Ende Januar 2021 erreichte die Bewegung um Memestocks und die Popularität des Reddit-Forums WallStreetBets ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem legendären GameStop-Shortsqueeze. Eine Kursexplosion manövrierte etablierte Hedgefonds, wie etwa Melvin Capital, ins Aus, nachdem diese ungedeckte Leerverkäufe getätigt hatten und völlig unerwartet den Gegenwind der WSB-Community zu spüren bekamen. So zumindest die Legende…
Doch im Nachgang wurde klar, dass es nicht nur die David-gegen-Goliath-Story war, sondern auch Schwergewichte wie BlackRock in nicht unerheblichem Maße vom "The Big Squeeze" – der mittlerweile sogar verfilmt wurde – profitierten. Allein BlackRock verbuchte knapp 3 Mrd. USD an Gewinn!
In einer dreiteiligen RiskNET-Serie wurden damals bereits die Entwicklungsstufen skizziert: von der Goldgräberstimmung zu Zeiten der Tulpenmanie, über den gefährlichen Mitläufereffekt bzw. FOMO (fear of missing out) in Kombination mit YOLO (you only live once) bis hin zu – zumindest temporär – außer Kraft gesetzten etablierten Regeln.
Was ist seitdem passiert und welche Erkenntnisse lassen sich für das Risikomanagement ableiten?
Aktueller Status: Diamond Hands oder vergeudete Liebesmühe?
Die Entwicklungen rund um GameStop und WallStreetBets (WSB) wurden häufig stark verkürzt dargestellt und es blieben einige Fragen offen. Dies scheint auch ein Grund dafür zu sein, warum bis heute bei einigen Investoren noch weiterhin die Hoffnung flackert, durch ihre "Diamond Hands" reich zu werden. Es wird dabei immer wieder aufgeführt, dass immer noch nicht geklärt ist:
- Wer profitierte vom Kaufverbot von GameStop/AMC, als viele Neobroker einfach den Kaufbutton in ihren Apps entfernten?
- Ist es Marktmanipulation, wenn auf WSB (oder vergleichbaren Plattformen) konzertierte Aktionen verabredet werden bzw. wo ist der Unterschied zu den "klassischen" Börsenbriefen/institutionellen Aktienempfehlungen?
- Worauf war der Shortsqueeze letztendlich zurückzuführen – die Aktionen der WSB-Community oder doch eher institutioneller High-Roller im Hintergrund?
- Haben die Shortseller wirklich im Januar 2021 ihre Shortpositionen geschlossen, als der Short Interest von 120% auf 20% gefallen war (Figure 5)?
- Sind Meme-Aktien eine Gefahr für die Finanzstabilität – oder doch eher die Geschäfte von Shortsellern mit ungedeckten, sogenannten Naked Shorts?
Vollumfänglich aufgearbeitet wurden die Entwicklungen von den Aufsichtsbehörden nicht und deshalb stehen sich die beiden Lager bei der Beantwortung der offenen Fragen auch vielfach konträr gegenüber. Einige Fragen versucht der Bericht der amerikanischen Aufsichtsbehörde SEC vom 14. Oktober 2021, der die Ereignisse im Januar 2021 untersucht hat, zu beantworten. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Shortpositionen allem Anschein nach nicht geschlossen wurden, wie Abb.01 verdeutlicht. In Abb. 01 wird der Kursverlauf von GameStop (gestrichelte Linie) und das Handelsvolumen der Aktie (türkisfarbene Balken) dargestellt. Es zeigt sich dabei, dass das Kaufvolumen von Anlegern mit einer großen Shortposition (rot) an dem Gesamtkaufvolumen (türkis) nur einen geringen Anteil hat. Dies bedeutet mit anderen Worten: Das Handelsvolumen war nicht auf das Schließen von Shortpositionen zurückzuführen! Der Bericht führt hierzu aus:
"The underlying motivation of such buy volume […] Whether driven by a desire to squeeze short sellers […] or by belief in the fundamentals of GameStop, it was the positive sentiment, not the buying-to-cover, that sustained the weeks-long price appreciation of GameStop stock." (S. 26)
Abb. 01: Kaufvolumen und Kursentwicklung von GameStop Corp. (19.01.2021-05.02.2021)
Insbesondere in der Drei-Jahres-Betrachtung des Aktienkurses von GameStop in Abb.02 sieht man sehr deutlich, dass der Kurs von GameStop weiterhin eine hohe Volatilität aufweist, deutlich über dem Kurs vor dem (vermeintlichen?) 2021er-Shortsqueeze notiert und im Vierteljahrestakt immer wieder Rückenwind bekommt.
Abb.02: Kursentwicklung GameStop Corp. (15.01.2019-14.01.2022)
Die fehlende ganzheitliche Aufarbeitung durch eine unabhängige Instanz dürfte wohl auch einer der Gründe sein, warum (zumindest gefühlt) "normale" unternehmerische Entscheidungen und Ankündigungen bei GameStop und anderen Meme-Aktien wie AMC etc. sehr schnell mit größten Fantasien verbunden sind. GameStop scheint diese Fantasien aber auch gezielt zu bespielen, etwa indem eine NFT-Plattform geplant und Kooperationen angekündigt wurden. Dies führte vor einer Woche dazu, dass der Aktienkurs um rund 15 Prozent nach oben schoss.
Rund um die Non-Fungible Tokens (NFTs) hat sich ein weiterer hochriskanter Hype entwickelt. Sehr ähnlich zur Situation während des Shortsqueezes bei GameStop! Die Pressemitteilungen ähneln sich frappierend:
- "Der Hype um NFT und wie du damit reich werden kannst" (Galileo vom 08.12.2021) vs. "Über Nacht Millionäre: Diese Gamestop-Zocker haben rechtzeitig verkauft und sind reich" (Focus vom 19.02.2021).
- "300.000 Euro für digitale Walbilder: Zwölfjähriger nimmt Kunstsammler aus" (Stern vom 28.08.2021) vs. "Kleiner Anleger mit großem Gewinn: Zehnjähriger profitiert vom GameStop-Hype" (Yahoo!Finanzen vom 29.01.2021).
Da die "Short Interest"-Quote nicht offiziell veröffentlicht wird, ranken sich hierum weiterhin die wildesten Spekulationen und Eigenberechnungen der WSB-Members, die sich unter anderem auf den Bericht der SEC beziehen. Hauptsächlich die Brains (bzw. "Autisten" gemäß eigener Bezeichnung) unter den Reddit-Usern stellen dabei sehr komplexe Berechnungen an, um eine möglichst belastbare Schätzung vorzunehmen, die allen "Autisten" unendlichen Reichtum – oder in den Worten der Community: einen "Gain Porn" – bescheren soll. Denn auch hier gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Liegt das Angebot in den "Diamantenhänden", wird es schwer für die Hedgefonds, die noch offenen Positionen zu schließen.
Billiges Zentralbankgeld als Nährboden für Blasen
Der weiterhin nahezu ungezügelte Zustrom an Liquidität in der Euro-Zone, aber auch in den USA, sorgt dafür, dass sich gefährliche Finanzblasen bilden. Davor warnen viele Ökonomen seit Jahren. Und dies betrifft eben nicht nur den Immobilienmarkt, sondern auch zahlreiche andere Bereiche wie etwa den Aktienmarkt oder den Kryptomarkt, der einen unglaublichen Zustrom an Liquidität erlebt hat. Die Corona-Delle vom März 2020 ist längst ausgemerzt und die großen Unternehmen schreiben Rekordgewinne – trotz Kurzarbeit und Lieferengpässen – , während die schwächelnden Unternehmen sich mittels Staatshilfen und billigen Krediten weiterhin über Wasser halten können. Doch ist ein solches Sterben auf Zeit von beispielsweise veralteten Geschäftsmodellen gut für eine Volkswirtschaft oder wäre ein Ende mit Schrecken nicht günstiger als ein Schrecken ohne Ende?
Der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, warnte Mitte letzten Jahres davor, dass eine Rezession infolge des Platzens einer Finanzmarktblase deutlich tiefer verläuft als ohne eine solche Blase. Solange sich die EZB nicht dafür entscheidet, den eingeschlagenen Kurs des ultralockeren Zentralbankgelds zu ändern, erhöht sie die latente Gefahr einer Finanzblasenbildung.
Interessant ist dabei, dass die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) herausgefunden hat, dass die Zyklen an den Finanzmärkten wesentlich träger sind als Konjunkturzyklen. So ist nach ihren Berechnungen ein Finanzzyklus mit 15 bis 20 Jahren zwei- bis dreimal so lang wie ein Konjunkturzyklus.
Risikomanagement = Risiko im Management
Risiko ist abstrakt. Es lässt sich weder wiegen noch physisch greifen, sondern ist ein subjektives Konstrukt, das sich je nach Unternehmen und Person unterscheiden kann. Ähnlich war und ist dies auch bei den GameStop-Entwicklungen. Was für den einen Anleger ein akzeptables oder gar niedriges Risiko ist, stellt für den anderen ein unverhältnismäßiges Spekulieren dar.
Die Aufgabe und der Mehrwert eines gut funktionierenden Risikomanagement-Systems besteht darin, die Risiken transparent darzustellen und systematisch in die Steuerungsprozesse zu integrieren. Die Entscheidung, wie hoch der individuelle Risikoappetit ist, obliegt dabei stets der Geschäftsführung! Die Geschäftsführung der geschlossenen Hedgefonds hatte einen zu großen Risikoappetit und wurde dafür von der WSB-Community bestraft. Die Frage ist dabei auch: Lässt sich ein (potenziell) unendliches Risiko – wie bei einem ungedeckten Leerverkauf (GameStop Short-Interest bei 120%) – überhaupt transparent darstellen oder in die eigenen Risikomodelle integrieren?
Die wichtigsten Elemente des Risikomanagements sind nicht wirklich neu. Sie wurden bereits von Managementpionieren und bekannten Philosophen geprägt, wie die folgenden Beispiele von John Maynard Keynes, Joseph Schumpeter und Sun Tzu zeigen!
Ode an John Maynard Keynes: In the long run, we are all dead!
Die einfache und wohl mit am häufigsten zitierte Plattitüde der Volkswirtschaftslehre geht auf Einwände an den Modellen des britischen Ökonomen John Maynard Keynes zurück, wonach seine Modelle zu kurz ausgerichtet seien. Sein Totschlagargument lautete dabei, dass wir langfristig gesehen "ohnehin alle tot" seien.
Bezogen auf das Risikomanagement ist dies als eine klare Absage an eine zu starke Modellierung zu werten. Vielmehr ist es wichtig, auch die Grenzen der Aussagekraft zu berücksichtigen und diese transparent darzustellen. Dies umfasst gleichzeitig auch eine regelmäßige Validierung und Kalibrierung. Denn wenn sich die Welt um die Unternehmen herum ändert, müssen sich auch die Prämissen und Modelle anpassen.
Speziell in der aktuellen VUCA-Welt mit einem hohen Maß an Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit kommt einer Resilienz eine hohe Bedeutung zu. Denken Sie nur an die Covid-Pandemie, Lieferengpässe in deren Folge, Chipmangel, aber auch neuen Bedrohungen wie Cyber-Risiken und transformatorische Risiken im Zuge der Nachhaltigkeits-Gesetzgebung. In der Diskussion, ob Atomstrom nun als nachhaltig einzustufen ist oder nicht, scheint nur eins klar zu sein: Das letzte Wort ist dabei noch nicht gesprochen! Diese Diskussion steht dabei nur stellvertretend für viele ähnlich gelagerte Fragen, die mittels der ESG-Taxonomien für den Finanzmarkt beantwortet werden (sollen).
Joseph Schumpeters schöpferische Zerstörung
Der Begriff der Disruption, der bei nahezu jeder technischen Innovation und von jedem Start-up verwendet wird, ist lediglich alter Wein in neuen Schläuchen. Denn bereits der Management-Vordenker Joseph Schumpeter prägte die Begriffe der "Innovation" und eben der "schöpferischen Zerstörung" vor gut hundert Jahren. Er war davon überzeugt, dass zuerst das Alte weichen muss, bevor sich das Neue ausbreiten kann.
Was sich einfach und plausibel anhört, ist allerdings im konkreten Sachverhalt nicht immer trennscharf zu unterscheiden. Vielfach zeigt es sich erst in der Retrospektive, wann es wirklich zu einer Disruption gekommen ist. Wohlgemerkt: Es sind nicht immer die First-Mover, die einen langfristigen Wettbewerbsvorteil haben. Google war nicht die erste Suchmaschine, Apple hat nicht mp3 erfunden, geschweige denn das Telefon und MySpace war lange vor Facebook in den sozialen Netzwerken aktiv und GameStop eben nicht der erste NFT-Marketplace.
Um im Hier und Jetzt zu bleiben: Ist der Hype um NFTs gerechtfertigt, da durch diese, auf der Blockchain-Technologie basierenden, Tokens erstmalig digitale Unikate möglich sind? Dies wäre ein absolutes Novum und käme einem Gamechanger gleich. Allerdings beantwortet dies noch lange nicht die Frage, ob ein Wert für ein digitales "Gemälde" von Beeple von 69 Mio. USD bzw. von Cryptokitties oder Cyberpunks von mehreren Millionen USD gerechtfertigt ist.
Doch auch hier gilt das alte volkswirtschaftliche Gesetz von Angebot und Nachfrage. Sonst ließe sich auch nicht erklären, warum ein physisches Gemälde auf einer Leinwand mit Ölfarbe, das von einem Pablo Picasso signiert ist, so viel mehr wert ist als ein nahezu identisches Duplikat, das keine solche Unterschrift/kein Echtheitszertifikat hat.
Sun Tzu als Verfechter von Stresstests?!
Der vielfach zitierte chinesische General und Philosoph Sun Tzu hätte wohl seine wahre Freude mit Stresstests gehabt. Denn er stellte etwa 500 v. Chr. in seinem Buch "Die Kunst des Krieges" fest:
"Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen."
Die Basis guter strategischer Entscheidungen, für die die Stresstests ein wichtiges Tool darstellen können, ist ein profundes Verständnis des eigenen Geschäfts, des Wettbewerbsumfelds und der (voraussichtlichen) zukünftigen Entwicklungen mit samt der Chancen und Gefahren.
Viele alteingesessene Unternehmen sind immer noch der Meinung, dass ihr Geschäftsmodell in den nächsten Jahrzehnten gleichbleiben muss und sich die Änderungen nur an der Oberfläche, zum Beispiel in Form einer ansprechenden Homepage, abspielen. Dies ist allerdings ein gewaltiger Trugschluss. Dies Digitalisierung wirkt sich als Katalysator für neue Geschäftsmodelle aus! GameStop will unter der Führung von Ryan Cohen die digitale Transformation weg vom Brick-and-Mortar-Geschäftsmodell hin zu NFTs und dem "Amazon des Gamings" schaffen.
Dies bedeutet aber auch, dass neue Wettbewerber dazukommen. Versuchen Sie deshalb, aus dem Blickwinkel eines möglichen neuen Wettbewerbers radikal neu zu denken – kurzum: eine disruptive Transformation Ihres Marktes hervorzurufen!
Neben neuen Technologien kann auch der Einstieg von branchenfremden Playern zu einem "Gamechanger" werden. Was wäre beispielsweise, wenn Amazon oder Apple in das Bankenumfeld einsteigen? Bräuchte der Kunde dann noch eine Hausbank oder gilt dann das alte Bill Gates-Zitat "Banking is essential, banks are not"? Was passiert, wenn Facebook mit seiner Digitalwährung Diem durchstartet oder wenn Alibaba und Tencent/Whatsapp auch den europäischen Markt erschließen? Oder wenn der E-Yuan im Zuge der olympischen Spiele und der neuen Seidenstraße zum Exportschlager wird?
Autoren:
Dr. Christian Glaser ist promovierter Risikomanager und als Generalbevollmächtigter der Würth Leasing GmbH & Co. KG tätig. Er ist außerdem Dozent an mehreren Hochschulen und Buchautor mehrerer Fachbücher sowie zahlreicher Fachveröffentlichungen in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Unternehmensführung und Management, Controlling sowie Risikomanagement.
Max Meußer ist Student an der Hochschule der Deutschen Bundesbank und verfolgt seit über zwei Jahren die Aktivitäten im Zusammenhang mit WallStreetBets und Gamestop.
Hinweis: Die Ausführungen spiegeln die persönliche Meinung der Autoren wieder und nicht notwendigerweise die der Deutschen Bundesbank
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