Die Bankenunion nimmt Formen an, mit Anfang November werden europäische Geldinstitute unter strenge, aber faire Aufsicht genommen – ohne Rücksicht auf nationalen Einfluss und Interessen.
In wenigen Wochen beginnt in Europa – als Teil der Schaffung der Bankenunion – eine neue Ära in der Bankenaufsicht: Am 4. November übernimmt dieEuropäische Zentralbank (EZB) die direkte Aufsicht über die 120 größten Bankengruppen im Euroraum, auf die mehr als 85 Prozent des Bankvermögens im Eurogebiet entfallen. Hinzu kommt die indirekte Beaufsichtigung von rund 3400 kleineren Instituten. Im Rahmen des einheitlichen Aufsichtsmechanismus arbeiten wir mit den nationalen Aufsichtsbehörden zusammen. Unser gemeinsames Ziel ist es, das Vertrauen der Bürger und Märkte in die Widerstandskraft der von uns beaufsichtigten Banken zu stärken.
Zudem möchten wir dazu beitragen, dass der Finanzsektor seine wichtigste Aufgabe erfüllen kann, die er in einer modernen Gesellschaft hat: die Realwirtschaft zu finanzieren, Wachstum zu finanzieren und letztendlich die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu fördern. Nur stabile Banken, die das Vertrauen der Menschen und Märkte genießen, können diese Aufgabe adäquat erfüllen.
Wir bei der EZB wissen, dass wir dieses Vertrauen nur stärken können, wenn jeder versteht, wie wir arbeiten und worauf wir uns dabei stützen. Deshalb haben wir einen Leitfaden veröffentlicht, der die Grundsätze und Verfahren für die Bankenaufsicht ausführlich beschreibt.
Ich selbst kann Ihnen versprechen, dass unsere Aufsicht streng, aber fair sein wird. Wir werden auch nicht davor zurückschrecken, uns einzumischen, wenn wir es für notwendig halten. Sie können eine wahrhaft europaweite Aufsicht erwarten, die frei von etwaigen nationalen Vorlieben oder Vorurteilen ist. Diesen Geist werden wir auf allen Ebenen unserer Organisation "leben", vor allem aber im Kern des einheitlichen Aufsichtsmechanismus - den gemeinsamen Aufsichtsteams (Joint Supervisory Teams - JSTs).
Diese Teams sind für die laufende Aufsicht über die Banken zuständig. Jedes JST wird von einem Koordinator aus der EZB geleitet, der grundsätzlich nicht aus dem Land kommen darf, in dem das betreffende Institut seinen Sitz hat. So erhält die Crédit Agricole beispielsweise einen deutschen Chefaufseher, die Unicredit einen französischen und die ABN Amro einen spanischen. Das soll dazu beitragen, Probleme aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und nationale Voreingenommenheit zu vermeiden.
Zusammen vereinen die JSTs Personal und Kompetenz sowohl der nationalen Bankenaufsichten - der sogenannten nationalen zuständigen Behörden (National Competent Authorities – NCAs) – als auch der EZB. Sie nutzen also die Erfahrung aller 18, bald sogar 19 Länder des Euroraums. Im Laufe der Zeit werden die JST-Mitglieder rotieren. Auch dies wird helfen sicherzustellen, dass wir alle Banken gleich behandeln und Erfahrungen aus allen Mitgliedsländern miteinander teilen.
Unabhängige Prüfungsteams, sogenannte Vor-Ort-Prüfungsteams, unterstützen die JSTs mit detaillierten Informationen, die sie direkt bei den Niederlassungen und Zweigstellen einer Bank sammeln. Die EZB wird außerdem einen Meldemechanismus einrichten, um Personen, die von möglichen Verstößen einzelner Banken gegen einschlägiges EU-Recht Kenntnis erlangen, zu ermutigen und in die Lage zu versetzen, derartige Verstöße der EZB zu melden. Solche Meldungen sind ein wirksames Instrument, um Fälle von geschäftlichem Fehlverhalten ans Licht zu bringen.
Unsere Fachleute für Durchsetzung und Sanktionen werden - unter Wahrung von Transparenz bei der Untersuchung und Entscheidungsfindung - mutmaßlichen Rechtsverletzungen von Banken nachgehen, die ein JST bei der täglichen Aufsicht feststellt. Dies gilt gleichermaßen für Verstöße gegen unmittelbar geltendes EU-Recht oder nationale Rechtsvorschriften zur Umsetzung von EU-Richtlinien wie auch für Verstöße gegen Verordnungen und Beschlüsse der EZB. Stellt sich heraus, dass aufsichtsrechtliche Vorschriften verletzt wurden und ein Kreditinstitut oder seine Leitung zu bestrafen ist, können wir Verwaltungssanktionen gegen die betreffende Bank verhängen - in der Höhe von bis zu zehn Prozent ihres Gesamtumsatzes im vorangegangenen Geschäftsjahr.
Einheitliches Regelwerk
Die NCAs aller am SSM teilnehmenden Mitgliedstaaten sind mit Sitz und Stimme im Aufsichtsgremium vertreten, und jede Stimme hat das gleiche Gewicht. Auch dies stellt sicher, dass alle Banken im System gleichbehandelt werden - nach einem einheitlichen Regelwerk und ohne nationale Voreingenommenheit. Im Gegenzug dafür, dass sie nun Teil eines europaweiten Aufsichtssystems sind, können die nationalen Aufsichtsbehörden also künftig die Beaufsichtigung von Banken in anderen Ländern beeinflussen und zur Entscheidungsfindung im EZB-Rat beitragen. Wichtiger noch: Sie gewinnen Einblick in Entwicklungen und Trends, die sich bei Banken anderer Ländern abzeichnen, bevor diese möglicherweise ihren Heimatmarkt erreichen. Wir haben in Frankfurt Teams, die sich ausschließlich mit der Analyse solcher Querschnittsdaten befassen, die wir für ein Frühwarnsystem nutzen.
Dies ist ein Vorteil, der bereits jetzt zum Tragen kommt: In der umfassenden Bewertung – der Bilanzprüfung und dem Stresstest, die wir in Vorbereitung auf den 4. November durchführen – gewinnen wir Einblick in grenzüberschreitende Trends innerhalb des gesamten europäischen Bankensystems. Für eine einzelne nationale Aufsichtsbehörde, die naturgemäß einen wesentlich eingeschränkteren Datensatz im Auge behält, wären diese Trends viel schwerer zu erkennen.
Mehrere Länder, die nicht dem Euro angehören, haben bereits angedeutet, dass sie erwägen, ihre Banken ebenfalls unter die Aufsicht der EZB zu stellen. Die SSM-Verordnung sieht diese Möglichkeit ausdrücklich vor. Dies ist ein Beleg dafür, dass wir bereits dabei sind, das Vertrauen der Akteure in ganz Europa zu gewinnen.
Ob ich versprechen kann, dass die EZB das Risiko einer neuerlichen Finanzkrise ein für alle Mal beseitigen kann? Leider nicht. Aber ich bin der festen Meinung, dass es nie zuvor eine europäische Institution gab, die besser gerüstet war, dieses Risiko zu minimieren. Der einheitliche Aufsichtsmechanismus bildet als Teil der EZB eine starke und unabhängige Kraft im Zentrum des europäischen Bankensystems. Und wenn ich sehe, wie Aufseher aus 28 Ländern gemeinsam die Organisation aufbauen, bestärkt mich das in meiner Überzeugung, dass wir etwas Historisches schaffen – etwas, das Europa zu einem besseren Ort macht, um Geschäfte zu tätigen und Erfolg zu haben.
Autorin:
Danièle Nouy (Jahrgang 1950) war Mitarbeiterin der Banque de France und Präsidentin des Ausschusses der Europäischen Aufsichtsbehörden für das Bankwesen. Seit dem 1. Januar 2014 leitet sie den neugeschaffenen Einheitlichen Bankenaufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism, SSM) am Sitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Sie hat ein Studium in Politikwissenschaften und öffentliche Verwaltung am Institut d’Etudes Politiques in Paris abgeschlossen.
[Quelle: Danièle Nouy in DER STANDARD vom 30.9.2014, Quelle Bild Danièle Nouy: European Central Bank]