Hätten die Marktteilnehmer in den vergangenen Jahren auf den Mathematiker Benoît B. Mandelbrot gehört, dann wären sie von den turbulenten Ereignissen nicht besonders überrascht gewesen und hätten sich hoffentlich präventiv vorbereitet. Der in Polen geborene, in den USA forschende und in Frankreich lebende Wissenschaftler hatte das Thema lange vor den jüngsten Marktturbulenzen auf den Punkt gebracht: Wenn ein Seefahrer ein Schiff baut, interessiert ihn nicht, wann genau der nächste Sturm kommt. Er baut das Schiff so, dass es jeden denkbaren Sturm überlebt. Die Finanzmarktakteure haben sich so verhalten, als gäbe es nur Sonnentage.
Mandelbrot setze sich auch kritisch mit dem beliebten Risikomaß auseinander: "Dass ich nicht lache. Der Value at Risk soll das potenzielle Risiko anzeigen? […] Wenn Sie sich anschauen, wie das Risiko von verschiedenen Finanzprodukten gemessen wird, stellen Sie fest, dass fast alles unter der Annahme der Normalverteilung beurteilt wird. Deshalb wird das Risiko systematisch unterschätzt. Ich hoffe, dass meine Theorie der Fraktale eines Tages so leicht anwendbar sein wird wie die Normalverteilung. Dann werden Sie sehen, dass das Risiko in Wahrheit viel größer ist."
Vater des Apfelmännchen
Bekannt geworden ist Benoît B. Mandelbrot (Foto) als Vater des Apfelmännchens, jenes Fraktal, das in der Chaostheorie eine bedeutende Rolle spielt. Die Mandelbrot-Menge M ist die Menge aller komplexen Zahlen c, für die die rekursiv definierte Folge komplexer Zahlen z0, z1, z2, ... mit dem Bildungsgesetz zn+1 := zn2 + c und der Anfangsbedingung z0 := 0 beschränkt bleibt, das heißt, der Betrag der Folgenglieder wächst nicht über alle Grenzen. Niemand hätte dieser Erkenntnis eine große Bedeutung beigemessen, wenn nicht der ästhetische Reiz der korrespondierenden Computergrafik – eben in der Form des Apfelmännchens – wäre. Basierend auf komplexen Formeln produzierte Mandelbrot Schneeflocken und Brokkoli auf den Computerbildschirm. Doch was genau ist ein Fraktal? Fraktale basieren auf der Selbstähnlichkeit in der Natur. Jedes Detail eines Blumenkohls sieht unter dem Mikroskop exakt so aus wie der gesamte Blumenkohl.
Nicht nur für Benoît B. Mandelbrot ist die Mandelbrot-Menge das formenreichste geometrische Gebilde, das überhaupt bekannt ist. Bereits im Jahr 1980 wurde die Mandelbrot-Menge erstmals von Mandelbrot computergrafisch dargestellt. Die mathematischen Grundlagen sind um eine vielfaches älter und reichen zurück bis in das Jahr 1905, als der französische Mathematiker Pierre Fatou sich intensiv mit der Untersuchung von komplexen dynamischen Systemen beschäftigte.
Mandelbrot verstirbt am 14. Oktober 2010
Im Jahr 1924 erblickte Mandelbrot in Warschau das Licht der Welt. Die Schule in Warschau soll er nur sehr unregelmäßig besucht haben. Während der Zeit des Nationalsozialismus musste er mit seiner jüdischen Familie nach Paris fliehen. Die Aufnahmeprüfung zur École Polytechnique in Paris im Jahr 1944 meisterte er mit Bravour. "Das Problem, das wir als Aufgabe erhielten, ließ sich ganz einfach lösen, wenn man es nicht in kartesischen, sondern in sphärischen Koordinaten fasste. Aber ich war der einzige Kandidat in ganz Frankreich, der das damals gesehen hat.", so Mandelbrot in einem Interview. Karriere machte er jedoch nicht an der Universität, sondern beim Computerkonzern IBM. Im Jahr 1958 startete er im Forschungszentrum der IBM, dem IBM Thomas J. Watson Research Center in Yorktown Heights, und wurde im Jahr 1974 zum IBM Fellow gekürt. Seit dem Jahr 1993 ist er IBM Fellow Emeritus. Seit 1961 wurden nur 218 Mitarbeiter zum "IBM Fellow" ernannt. "Bei IBM konnte ich arbeiten wie ein Dichter im Garten.", so Mandelbrot. Am 14. Oktober 2010 verstarb der Vater des Apfelmännchens und der fraktalen Geometrie im Alter von 85 Jahren in Cambrige/Massachusetts.
Messung von Risiken in Systemen
Die von ihm entwickelte Fraktale Geometrie bietet die Möglichkeit, das Verhalten von Preisen, ihre Ausschläge zu messen über das, was Mandelbrot Rauheit nennt. Man kann mit diesem Konzept eine große Menge komplizierter, uneinheitlicher Daten in wenigen Zahlen ausdrücken. Dieses Konzept wird heute bereits eingesetzt, um Hirnwellen zu analysieren, Daten zu komprimieren oder Turbulenzen in der Hydrologie oder der Meteorologie zu messen, so Mandelbrot. Rauheit ist ein Maß für Turbulenzen, und Turbulenzen sind ein Hinweis auf die Höhe des Risikos eines Systems.
Und vor allem die Risikomanager können von Mandelbrot eine Menge lernen. "Mehr als ein Jahrhundert haben Finanziers und Wirtschaftswissenschaftler sich darum bemüht, das Risiko der Kapitalmärkte zu analysieren, es zu erklären, zu quantifizieren und letzlich davon zu profitieren." Mandelbrot ist davon überzeugt, dass die meisten Theoretiker den falschen Weg beschritten haben. Die Risiken für finanziellen Ruin in einer freien globalen Marktwirtschaft sind – so sein Einschätzung – grob unterschätzt worden. "Mein ganzes Leben war eine Risikostudie.", so Mandelbrot. "Auf die eine oder andere Weise kreuzte meine wissenschaftliche Forschungsarbeit stets zwischen den beiden Polen menschlicher Existenz: den deterministischen Systemen der Ordnung und der Planung einerseits und den stochastischen oder zufallsbestimmten Systemen der Unregelmäßigkeit und Unvorhersehbarkeit andererseits.
Vehementer Kritiker der "modernen" Finanzmarkttheorie
Mandelbrot ist seit vielen Jahrzehnten ein vehementer Kritiker der "modernen" Finanzmarkttheorie sowie "moderner" Methoden des Risikomanagements. Er spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer "falschen Wissenschaft". Mandelbrot weist immer wieder darauf hin, dass an den Märkten die extremen Ereignisse über Gewinn und Verlust entscheiden, nicht die "normalen" Kursschwankungen. Daher setzt Mandelbrot seine Theorie der Fraktale gegen die "moderne" Finanzmarkttheorie – mit bisher eher verhaltenem Erfolg.
"Der Aktiencrash vom 19. Oktober 1987 hätte nie passieren dürfen.", so Mandelbrot. Basierend auf einer auf einer Normalverteilung basierenden Berechnung lag die Wahrscheinlichkeit für einen Tagesverlust im Dow Jones in Höhe von knapp 30 Prozent bei 1 zu 1050 (10 hoch 50) – eine Eins mit 50 Nullen. Und hier irrt die – auf Normalverteilungen basierende – moderne Finanzmarkttheorie: Die meisten Kursveränderungen sind klein, nur ganz wenige sind sehr groß, und je größer sie werden, um so unwahrscheinlicher werden sie.
In seinem Buch "The (Mis)behavior of Markets: A Fractal View of Risk, Ruin and Reward” beschreibt er die Unzulänglichkeiten der Normalverteilungshypothese mit einem einfachen Beispiel: "Die durchschnittliche Größe aller männlichen Erwachsenen in den USA beträgt etwa 70 Inch, mit einer Standardabweichung von ungefähr 2 Inch. Das heisst, 68 Prozent der amerikanischen Männer sind zwischen 68 und 72 Inch, 95 Prozent zwischen 66 und 74 Inch groß. Mathematisch ist nach der Glockenkurve ein Gigant von 12 Fuß (etwa 3,60 Meter) oder gar jemand mit negativer Größe nicht unmöglich."
[Bildquelle oben: iStockPhoto]
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glueckwunsch zu dem fundierten und gelungenen nachruf auf den vater der apfelmaennchen ...