Risiko ist nicht nur für Mathematiker oder Finanzakteure ein Thema, sondern gerade auch für Philosophen. Sobald über Gefahren und Schäden nachgedacht wird, geht es um eine wertende Stellungnahme, dann kommt zwangsläufig die Ethik ins Spiel. In welchem Maß ist es zum Beispiel legitim, ein hohes Risiko bei noch höheren Nutzenerwartungen einzugehen. Zumal wenn dabei auch andere Personen zu Schaden kommen könnten? Solche Fragen können mit empirischen Methoden der Risikoschätzung allein nicht beantwortet werden.
Drei Phasen der Risikoauseinandersetzung
In der Auseinandersetzung mit Risiken können grundsätzlich drei Phasen unterschieden werden: Risikoidentifikation, Risikobewertung und Risikobeurteilung. In der ersten Phase der Risikoidentifikation geht es um die Frage "Was ist ein Risiko?" beziehungsweise "Welche Situationen sind als risikobehaftet zu betrachten?". Die zweite Phase der Risikobewertung ist durch zwei Fragen gekennzeichnet, die (zumindest implizit) unterschiedliches Gewicht entweder auf die Wahrscheinlichkeits- oder auf die Schadenskomponente von Risikosituationen legen: zum einen die Frage "Wie hoch ist das Risiko?" (Fokus auf Wahrscheinlichkeiten), zum anderen die Frage "Wie groß ist das Risiko?" (Fokus auf potenziellen Schäden). In der dritten Phase der Risikobeurteilung geht es um normative Aspekte: Ist ein zuvor identifiziertes und bewertetes Risiko vertretbar und ist es akzeptabel?
In der Praxis – so etwa in der Diskussion um neue Technologien oder um finanzpolitische Entscheidungen – können die Einschätzung von Risiken, die Abschätzung der Häufigkeit zu erwartender Schäden und somit auch die Meinungen über den richtigen Umgang mit Risiken stark divergieren. Dieser Gegensatz ist häufig Ausdruck unvollständiger Information oder eines irrationalen Umgangs mit vorliegenden Informationen. So führten im Vorfeld der Weltfinanzkrise 2008/2009 unter anderen die falschen Risikobewertungen einer Vielzahl von Finanzprodukten, eine falsche Regulierungsphobie und die geradezu grotesken Bewertungen vonseiten der Rating-Agenturen zu falschen Risikoeinschätzungen. Die Folge waren Entscheidungen und Strategien, die Kriterien kurzfristiger, ja punktueller Optimierung folgten und damit eine fundamentale Instabilität der Finanzmärkte verursachten.
Die normative Dimension des Risikos
Aufklärung und eine gesicherte Informationslage hinsichtlich der Risikorealität mögen zwar in vielen Fällen Unstimmigkeiten beheben und einen rationaleren Risikodiskurs ermöglichen. Sie sind jedoch nicht ausreichend: Die Auseinandersetzung mit Risiken muss aus ethischer Sicht um eine normative Dimension, insbesondere die Bindung an individuelle Rechte und Autonomie, ergänzt werden. Es ist unzulässig – für welchen ökonomischen Vorteil auch immer – einen Menschen zu schädigen oder zu opfern. Mehr noch: Die von Risiken betroffenen Personen haben prinzipiell ein Recht darauf, selbst darüber zu entscheiden, welche Risiken sie in Kauf nehmen möchten.
Menschen sind für ihr Leben verantwortlich, und diese Verantwortung können ihnen andere Personen grundsätzlich nicht abnehmen (dies gilt jedenfalls für erwachsene und voll zurechnungsfähige Personen). Selbst wenn wir ganz sicher sind, dass eine bestimmte Maßnahme für eine Person mehr Vor- als Nachteile bringt, dürfen wir diese Maßnahme dann nicht verwirklichen, wenn die Person dies ausdrücklich ablehnt. Selbst wenn ein Arzt wüsste, dass es besser wäre, wenn sein Patient nicht mehr raucht, kann er ihn nur darauf hinweisen, ihm aber nicht das Rauchen verbieten (oder gar Gewalt anwenden). Selbst ein gut gemeinter Paternalismus schränkt die Autonomie der Person ein. Die persönliche Entscheidung ist unabhängig davon bedeutsam, ob die vorausgegangenen Abwägungen durchgängig rational waren oder nicht. Die subjektiven Einstellungen sind hier unmittelbar für die moralische Zulässigkeit von Risiken relevant.
Risikomanagement in der Marktwirtschaft
Was bedeutet die eben angesprochene Betonung individueller Rechte nun für ein ethisch vertretbares Risikomanagement? In einer entwickelten Gesellschaft, die nicht unter extremen Knappheitsbedingungen leidet und prinzipiell jedem den Zugang zu elementaren Grundgütern wie Gesundheit, Bildung und Wohnraum gewähren kann, sind Grundgüter individuelle Rechtsansprüche. Diese dürfen niemandem vorenthalten werden, um andere dadurch besserzustellen.
Insbesondere die mit Grundgütern weniger gut ausgestatteten Personen, das heißt Personen mit geringerer Lebensqualität, müssen bei allen Entscheidungen besonders berücksichtigt werden. Selbst ein gesamtgesellschaftlicher Einkommenszuwachs rechtfertigt die Schlechterstellung eines Individuums nicht, solange der Betroffene das Risiko nicht selber eingegangen ist. Ein überzeugendes Kriterium der Risikobeurteilung sollte nicht insgesamt aggregativ sein, sondern vielmehr auf der Forderung einer Rechtfertigungsfähigkeit der konkreten Risikopraxis gegenüber jeder einzelnen betroffenen Person beharren. Es stellt sich die Frage, ob der Markt das entsprechend effektive Entscheidungsverfahren hierfür liefert oder eine weitere Institutionalisierung der Risikosteuerung benötigt.
Im Markt werden bestimmte Güterbündel angeboten, die mit Vorteilen und Risiken verbunden sind. Der Kauf und Verkauf von Gütern kommt nur zustande, wenn sowohl der Verkäufer als auch der Käufer sich damit besserstellen als ohne diese Transaktion. Jeder Transfer von Gütern auf dem Markt führt also zu einer pareto-optimalen Verteilung und gibt deshalb keinen Anlass für moralische Bedenken gegen diese Verteilung. Darauf ist zu erwidern, dass solche marktförmigen Risikotransfers nur dann legitim sind, wenn nachweisbar keine externen Effekte bestehen, also wenn keine Dritten betroffen sind und wirklich nur die Interagierenden, zwischen denen dieser marktförmige Transfer zustande kommt, höhere Risiken in Kauf nehmen und auch die entsprechenden Vorteile genießen. Dies ist allerdings die seltene Ausnahme.
Aber unter ethischen Gesichtspunkten kommt noch eine zweite Notwendigkeit hinzu: gerechte Ausgangsbedingungen. Wenn schon die Ausgangsverteilung auf dem Markt extrem ungleich ist, perpetuiert sich die Ungleichheit, so dass sich die Ungerechtigkeit über marktförmige Transfers fortsetzt, sofern nicht entsprechende Institutionen oder etwa der Staat selbst in irgendeiner Form intervenieren. Die rein aggregative Betrachtung von potenziellen Schäden und Nutzen, wie sie in der Risikobeurteilung häufig vorgenommen wird, berücksichtigt Aspekte der Verteilung nicht, Kriterien der Gerechtigkeit und Fairness gehen unter.
Schlussfolgerung für die Risiko-Optimierung
Die Risikopraxis verlangt nach einem kohärenten Umgang mit Chancen und Gefahren, aber auch nach einer Berücksichtigung ethischer Kriterien, die den Bereich zulässiger Risiko-Optimierung einschränken.
Die empirische und die ethische Dimension sind daher eng miteinander verkoppelt und so wie die Einschätzung von Risiken nach einer validen Datenbasis verlangt, so sollte die Entscheidungsfindung transparente ethische Normen und Werte erfordern.
Autor:
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Jahrgang 1954, zählt zu den renommiertesten Philosophen in Deutschland. Von 1998 bis 2002 wechselte er in die Kulturpolitik. Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie und politische Theorie an der Universität München. Er kooperiert mit dem Deutschen Verband für Finanzanalysten und Assetmanager (DVFA) für eine ethisch sensible Ausbildung von Finanzmanagern, ist Mitinitiator des berufsbegleitenden Studiengangs Philosophie Politik Wirtschaft (an der Ludwig-Maximilians-Universiät) und Direktor der Parmenides Academy, die Führungskräfte in ethischen Fragestellungen berät.
[Quelle: Der Text ist dem Buch "Die Vermessung des Risikos" entnommen. Wir danken der Union Investment Institutional GmbH für die freundliche Genehmigung einer Veröffentlichung des Textes auf RiskNET]
Besuchen Sie die Vermessung des Risikos im Internet unter www.dievermessungdesrisikos.de