Kritik an der EZB ist en vogue – spätestens seit sich das monetäre Perpetuum Mobile in Europa immer schneller dreht und die Sinnhaftigkeit von Staatsanleihen-Käufen von der Wissenschaftler- und Praktikerseite immer stärker kritisiert wird. Zahlt eine Regierung ihre Schulden nicht zurück, wackeln weltweit die Bankentürme. Wackeln Banken, wird die Politik aktiv, um diese zu retten, mit der Folge, dass die Zahlungsfähigkeit des Staates selbst in Gefahr gerät. Ein klassischer Teufelskreis? Werden Risiken noch korrekt bespreist? Wo liegen die zukünftigen systemischen Risiken? Gab es Geburtsfehler bei der Euro-Einführung? Diese und ähnliche Fragen diskutierten wir mit Jürgen Stark, der von 2006 bis 2012 Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB) war.
Sie waren maßgeblich an der Einführung des Euro beteiligt. Haben die Architekten des Euro-Systems Fehler begangen oder zu wenig darauf geachtet, dass die Spielregeln eingehalten werden? Was würden Sie heute als Euro-Architekt anders machen?
Jürgen Stark: Ich möchte hier nicht von "Fehlern" sprechen, denn die europäische Integration war und ist ein offener Prozess. Was fehlerhaft war und ist, ist die Um- und Durchsetzung des in sich konsistenten und stringenten Maastricht-Konzepts der Wirtschafts- und Währungsunion, das auf Prinzipien und Regeln beruht. Das begann bereits mit der Anwendung der sogenannten Konvergenzkriterien, über die sich die Mitgliedstaaten für die Währungsunion zu qualifizieren hatten. Am Ende wurde über die Einführung des Euro politisch entschieden. Und so startete man mit Ländern, für die eine einheitliche Währung zu anspruchsvoll war und die Einführung des Euro zu früh kam. Auch die Aufnahme späterer Mitglieder erfolgte meist aus politischen Gründen und zu früh. Und auch danach wurde zwar technisch-bürokratisch, aber keineswegs politisch auf die Einhaltung der Regeln gepocht. Konkret heißt das: das Konzept von Maastricht wurde nie vollkommen umgesetzt! Allerdings war bekannt, dass die Wirtschafts- und Währungsunion nicht durch eine Politische Union ergänzt und untermauert war. Der Maastricht-Vertrag sollte in diesem Punkt durch den Vertrag von Amsterdam ergänzt werden. Aber es gab für diese deutsche Forderung keine Unterstützung. Für eine weiterreichende Integration mangelte es damals wie heute am politischen Willen. Aus heutiger Sicht wäre erforderlich: eine stärkere politische Integration, Start der Währungsunion nur mit einem "harten Kern" und wenn dies nicht möglich wäre, Ergänzung durch eine Insolvenzordnung für Staaten.
Im Jahr 2012 haben Sie in einem Interview auf den Teufelskreis hingewiesen, in den sich die EZB in der Folge der Krisenbewältigung und Staatsfinanzierung begeben hat. Hat die EZB den Teufelskreis in der Zwischenzeit verlassen? Oder ist eher das Gegenteil der Fall?
Jürgen Stark: Die EZB ist der entscheidende Krisenmanager des Eurogebiets seit 2010. Damals begann sie mit dem Kauf von Staatspapieren bestimmter Euro-Mitgliedstaaten und entwickelte sich zum Kreditgeber der letzten Instanz (lender of last resort) für Staaten. Sie spielt inzwischen eine noch aktivere Rolle und ist zu einem politischen Spieler geworden, den Regierungen und die Finanzmärkte voll in ihr Kalkül einbeziehen. Aus dieser Rolle ist ein Ausstieg extrem schwierig zu gestalten und zu bewältigen.
Was sind die Ziele des Quantitative Easing der EZB? Wurden diese Ziele aus ihrer Sicht in der Zwischenzeit erreicht?
Jürgen Stark: Die EZB verfolgt seit etwa einem Jahr eine mengenmäßige Lockerung der Geldpolitik, das Quantitative Easing (QE), nachdem man beim Leitzins bei der nominalen Null-Linie angelangt ist. Die Bilanz des Euro-Systems soll durch monatliche Käufe von Regierungsanleihen, ABS und Pfandbriefen von 60 Mrd. Euro bis März 2017 auf 4.500 Mrd. Euro ausgedehnt werden. Der EZB-Rat möchte damit die derzeit sehr niedrige Inflationsrate – die ich als Preisstabilität bezeichne – in Richtung zwei Prozent bringen und deflationären Risiken entgegen wirken. Dabei geht es auch um die Verankerung der Inflationserwartungen auf einem Niveau, das der EZB-Definition von Preisstabilität entspricht. Die sehr niedrige Inflationsrate ist in erster Linie durch den Kollaps des Ölpreises bedingt. Die Kreditvergabe und das nominale Wirtschaftswachstum sollen gefördert werden. Aus Sicht der EZB zeigen sich die erwarteten Wirkungen. Ich ziehe dies in Zweifel. Zunächst einmal definiert die EZB "Preisstabilität" sehr eng als ein Punktziel und überstrapaziert ihr Mandat. Aus heutiger Sicht besteht überhaupt keine Deflationsgefahr im Sinne einer sich verstärkenden Abwärtsspirale des Preisniveaus. Zu den Wirkungen ist zu sagen, dass eine Verbesserung der Kreditbedingungen und der Kreditvergabe sich schon vor Beginn dieser Operationen abzeichneten. Der EZB-Stab beziffert die Wachstumseffekte des QE von 2015 bis 2017 mit insgesamt einem Prozentpunkt. Weiß Gott kein überwältigender Effekt, wenn man die dramatische Bilanzausweitung dagegen stellt. Wirkungen zeigten sich zunächst bei den Aktienkursen und dem Euro-Wechselkurs, die aber inzwischen durch andere Effekte überlagert werden. Was die EZB völlig ausblendet sind die unbeabsichtigten mittel- bis längerfristigen Folgen ihrer Politik.
Überschreitet die EZB zum Erreichen dieser Ziele Ihr Mandat?
Jürgen Stark: Ja. Für mich ist das eindeutig. Die EZB gibt vor, im Rahmen ihres Mandats zu handeln, sie betreibt aber in Wirklichkeit Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Ein Effekt ist ja, dass die Renditen von Staatsanleihen hochverschuldeter Euro-Länder inzwischen im kurz- und mittelfristigen Bereich in manchen Fällen negativ sind. Die Risikoprämien gehen gegen Null und geben völlig falsche Signale an die verantwortlichen Politiker.
Lässt sich mit einer laxen Geldpolitik eine lahme Volkswirtschaft wieder ankurbeln?
Jürgen Stark: Die Politik der EZB hat kurzfristig die Finanzmärkte beruhigt. Sie hat also "Zeit gekauft", damit die Regierungen ihre Hausaufgaben machen können und die wahren Ursachen der wirtschaftlichen Schwäche angehen. Die sind struktureller Natur. Aber die EZB suggeriert gleichzeitig, dass sie zur Problemlösung beitragen kann. Sie überschätzt sich dabei und wird überfordert. Eine Zentralbank kann nun mal nicht die Produktivität forcieren, ihre Politik ist kein Ersatz für die Konsolidierung öffentlicher Haushalte und den Schuldenabbau (deleveraging) und sie ist auch nicht verantwortlich für die Bereinigung der Bank- und Unternehmensbilanzen von faulen Krediten. All das ist Sache der Regierungen und Parlamente.
Jens Weidmann wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass die EZB zur "Gefangenen der Politik" wird, wenn sie Staatsanleihen kauft. Zustimmung?
Jürgen Stark: Die EZB ist sowohl Gefangene ihrer eigenen Politik als auch der Politik schlechthin. Die gegenseitigen Abhängigkeiten von Zentralbank, Regierungen und Finanzmärkten sind inzwischen so ausgeprägt, dass ein Ausstieg aus den EZB-Operationen auf absehbare Zeit unmöglich ist, es sei denn man provoziert eine neue Krise. Die Erfahrungen der Federal Reserve mit dem Ausstieg aus QE3 und den Reaktionen auf die Ankündigung einer ersten Zinserhöhung seit langem sollten zu denken geben.
Sehen Sie hier ein Moral-Hazard-Risiko, das heißt, werden potenzielle Risiken innerhalb des Euroraums sozialisiert?
Jürgen Stark: Moral hazard ist allgegenwärtig, wenn Regierungen oder Zentralbanken in den Markt eingreifen. Es ist immer eine Frage der Dimension. Das enorme Ankaufvolumen von Staatspapieren durch die EZB hat das Reformtempo in vielen Ländern gedrosselt. Es hat auch zu Fehlanreizen geführt, die Staatsverschuldung weiter zu erhöhen. Ohne die Interventionen der EZB und ohne die dadurch ausgelösten Marktverzerrungen wären einige Länder wieder nahe an der Insolvenz. Die politische Garantie, alle derzeitigen Euro-Mitgliedstaaten im Euro zu halten heißt im Endeffekt, dass andere Mitgliedstaaten für die eingegangenen Risiken haften und dies zu mehr finanziellen Transfers führt. Das hat schon lange nichts mehr mit dem Konzept von Maastricht zu tun, das mit der "no bail out-Klausel" die Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für ihre Staatsfinanzen vorsah.
Welche Nebenwirkungen und unbeabsichtigten Folgen haben aus Ihrer Sicht eine Null-Zins-Politik und die Liquiditätsschwemme an den Märkten?
Jürgen Stark: Bereits während meiner aktiven Zeit als Mitglied des EZB-Direktoriums und des -Rates, habe ich meine Kollegen mit den Spätfolgen einer zu langen Periode zu niedriger Zinsen und üppiger Liquidität genervt. Seit mehreren Jahren warnt auch die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel vor den "unintended consequences". Ich finde das angesichts des neuen "mainstream Central Banking" sehr mutig von ihr. Bei Null-Zinsen verliert der Zins als einer der wichtigen relativen Preise in einer Volkswirtschaft seine Signal- und Steuerungsfunktion. Risiken werden nicht mehr richtig bepreist. Marktverzerrende Effekte mit der Fehlallokation von Ressourcen sind die Folge. Die Jagd nach Rendite ist wieder in vollem Gang, womit das Risiko neuer Marktübertreibungen und Krisen steigt. Das Verhalten der Marktteilnehmer verändert sich, einschließlich des Spar- und Vorsorgeverhaltens und traditionelle Geschäftsmodelle werden infrage gestellt. Deleveraging und Strukturanpassungen werden verzögert. "Zombie"-Banken und -Unternehmen bleiben am Markt und dämpfen den Produktivitätszuwachs. Aber auch die regionalen und internationalen spillover-Effekte auf Nicht-Euro-Länder und Schwellenländer dürfen nicht vergessen werden.
Der Euroraum ist in den vergangenen Monaten zum Liebling der Kapitalmärkte geworden. Befindet sich der Euro immer noch im Krisenmodus?
Jürgen Stark: Die Krise im Euro-Gebiet ist noch lange nicht überwunden. Das wäre erst der Fall, wenn die EZB den Weg zurück in die Normalität gefunden hätte. Viele der ungelösten Probleme werden derzeit durch andere Phänomene überlagert, wie beispielsweise die erheblich gewachsenen geopolitischen Unsicherheiten, der Verfall des Ölpreises oder die wirtschaftlichen Probleme Chinas. Auch die Probleme Europas haben sich ja nicht vermindert, im Gegenteil. Die Flüchtlingswelle, die weit verbreitete reformfeindliche und anti-europäische Stimmung, die in den Ergebnissen der jüngsten Wahlen in einigen Ländern ihren Ausdruck findet und der mögliche Exit Großbritanniens von der EU, um nur einige Beispiele zu nennen.
Führen die neue "Macht" sowie die Übernahme neuer Aufgaben (siehe Bankenaufsicht) nicht auch zu Ziel- und Interessenkonflikten? Hat sich das Selbstverständnis der EZB im Krisenmanagement verändert?
Jürgen Stark: Sowohl Regierungen als auch die Finanzmärkte erwarteten eine aktivere Rolle der EZB. Diese neue Rolle hat sie angenommen. Im Krisenmanagement hat sie sich verstanden als die einzige funktionierende europäische föderale Institution mit der notwendigen Flexibilität, raschen Entscheidungsverfahren und – ganz entscheidend – unbegrenzten finanziellen Ressourcen. Diese Rolle brachte ihr zusätzliche Funktionen ein, wie die Bankenaufsicht und Mitverantwortung für die Finanzstabilität. Das führt zwangsläufig zu Ziel- und Interessenkonflikten, zumal das in Bankenaufsichtsfragen und in der Geldpolitik letztentscheidende Organ der EZB-Rat ist. Es ist zu erwarten, dass solche Konflikte zu Lasten der Preisstabilität aufgelöst werden.
Welche Vorschläge würden Sie der EZB unterbreiten, um sich zu reformieren?
Jürgen Stark: Rückbesinnung auf den Kern ihres Mandats. Denn unser Papiergeld-System, das "fiat money"-Regime, erfordert volles Vertrauen der Öffentlichkeit in die Zentralbank als Hüter der Währung, den Geldwert stabil zu halten. Das ist eine große und äußerst verantwortungsvolle Aufgabe. Die EZB muss deshalb heraus aus der Rolle der Staatsfinanzierung. Die Bankenaufsicht muss nach einer Vertragsänderung auf eine separate neu zu schaffende Institution übertragen werden. Eine Zentralbank kann grundsätzlich mit dem ihr zur Verfügung stehenden Instrumentarium nur eine begrenzte Wirkung haben. Darüber hinaus gehende Erwartungen überfordern sie.
Das Fluten der Geldmärkte führt zwangsläufig und historisch betrachtet zu Übertreibungen. Sehen Sie Anzeichen für eine neue Krise am Horizont?
Jürgen Stark: Es gab und gibt Übertreibungen bei bestimmten Vermögenspreisen, beispielsweise bei Immobilien und Staatsanleihen. Bei Aktien haben wir inzwischen eine gewisse Korrektur erfahren. Die Märkte werden nervös und volatil bleiben. Dies hat zum Teil geopolitische Gründe, ist aber auch von den geldpolitischen Differenzen zwischen den großen westlichen Zentralbanken getrieben. Abrupte Marktkorrekturen schließe ich nicht aus. Diese können rasch zu einer neuen Krise eskalieren. Und wie reagieren die Zentralbanken dann?
Wie bewerten Sie die jüngsten Zinsentscheidungen der FED?
Jürgen Stark: Das war ein überfälliger Schritt. Aber die Fed hat lange gezögert, weil sie sich über die Reaktion der Finanzmärkte nicht im Klaren war und Friktionen vermeiden wollte. Und sie wurde ja auch vom IWF und von akademischen Zirkeln gewarnt, diesen Schritt zu tun. Sie bewegt sich damit zwar sehr graduell von der Null-Linie weg, es wird aber noch ein weiter Weg bis zur "Normalität" sein.
Sie treten als Sprecher vor unterschiedlichem Publikum auf – so auch im November 2015 an der Technischen Universität München vor Studierenden und Doktoranden. Was treibt Sie an, das Thema Geldpolitik in der öffentlichen Wahrnehmung präsent zu halten?
Jürgen Stark: Es geht hier um Themen, die die Öffentlichkeit angehen und bewegen. Immerhin gibt es keine historische Erfahrung über die Folgen einer derart langen Periode von Niedrigzinsen und Liquiditätsschwemme. Die Menschen spüren ja, dass hier etwas völlig Unnormales abläuft. Ihre Sorgen werden immer größer, insbesondere bei denjenigen, die eher risikoscheu sind und ihre Zweifel wachsen, ob sie noch Vertrauen in die Zentralbank haben können. Ein wichtiger Aspekt dabei ist auch, wie sich die EZB über die Restriktionen des Maastricht Vertrages hinweg gesetzt und sich vom Modell der Deutschen Bundesbank gelöst hat, nach dem sie konzipiert wurde.
[Das Interview führten Prof. Dr. Matthias Scherer/TU München sowie Frank Romeike/Chefredakteur RISIKO MANAGER, Chefredakteur und geschäftsführender Gesellschafter RiskNET und Vorstandsmitglied FIRM]
Jürgen Stark war von 2006 bis 2012 Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB). Ab September 1998 war er Vize-Präsident der Deutschen Bundesbank. Ab dem 1. Mai 2002 war Jürgen Stark im Vorstand der Deutschen Bundesbank für die Bereiche Internationale Beziehungen und Revision zuständig. Zwischen 1993 und 1994 war Jürgen Stark als Leiter der Abteilung Internationale Währungs- und Finanzbeziehungen, Finanzbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft im Bundesministerium der Finanzen tätig. 1995 bis 1998 war er Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen; dort war er maßgeblich an der Einführung des Euro beteiligt.
In den Jahren 1968 bis 1973 hat Jürgen Stark ein wirtschaftswissenschaftliches Studium an der Universität Hohenheim und an der Eberhard Karls Universität Tübingen absolviert. Er wurde 1975 zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften promoviert.
[Das Interview ist erstmalig in Ausgabe 03/2016 der Zeitschrift RISIKO MANAGER im FIRM-Teil veröffentlicht worden.]