Industrie 4.0 ist in aller Munde. Land auf, Land ab, befeuern Wirtschaftsvertreter, Lobbygruppen und Politiker das Thema. Der Grundtenor: Wer nicht mitmacht bei der großen Digitalisierung hat verloren. Anpassen, Nacharbeiten und Wissen aufbauen heißt die Devise. Auf der anderen Seite fehlt vielfach die notwendige Trennschärfe unserer "4.0-Welt". Und die müsste zunächst gezogen werden. Wer mehr Knowhow und Wissen einfordert und postuliert ist nicht zwangsläufig Experte. Mit anderen Worten: Wo 4.0 draufsteht ist nicht zwangsläufig 4.0 drin. Im Umkehrschluss stellt sich die Frage: Welche Risiken und Chancen bestehen bei all den Digitalversprechungen? Die Redaktion von RiskNET sprach mit dem Risikomanagementexperten Uwe Rühl, Geschäftsführer der Rühlconsulting-Gruppe.
Wo fängt Ihrer Meinung nach Industrie 4.0 an und wo befinden wir uns in der analogen Unternehmenswelt?
Uwe Rühl: Die Frage ist gut. Industrie 4.0 oder Digitalisierung fängt dort an, wo Produktionsabläufe vernetzt werden, sprich im Neudeutsch "smart" werden. Dies kann beispielsweise damit beginnen, dass ein bisher "analoger" Gabelstapler durch Sensoren zu einem smarten, durch IT steuerbaren und planbaren "Device" wird. Industrie 4.0 kann dabei weit weniger spektakulär sein, als mein landläufig meint. Sensoren, Aktoren nutzen, die Daten verbinden und damit Abläufe und Prozesse steuern. Die analoge Welt setzt hierbei noch stark auf Medienbrüche und Laufzettel, die anschließend erfasst oder gescannt werden müssen.
Welche Chancen und Vorteile verspricht die sogenannte vierte industrielle Revolution?
Uwe Rühl: Sie verspricht eine bessere Datenbasis und Datenqualität. Zudem lassen sich Abläufe durch Messung und Analyse transparenter und nachvollziehbarer und damit optimierter für Organisationen gestalten. Bei all diesen Verbesserungspotenzialen darf man die Nachteile der Transparenz in puncto Arbeitsrecht oder dem Mitarbeiterdatenschutz nicht vergessen.
Und welche Risiken und Nachteile bringt die Industrie 4.0 konkret für die Arbeitswelt und vor allem den Mitarbeiter mit sich?
Uwe Rühl: Das Arbeitsverhalten wird mithilfe von Analysetools immer transparenter und damit auch der Mensch. Fragen danach, wie lange ein Mitarbeiter für eine Tätigkeit braucht oder wie lange andere Mitarbeiter im Schnitt brauchen, erhöht den Druck für jeden Einzelnen. Die Leistungsspirale könnte sich immer schneller drehen und die Leistungskontrolle der Mitarbeiter um viele Daten reicher werden. Auf der anderen Seiten droht, dass dadurch der Mitarbeiterschutz in Bezug auf arbeitsrechtliche Belange ärmer werden könnte. Gleiches gilt auch für den Bereich der Datenschutzrichtlinien sensibler Mitarbeiterdaten. Der gläserne Mitarbeiter mag für die Chefetage verlockend klingen. Für Arbeitsrechtler, Gewerkschaften und den Mitarbeiter selbst sind diese Aussichten alles andere als verlockend. Hier entsteht es aus meiner Sicht immer stärkerer Handlungsbedarf. Manche Experten sehen gar, dass ganze Berufssparten verschwinden könnten, vor allem im Dienstleistungsumfeld.
Welche negativen Folgen sehen Sie darüber hinaus?
Uwe Rühl: Mir fällt in diesem Zusammenhang vor allem die vernetzte Prozesswelt ein, die anfälliger gegen Cyberattacken oder Spionage wird. Hinzu kommen mögliche Ausfälle der Internetkommunikation, was schwerwiegende Folgen für die komplette Geschäftswelt hätte, denn unsere globale und eng vernetzte Arbeitswelt ist zwingend auf funktionierende Internetprozesse angewiesen. Zudem könnte es zu stärkeren Widerständen gegen eine umfassende Vernetzung kommen.
Wie können Unternehmen wirkliche Experten im Bereich Industrie 4.0 erkennen?
Uwe Rühl: Entscheidend ist nicht die Lautstärke der Protagonisten, sondern die Qualität. Unternehmen sollten die Frage stellen, welche Reputation Experten haben. Gibt es nachweisbare Erfahrungen und existieren konkrete Projekterfolge aus der Praxis.
Es wird viel über neues Wissen im Umgang mit Industrie 4.0 gesprochen. Was ist hierzu der Status quo? Wo finden Unternehmen den gesuchten Wissenstransfer und welche Inhalte müssen zwingend auf der Lernagenda stehen?
Uwe Rühl: Ich glaube es geht darum, Berührungsängste vor den großen Themen Digitalisierung, Industrie 4.0 und Big Data abzubauen. Unternehmen sollten erkennen, was heute schon mit einfachen Mitteln möglich ist. Und welche Effekte damit erzielt werden können. Es geht vor allem darum, klein anzufangen, auszuprobieren und sich dann an weitere Themen im Unternehmen wagen. Und darüber hinaus bleibt das Knowhow eine wichtige Schlüsselfunktion. Wo es nicht vorhanden ist, muss es auf- und ausgebaut werden. Die Felder im Digitalisierungsberiech sind sehr weitläufig und gehen reichen von Sicherheitsanforderungen über Risiko- und Continuity-Themen bis zu Compliance und dem Nutzen von Datenanalysen in Prozessen und Projekten.
Die Transferleistung bei der Industrie 4.0 bedeutet für Unternehmen von der linearen in die vernetzte Welt zu gelangen und zwar beim Denken und Handeln. Wie können Firmen diesen Spagat schaffen und welches Wissen ist hierzu erforderlich?
Uwe Rühl: Hier entscheidet eben das vernetze Denken. Es geht darum, über den Tellerrand zu schauen. Häufig steht in Unternehmen die Vorstellungskraft im Weg, Industrie 4.0 anzuwenden. Darüber hinaus gibt es aber auch technische Fragen. Hierzu gehört, welche Protokolle zur Anwendung kommen? Oder Fragen zur IT-Architektur, zum Outsourcing, Cloud-Computing und den Risiken. Erst wenn diese Themen verstanden werden, kann man vernünftig entscheiden, wie und wohin die Reise in puncto Industrie 4.0 erfolgt.
Der sogenannte Faktor Mensch ist immer noch der zentrale Schlüssel für den Erfolg oder Misserfolg von allen geschäftlichen Handlungen. Wie beurteilen Sie das mit Blick auf die zukünftige 4.0-Welt?
Uwe Rühl: Der Mensch wird weiter eine steuernde und optimierende Rolle spielen. Und diese ist dringend erforderlich. Geschäftsmodelle werden vielleicht komplett überholt, manche sogar obsolet. Wichtig ist, dass der Mensch reaktions- und veränderungsfähig bleibt.
Welchen Mehrwert können externe Beratungsfirmen an der Nahtstelle zwischen Organisation und der digitalen Außenwelt leisten?
Uwe Rühl: Externe Berater bringen Erfahrungswerte ein und stellen diese den Unternehmen zur Verfügung. Dabei geht es nicht um das ungeprüfte übertragen von Lerneffekten, die woanders erzielt wurden. Aber es geht darum, den Blick zu schärfen und manchmal bewusst zu lenken. Und dabei die Sicherheits- und Risikothemen zu adressieren und zu bewerten. Denn am Ende geht es darum, dass das Wissen ebenfalls in den Modus 4.0 gehoben wird.
Uwe Rühl ist Geschäftsführer der Rühlconsulting-Gruppe. Rühlconsulting ist mit ihren Tochterunternehmen Rucon Management und Rucon Service ein Beratungs-, Trainings- und Auditspezialist für Risikomanagement, Informationssicherheitsmanagement sowie Business Continuity Management (BCM). Im Mittelpunkt stehen die branchenübergreifende Arbeit und die Verzahnung von Integrierten Managementsystemen (IMS) zu nachhaltigen und wertsteigernden Sicherheitskonzepten und -lösungen. Das Ziel: nachhaltige, sichere sowie an Normen und Standards orientierte Arbeitsabläufe und Prozesse für Unternehmen jeder Größe, branchenübergreifend. Weitere Informationen unter: www.ruehlconsulting.de