performed reflecting the experience and data obtained during the Great East Japan Earthquake and Tsunami, fulfilling the requirements and using also the criteria and methods recommended by the relevant IAEA Safety Standards for comprehensively coping with earthquakes and tsunamis and external flooding and, in general, all correlated external events. The national regulatory documents need to include database requirements compatible with those required by IAEA Safety Standards. The methods for hazard estimation and the protection of the plant need to be compatible with advances in research and development in related fields"[41].
In der Folge des Nuklearunfalls von Fukushima wurde in einigen Ländern die Energiepolitik drastisch verändert, in Deutschland und in der Schweiz sollen die noch betriebenen Nuklearreaktoren bald ausser Dienst gestellt bzw. neue Anlagen nicht mehr bewilligt werden. Dies hat auch die japanische Regierung nach der Fukushima-Katastrophe beschlossen, ist inzwischen davon aber wieder abgerückt.
Eine der Entwicklungen, die schon früher eingesetzt hatte, besteht in der nun verstärkten Förderung der alternativen Energien. Ob durch sie die Lücken der Kernkraftwerke überhaupt und in absehbarer Zeit geschlossen werden können, ist fraglich und wird politisch sehr kontrovers diskutiert.
Der Ausfall der Kernenergie führt leider auch zur intensiveren Nutzung von fossilen Brennstoffen, es werden nun vermehrt Gas- und Kohlekraftwerke gebaut und in Betrieb genommen, welche die Belastung der Atmosphäre mit CO2 fortsetzen und den Klimawandel mit allen seinen negativen und bis heute erst partiell wahrgenommenen Folgen antreiben. Dadurch verschiebt sich ein anderes dramatisches Risiko in die ferne Zukunft, die heute niemand direkt verantworten kann.
Unabhängig davon, welche Technologien wir für den Energiehaushalt oder für andere Zwecke einsetzen, ein ganzheitliches, umfassendes Risikomanagement ist heute dringender denn je.
Autor:
Dr. Bruno Brühwiler, Professor für Risikomanagement an der Technischen Hochschule Deggendorf in der Fakultät Betriebswirtschaft und Wirtschaftsinformatik sowie Geschäftsführer der Euro Risk Limited in Zürich.
Quellenverzeichnis sowie weiterführende Literaturhinweise:
[1]
Mai 2013[2]
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, Mai 2013[3] Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS): Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B -: eine Untersuchung / Ges. für Reaktorsicherheit. Im Auftr. d. Bundesministers für Forschung u. Technologie. - Köln: Verl. TÜV Rheinland, 1990, auch GRS Studie B genannt.
[4] A.a.O. S. 84.
[5]
de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Fukushima
, Mai 2013[6]
de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Fukushima_Daiichi
, Mai 2013[7] IAEA Mission Report: IAEA INTERNATIONAL FACT FINDING EXPERT MISSION OF THE FUKUSHIMA DAI-ICHI NPP ACCIDENT FOLLOWING THE GREAT EAST JAPAN EARTHQUAKE AND TSUNAMI, REPORT TO THE IAEA MEMBER STATES, Tokyo, Fukushima Dai-ichi NPP, Fukushima Dai-ni NPP and Tokai Dai-ni NPP, Japan, 24 May –2 June 2011
[8] Vor allem die IAEA, International Atomic Energy Association
[9]
de.wikipedia.org/wiki/Chronik_der_Nuklearkatastrophe_von_Fukushima
[10]
de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Fukushima, Mai 2013
[11]
www.lpb-bw.de/atomkatastrophe.html
, Mai 2013[12]
de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fes_Kant%C5%8D-Erdbeben_1923
, Mai 2013[13] A.a.O., Mai 2013
[14] A.a.O., Mai 2013
[15]
de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Erdbeben
, Mai 2013[16] Die Momentenmagnituden-Skala endet bei 10.6 Mw, weil bei diesem Wert angenommen wird, dass die Erdkruste auseinander bricht: de.wikipedia.org/wiki/Momenten-Magnituden-Skala, Mai 2013
[17]
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, Mai 2013[18]
www.spiegel.de/wissenschaft/natur/mahnung-der-vorfahren-wegsteine-in-nordjapan-warnten-vor- tsunamis-a-756622.html
, Mai 2013[19]
de.wikipedia.org/wiki/Norman_Rasmussen
, Mai 2013[20] Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS): Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Hauptband. Eine Untersuchung zu dem durch Störfälle in Kernkraftwerken verursachten Risiko. Verlag TÜV Rheinland GmbH, Köln, 1979
[21] U. S. Nuclear Regulatory Commission (NRC): Reactor Risk Reference Document (Draft for Comment). NUREG-1150, February 1987, definitive Veröffentlichung 1991.
[22] GRS Studie B, S. 7.
[23] GRS Studie B, S. 9.
[24]
commons.wikimedia.org/wiki/File:Kernkraftwerk_mit_Druckwasserreaktor.svg
, Mai 2013[25] Vgl. DIN 25424: Fehlerbaumanalyse, Teil 1: Methode und Bildzeichen, Teil 2: Handrechenverfahren zur Auswertung eines Fehlerbaumes, April 1990
[26] Quelle: Bundesamt für Verkehr (Schweiz) 2001, Provisorischer Leitfaden für Plangenehmigungs-verfahren bei Seilbahnen, Anhang 5, Vertiefte Sicherheitsanalyse.
[27] GRS Studie B, S. 21. ff.[28] GRS Studie B, S. 10 ff.
[29] The CARNEGIE Papers: Why Fukushima was Preventable, by James M. Action and Mark Hibbs, Nuclear Policy, March 2012
[30] IAEA Mission Report: IAEA INTERNATIONAL FACT FINDING EXPERT MISSION OF THE FUKUSHIMA DAI-ICHI NPP ACCIDENT FOLLOWING THE GREAT EAST JAPAN EARTHQUAKE AND TSUNAMI, REPORT TO THE IAEA MEMBER STATES, Tokyo, Fukushima Dai-ichi NPP, Fukushima Dai-ni NPP and Tokai Dai-ni NPP, Japan, 24 May –2 June 2011
[31]
de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Fukushima_Daiichi
, Mai 2013, insbesondere Teil Konstruktionsmängel des Kraftwerkes[32] International Atomic Energy Agency, “Flood Hazard for Nuclear Power Plants on Coastal and River Sites.”
[33] ÖNorm ISO 31000:2010, Risikomanagement - Grundsätze und Richtlinien, ISO 31000:2009, Grundsatz f) in Kapitel 3. Grundsätze
[34] ÖNorm ISO 31000, Risikomanagement – Grundsätze und Richtlinien, Ziff. 2.1
[35]
de.wikipedia.org/wiki/Norman_Rasmussen
, Mai 2013[36] ONR 49000, a.a.O. Ziff. 3.2.1
[37] ONR 40000, a.a.O., Ziff. 3.2.31
[38] Nuclear Accident Independent Investigation Commission (NAIIC), The official report, The National Diet of Japan, 2012
[39] ONR 49000 Risikomanagement für Organisationen und Systeme, Umsetzung von ISO 31000 in die Praxis, Begriffe und Grundlagen, Ziff. 3.1.16, Version 2013, in Vorbereitung, erscheint im Herbst 2013.
[40] Nuclear Accident Independent Investigation Commission (NAIIC), The official report, The National Diet of Japan, 2012, p. 16
[41] IAEA Mission Report: a.a.O., p. 14