Solvency II – eine Zäsur für die Versicherungswirtschaft. Was 15 Jahre lang mit diversen Vorstudien entwickelt wurde, hielt im Jahr 2016 als Realität Einzug in die Versicherungsunternehmen. Eine neue Ära des risikobasierten Aufsichtsregimes hatte begonnen. Beim Risikomanagement und schließlich auch bei der Aufsicht geht es nicht darum, Risiken zu vermeiden, sondern sie auf ein vertretbares Maß zu begrenzen.
Das Platzen der Aktienblase zur Jahrtausendwende und die Finanzmarktkrise 2008 hatten zuvor deutlich aufgezeigt, dass die nach der Deregulierung 1994 entstandenen Freiheiten in der Versicherungswirtschaft stärker überwacht und durch finanzielle Anforderungen begrenzt werden müssen. Insbesondere betraf dies den Kapitalanlagenbereich. Insofern ist und war dieser politische Auftrag zu begrüßen. Die Aufsicht erhielt wieder ein wirksames Instrumentarium, nachdem Tarif- und Bedingungsgenehmigung weggefallen waren.
Die neuen Vorschriften waren relativ konsequent auf marktwertkonsistente Verfahren umgestellt und großenteils an die internationale Rechnungslegung angepasst. Risikobasiertes Vorgehen sollte neben Ertrags- und Wachstumszielen immer zentraler Punkt der unternehmerischen Entscheidungen sein. Letzteres umso mehr, als die Deregulierung den Weg für neue, verbesserte Produkte frei gemacht hatte. Von daher war das neue Gedankengut der Aufseher den zeitgemäß aufgestellten Unternehmen wohl vertraut.
Der begrüßenswerte Effekt des Solvency-Regulariums war, dass sich damit unternehmerisches Handeln und aufsichtsrechtliche Vorschriften wieder deutlich annäherten. Die aufsichtsrechtlichen Vorgaben führten auch zu einem konsequenteren und ausgewogenen Vorgehen bei der Abschätzung von Risiken. Regelmäßige Marktergebnisse führen bei den Unternehmen ebenso wie bei der Aufsicht zu stetigem Erkenntniszuwachs über tatsächliche Streuungen von Risiken. Statistische Aussagen, die einzelne Unternehmen aufgrund ihrer Größe nicht mit hinreichender Sicherheit treffen konnten, sind nun zumindest auf Marktebene besser ermittelbar.
Begleitet wurde der Prozess durch sehr umfangreiche neue Berichtspflichten und neue Organisationsforderungen.
Der Versicherungsindustrie ist der Start in das neue Aufsichtsregelwerk erfolgreich gelungen. Alle deutschen Versicherungsunternehmen haben die Bedeckungsquoten mit mehr als 100 Prozent erfüllt. Teilweise nutzten die Unternehmen sachgerechte Übergangsmaßnahmen, die dazu dienen, die Produktwelt und das Aufsichtsregime zeitlich aneinander anzupassen.
Detailliertes und fundiertes Wissen über die wesentliche Risiken und deren Steuerung haben in den Unternehmen und in der Ausbildung deutlich an Bedeutung gewonnen. Grundlegende Prinzipien der Versicherungsmathematik und der Risikotragtheorie wie dem Ausgleich im Kollektiv (Größe) und der Zeit sollten dabei nicht aus den Augen verloren gehen. Nicht in jedem Quartal und jedem Teilsegment muss ein Ertrag erwirtschaftet werden, auf eine gute Diversifikation kommt es an, die insgesamt zu einem stabilen Ergebnis führt.
Die entstandene Komplexität der Vorschriften lässt die Frage offen: Wird vor lauter Details noch das Wesentliche gesehen? Auch die Frage, ob Aufwand und Nutzen noch in einem vertretbaren Zusammenhang stehen, ist zu stellen.
Mit zunehmender Spezialisierung der Aufseher in den Behörden steigt die Gefahr, dass die Versicherungsunternehmen einer unheilbringenden Spirale stetiger Verschärfungen ausgesetzt werden. Dies droht letztlich zu Lasten der Marktvielfalt zu gehen und den marktwirtschaftlich gewollten Wettbewerb zu schädigen. Es bleibt zu hoffen, dass die politisch Verantwortlichen den Prozess auf ein sinnvolles Maß begrenzen.
Autor
Uwe Ludka
Vorsitzender des Ausschusses Finanzmarktregulierung des GDV und Vorstandsvorsitzender der Itzehoer Versicherungen
[Aus dem Vorwort der 3. Auflage von Romeike, Frank/Müller-Reichart, Matthias (2020): Risikomanagement in Versicherungsunternehmen - Grundlagen, Methoden, Checklisten und Implementierung, 3. Auflage, Wiley Verlag, Weinheim 2020]
Das Buch bietet einen Gesamtüberblick über die Analyse und Steuerung von versicherungstechnischen und operationellen Risiken sowie Markt- und Kreditrisiken in der Versicherungswirtschaft. Allein mit Hilfe von "unternehmerischer Intuition", reaktiven Steuerungssystemen und retrograden Unternehmenswertparametern dürfte es heute und in Zukunft kaum möglich sein, die Risiken in der Assekuranz proaktiv zu erkennen und zu bewältigen. Auch regulatorische Entwicklungen wie Solvency II, "Aufsichtsrechtliche Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen" (MaGo), "Versicherungsaufsichtliche Anforderungen an die IT" (VAIT), ICS 2.0 sowie der Bilanzierungsstandard IFRS 17 bewirken, dass die Assekuranz neue Instrumente und Techniken zur Risikoanalyse anwenden muss.
Ein zentrales Thema des Buches ist die Darstellung moderner Methoden (wie beispielsweise ALM, DFA, stochastische Modellierung, Szenarioanalyse) zum Aufbau eines wirksamen und fundierten Risikomanagements im Versicherungsunternehmen.