Ein Blick auf die Eurozone präsentiert uns einen von Jahr zu Jahr immer größer werdenden Scherbenhaufen. Seit Jahren stolpert die Eurozone von Krise zu Krise und übt sich in einem reaktiven und immer kurzfristigeren Krisenmanagement. Während die Wettbewerbsfähigkeit des Südens Europas am Boden liegt, findet sich der Norden in einer Rettungs- und Verschuldungsspirale wieder, der er nicht mehr leicht entkommen kann. Analysiert man die eigentlich Ursachen, so kann festgestellt werden, dass Europa in den vergangenen Jahren politische Reformen gescheut hat und sich eher durch die Krisen der vergangenen Jahren "durchgewurstelt" hat.
Unternehmenslenker weisen seit Jahren immer wieder darauf hin, dass vor allem die Unsicherheit über den politischen Weg und das Wachstum in Europa Investitionen verhindere. Statt zunächst strukturelle Probleme zu eliminieren, verfolgt Europa den riskanteren Weg einer expansiven Geldpolitik.
Das Fazit hieraus ist offensichtlich: Europa benötigt Strategie – analog zu einem Unternehmen. Zufall ist keine Strategie! Bereits der römische Philosoph und Universalgelehrte Seneca wusste, dass kein Wind der richtige ist, wenn man den Hafen nicht kennt, in den man segeln will.
Die Autoren weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dass die seit sechs Jahren andauernde Krise fundamentaler ist, als alle bisherigen Krisen der EU. Immer heftiger werden die Reibereien und Misstöne zwischen den Mitgliedsstaaten. Immer größer wird die politische Distanz zu einzelnen Ländern. Und immer stärker werden die gesamtwirtschaftlichen Divergenzen innerhalb des gemeinsamen Währungsraums, der Eurozone. "Besonders schwer wiegt dabei, dass den Ländern Europas ein klares Ziel und der Wille fehlen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, die Probleme von heute anzupacken und gemeinsam zu lösen", so die Autoren. Von einer Aufbruchstimmung ist in Europa immer weniger zu spüren. Ganz zu schweigen von echter politischer Führungsstärke, die zumindest eine klare Richtung vorgeben würde.
In diesem Vakuum muss sich Europa neu erfinden. Erforderlich ist ein Geschäftsmodell, das mit einem zukunftsfesten Rahmen über die aktuelle Krise hinaus Wachstum schafft und Wohlstand sichert. Die Forderung der Autoren: "Wenn wir auch morgen und übermorgen in Wohlstand leben wollen, müssen wir im Hier und Jetzt verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen. Heute stellen wir die Weichen, die die Optionen und unseren Handlungsspielraum von morgen bestimmen."
Das Buch hat sich dabei vor allem auch zum Ziel gesetzt, die Chancen aufzuzeigen, um die Blockade Europas aufzulösen. In diesem Kontext unterscheidet sich das Buch von der Masse der Publikationen, die sich im Wesentlichen auf eine Zustandsbeschreibung Europas konzentrieren und nicht selten vor allem Angst und Unsicherheit schüren. Das Buch von Luc Frieden (Deutsche Bank), Nicolaus Heinen (Linde AG) und Stephan Leithner (vormals Mitglied des Vorstands der Deutschen Bank) liefert daher vor allem konkrete Lösungsansätze, die über tagespolitische Einfälle hinausgehen. Die Autoren präsentieren mit ihrem Buch eine konkrete Strategie, ein Geschäftsmodell, mit dem Europa wieder zukunftsfähig werden kann. Den Begriff Geschäftsmodell haben die Autoren bewusst gewählt, um zu verdeutlichen, dass neben Frieden und Freiheit, auch andere Ziele zum Selbstverständnis europäischer Integration zählen: Wachstum und breiter Wohlstand.
Rückblickend haben die Autoren vier Stufen der Integration identifiziert (vgl. Seite 12 ff.):
- Europa 1.0: Das Friedensprojekt. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die erste Stufe der europäischen Integration. Angetrieben von den Einigungsbemühungen der kriegsgezeichneten Gesellschaften unseres Kontinents entstanden erste Initiativen des zwischenstaatlichen Dialogs - und mit dem Europarat eine erste gemeinsame Institution. Zwar scheiterten Initiativen für eine gemeinsame Verteidigungspolitik trotz der steigenden Bedrohung aus dem Osten. Doch zugleich einigten sich sechs Länder (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande) Anfang der 1950er Jahre darauf, ihre Kohle- und Stahlindustrien im Rahmen der sogenannten Montanunion unter eine gemeinsame Aufsicht zu stellen. Dies wiederum legte die Grundlage für die nächste Stufe.
- Europa 2.0: Wirtschaftliche und politische Integration. Die Montanunion war zunächst eine Präferenzzone für Kohle und Stahl. Ihr Erfolg war so groß, dass 1957 im Rahmen der Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde, die eine Freihandelszone für alle Güter vorsah. 1968 wurde diese zur Zollunion mit gemeinsamen Außenzoll, und schließlich im Jahr 1993 mit dem Vertrag von Maastricht zum Gemeinsamen Markt mit allen vier Marktfreiheiten für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen ausgebaut. Gemeinsame Institutionen – die Kommission als Exekutive, Ministerrat und Europäisches Parlament als Legislative und gemeinsame Gerichtshöfe als Judikative – begleiteten die wirtschaftliche Integration. Freilich gab es dabei auch Hindernisse – etwa die große Blockade im Ministerrat Mitte der Sechzigerjahre, als Frankreich sich gegen die Einführung des Mehrheitsprinzips bei Abstimmungen sperrte (Politik des leeren Stuhls) oder die Stagnation bei der wirtschaftlichen Integration in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren (Eurosklerose). Doch auch diese Rückschläge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wohlstand durch zunehmenden Handel und Austausch insgesamt stetig wuchs.
- Europa 3.0: Erweiterung. Der Erfolg von Europa als Friedensprojekt und Wirtschaftsgemeinschaft führte dazu, dass immer mehr Länder Mitglieder des Clubs werden wollten. Sukzessiv vergrößerte sich die Gemeinschaft von ursprünglich sechs auf heute 28 Staaten. Die größte Erweiterungsrunde war die EU-Osterweiterung um insgesamt zehn Staaten im Mai 2004 – eine logische Folge der überwundenen Teilung Europas. All dies hat den Einflussbereich der heutigen EU stark erweitert und die Vielfalt im Wirtschaftsraum weiter erhöht.
- Europa 4.0: Gemeinsame Währung. Den bislang letzten großen Schritt brachte die Einführung des Euro im Jahr 1999. Die gemeinsame Währung war zunächst durchaus ein großer Erfolg – auch wenn aus heutiger Sicht das institutionelle Rahmenwerk alles andere als geeignet war. Spätestens die Eurokrise hat jedoch die Grenzen der europäischen Währungsunion aufgezeigt.
Diese vier Generationen europäischer Integration zeigen, dass große Schritte möglich sind – auch wenn Erfolg und Misserfolg, Fortschritt und Scheitern oft eng beieinanderlagen und der große Wurf nicht selten überhaupt erst durch eine vorangegangene Krise möglich wurde, so ein Zwischenfazit der Autoren. Entscheidend für diese großen Schritte war – nach Ansicht der Autoren – vor allem dreierlei: Der Wille, sich mit den Fehlentwicklungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen und aus ihnen zu lernen, die Fähigkeit, sich auf neue Rahmenbedingungen einzustellen, und nicht zuletzt ein langer Atem, um Differenzen zu überwinden und gemeinsam voranzuschreiten. Ebendies brauchen wir Europäer auch heute, so die Forderung im Buch.
Das Buch beschäftigt sich insbesondere mit der Frage, welche Alternativen Europa bleiben, um die aktuellen Blockaden zu lösen und das Versprechen von Wachstum und Wohlstand neu zu beleben? Die Autoren vermuten, dass die Lösung möglicherweise näher liegt, als viele vermuten. Der Schlüssel liegt ihrer Ansicht nach weniger in einem neuen Vertragswerk als in einer besseren Nutzung des bestehenden institutionellen Rahmens Europas: "Gelingt es den Mitgliedstaaten, ihn mit klugen Reformen, vertiefter Zusammenarbeit und gemeinsamem globalen Handeln auszufüllen, kann Europa wieder auf den Pfad des Erfolges zurückfinden und zur Vorteilsgemeinschaft von einst werden."
Der Vorschlag für ein tragfähiges und global wettbewerbsfähiges Geschäftsmodell soll Europa wieder neu auf die Kerninhalte ausrichten, die Raum für gemeinsames und langfristiges Wachstum geben. Mit frischen und zielführenden Ideen in der Wirtschaftspolitik, die die richtigen Prioritäten für ein besseres Umfeld für Investitionen setzen, die klugen Köpfe Europas aktivieren und damit helfen, Europa insgesamt wettbewerbsfähiger zu machen. Mit Unternehmen, die das Potenzial des gemeinsamen europäischen Marktes besser nutzen als in der Vergangenheit und grenzüberschreitend ihre Kräfte bündeln, um im globalen Wettbewerb dauerhaft vorne dabei zu sein und die weltweite Wachstumsdynamik nach Europa zu holen. Und mit Initiativen, die die Bürger dabei unterstützen, eigenständig Vermögen aufzubauen und damit langfristig ihren Wohlstand trotz demografischer Herausforderungen zu sichern.
Europa 5.0 – das skizzierte Geschäftsmodell – ist dabei kein Krisenbewältigungsansatz, sondern eine visionäre Strategie, die Europa aus der müden Ecke der Resignation holen und den europäischen Kontinent wieder zu einem führenden Spieler im globalen Wettbewerb macht. Entscheidend ist hierbei vor allem die strategische Antwort auf die Herausforderungen, die sich bereits heute am Horizont abzeichnen. Die neuen Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft, die Digitalisierung und der demografische Wandel sind nur ein paar wenige Stichworte in diesem Kontext.
Wettbewerbsorientierte Rahmenbedingungen, die Investitionen fördern, grenzüberschreitende Zusammenarbeit europäischer Unternehmen und Vermögensbildung der breiten Bevölkerung sind die Bausteine, die das noch ungenutzte Entwicklungspotenzial Europas heben und beleben können. Neue Offenheit im Handeln soll helfen, Chancen zu nutzen und neue Möglichkeiten zu erschließen, um so letztlich zu wachsen und den Wohlstand zu vergrößern. Damit dies gelingen kann, braucht Europa klare Entscheidungen und entschlossenes Handeln.
Das Buch liefert nicht nur einen klaren Beweis, dass Europa mehr sein kann als die Eurokrise. "Europa 5.0" liefert in sieben Kapiteln wertvolle und wichtige Impulse für eine stärkere europäische Integration und damit vor allem einen wichtigen Diskussionsbeitrag. Das Spektrum der Themen erstreckt sich dabei von einer Digitalisierungsstrategie, Industrie 4.0, Forschungskooperation, Investitionsfinanzierung, stärkere Märkte für Risikokapital bis hin zu einer gemeinsamen Außenhandelspolitik.
Die Publikation hebt sich positiv vom herkömmlichen EU-Krisen-Ich-hab-es-ja-immer-gewusst-Einerlei und Rückspiegelblick ab und blickt strategisch nach vorne. Und das ist richtig. Empirisch betrachtet werden rund 50 bis 60 Prozent der Unternehmenswerte durch strategische Risiken zerstört. Der Erfolg eines Unternehmens hängt maßgeblich davon ab, dass die "richtigen" Risiken eingegangen werden. Risiken zu managen heißt vor allem, die richtigen Strategien zu entwickeln. Dies gilt nicht nur für Unternehmen, sondern auch für die Politik und eben auch für Europa.