Der Notgroschen. Nach Definition des Dudens: "Geld, das man spart, zurücklegt, um in Notfällen, in unvorhergesehenen Situationen darauf zurückgreifen zu können." Gut, wer das kann, bei der aktuellen Situation mit Nullzinsen, sinkenden Wachstumsraten und einer mehr als fragilen EU-Währungspolitik. Kurzum: Europa ist angeschlagen, auf wirtschaftlicher, politischer und struktureller Ebene. Doch wo ist Licht am Ende des Tunnels bei all den Turbulenzen im globalen Maßstab? Die Redaktion von RiskNET sprach mit Carsten Mumm, Leiter der Kapitalmarktanalyse bei der Privatbank Donner & Reuschel, über die Lage an den Kapitalmärkten, die Konfliktpotenziale und möglichen Strategien aus der Dauermisere. Sein Credo: Nicht abwarten und Verluste hinnehmen, sondern heute was tun. Und zwar in Form neuer Strategien.
Herr Mumm, wenn Sie ein Jahr zurück schauen. Wie schätzen Sie im Vergleich dazu die aktuelle Lage an den Kapitalmärkten ein?
Carsten Mumm: An der Grundkonstellation hat sich nicht viel verändert: die Politik, und damit meine ich insbesondere die Geldpolitik, ist nach wie vor der ausschlaggebenden Treiber. Im Unterschied zu heute hatten wir vor einem Jahr allerdings wenigstens noch ein paar Basispunkte positive Zinsen. Jetzt werden Bundesanleihen negativ verzinst. Das ist schon gravierend und war kaum zu erwarten. Die Ursache gleicht ebenfalls der von vor einem Jahr: schwaches Wachstum, Deflationsgefahr, ungelöste Staatsschuldenkrise.
Nach vorn geblickt: wann können wir mit höheren Zinsen rechnen?
Carsten Mumm: An der Situation des großen Einflusses der Geldpolitik und damit einhergehend strukturell niedriger Zinsen wird sich auf kurze Sicht wenig ändern, da sind wir uns sicher. Die Frage ist, wie lange die EZB noch still hält. Sie kauft den Politikern Zeit, die diese aber nicht nutzen.
Was kann die EZB tun?
Carsten Mumm: Weiter verbal politischen Aktionismus heraufbeschwören. Oder vielleicht sogar etwas weniger expansiv werden, um die Politik anzustoßen. Da sehe ich durchaus Konfliktpotenzial. Trotzdem wird sie aber an der Zinsschraube nicht drehen – das gilt auch für 2017. Und sie wird das Wertpapierkaufprogramm letztlich doch über März hinaus verlängern. Ich halte es sogar für möglich, dass sie auch Aktien kaufen wird. Wegen der niedrigen Liquidität im Anleihesegment muss sie sich über neue Anlageklassen Gedanken machen.
Wie sind die politischen Entwicklungen einzuschätzen, beispielsweise bezogen auf die anstehenden Wahlen?
Carsten Mumm: Für sich allein betrachtet sind die Wahlen in Euroland und den USA nicht allzu bedeutend für die Kapitalmärkte. Man könnte sagen: "Politische Börsen haben kurze Beine.". Aber insbesondere in Euroland können sich diese ‚kleinen‘ politischen Themen – neben Wahlen auch stockende Strukturreformen, die Brexit-Auswirkungen, der Einfluss Euro-kritischer Parteien, usw. – die es in Hülle und Fülle gibt, aufsummieren und gegebenenfalls eine Kettenreaktion auslösen. Sie können dann schon längere Beine bekommen und zu heftigeren Reaktionen an den Börsen führen.
Zum Beispiel werden notwendige Reformen vor Wahlen wie in Frankreich im Juni 2017 und in Deutschland im Oktober 2017 tendenziell aufgeschoben. Sollte der italienische Ministerpräsident Renzi wegen des anstehenden Referendums über eine Verfassungsänderung zurücktreten und andere politische Kräfte mehr Gewicht bekommen, kann das Schockwellen auslösen. Die US-Wahl dürfte höchstens kurzfristige Auswirkungen auf die Märkte haben. Ähnlich haben wir es beim Brexit schon gesehen. Selbst wenn Trump gewinnen sollte, wird es nur wenige Wochen turbulenter zugehen. Denn er wird vieles, was er angekündigt hat, nicht durchsetzen können. Daher werden sich die Börsen schnell wieder anderen Themen widmen.
Worin sehen Sie den Grund für die seit Jahren schwache Konjunktur?
Carsten Mumm: Da gibt es verschiedene Gründe. Ein Aspekt ist die schlechte Demografie in den Industrieländern, wobei die USA die große Ausnahme sind. Deshalb wächst die US-Ökonomie strukturell auch stärker als Deutschland oder die Eurozone, wo die demografische Entwicklung das Wachstum hemmt.
Hinzu kommen die spezifischen Probleme in Europa, wie der Brexit, wodurch sowohl die Industriegüter- und Investitionsnachfrage als auch der Konsum zurückgeworfen wird – auf der Insel, aber auch in Euroland. Der zweite globale Aspekt: in den Schwellenländern gehen die Wachstumsraten strukturell zurück. Beispiel China: hier wurde mittlerweile ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht. Aktuell wird die Wirtschaft umgebaut: weg von der reinen Exportorientierung, hin zu mehr Binnenwirtschaft. Da ist es normal, dass die Wachstumsraten zurückgehen. Indien hat zwar noch mehr Dynamik, unter anderem wegen einer besseren Demografie, und hat China als Wachstumslokomotive abgelöst, ist aber noch nicht groß genug, um China zu ersetzen. Zudem leiden viele Schwellenländer unter den niedrigen Rohstoffpreisen.
Wir haben also auch ein Sättigungsproblem?
Carsten Mumm: Genau. Zumindest bei den Regionen, die für die Weltwirtschaft eine besonders große Rolle spielen. Potenziell gäbe es Nachrücker. Staaten, die von niedrigem Niveau stark wachsen könnten sind beispielsweise in Afrika. Aber hier gibt es zu viele strukturelle Probleme, die nicht gelöst sind. Viel Potenzial schlummert dort, wird aber nicht wirksam.
Hinzu kommt tendenziell eine Abkehr von der Globalisierung. Und ein wesentlicher Treiber des Wachstums der vergangenen Jahrzehnte war ja gerade der Freihandel. Diese Entwicklung wird aktuell eher gestoppt bzw. zum Teil zurückgedreht.
Und welche Konsequenz ergibt sich daraus für die Unternehmensgewinne?
Carsten Mumm: Die Gewinne dürften im Durchschnitt einfach nicht mehr so stark wachsen. Das spricht einerseits dafür, zu schauen, welche Branchen aufgrund dieser Konstellation zu favorisieren sind.
Wenn die Menschen älter werden ist beispielsweise Pharma ein Thema. Ein allgemeiner Trend zu steigenden Gewinnen könnte nur ein Produktivitätsschub bringen, beispielsweise durch die Digitalisierung. Das ist ein interessantes Phänomen, hat insgesamt aber noch nicht zu einer deutlich steigenden Produktivität geführt, zumindest noch nicht in der Breite. Das könnte trotzdem ein Treiber werden, weshalb auch der Technologiesektor relativ gute Aussichten hat.
Wie schätzen Sie die Situation aktuell in Europa ein?
Carsten Mumm: Es gibt positive Zeichen, wie das Wachstum in Spanien und Irland. Zudem werden schon Reformen angegangen, siehe in Griechenland oder Frankreich. Es geht aber alles nur sehr langsam. Unter dem Strich ist die Staatsschuldenkrise jedoch noch so akut da, wie vor vier oder fünf Jahren. Sie ist halt nur nicht so präsent. In den Medien gibt es andere Themen.
Und die Lage spitzt sich derzeit nicht so zu, weil die Zinsen für alle Eurostaaten relativ günstig sind. Aber von Entspannung kann derzeit keine Rede sein. Die Target-Salden sind ein guter Indikator dafür, quasi als Fieberkurve. Die deutschen Forderungen aus dem TARGET2-System liegen fast wieder auf Niveaus von 2012 (knapp 700 Mrd. EUR) als Griechenland das beherrschende Thema war.
Was konkret müsste sich verändern?
Carsten Mumm: Strukturreformen, beispielsweise am Arbeitsmarkt müssten angestoßen werden. Die Strukturen in Euroland müssten vergleichbarer sein. Um das Wachstum anzuschieben, müssten auch fiskalische Impulse kommen, also Investitionen in Infrastruktur, Bildung usw. Langfristiges Wachstum kommt durch Strukturreformen, kurzfristiges durch Konjunkturprogramme. Deutschland müsste da eine führende Rolle eingehen, die Nullzinsen nutzen, sich langfristig verschulden und in Infrastruktur und Bildung investieren. Meines Erachtens sollten wir nicht auf Teufel komm raus unsere Schulden reduzieren.
Aber wie sieht es mit der hohen Staatsverschuldung in anderen Ländern aus?
Carsten Mumm: Sie müssten richtig investieren. Zudem muss die Notenbank bis auf weiteres vermeiden, dass die Risikoprämien der Peripheriestaaten stark ansteigen, wenn sie sich dafür verschulden. Zum anderen müssen auch die starken Länder mit eintreten.
Wie kommen die Notenbanken aus ihrer Situation jemals wieder raus? Ist eine Normalisierung der Geldpolitik möglich?
Carsten Mumm: Sie haben eine Chance. Die Grundvoraussetzung dafür ist dynamisches Wachstum. Das heißt aber, dass es Jahre vielleicht sogar Jahrzehnte dauern wird. Wir werden uns auf eine lange Zeit einrichten müssen, in der das Zinsniveau auf null oder zumindest sehr niedrig liegen wird. Die Notenbanken werden ihre Bilanzen für lange Zeit nicht wesentlich herunter geregelt bekommen. Die notwendige Voraussetzung dafür: strukturell stärkeres dynamisches Wachstum. Ist aber nicht absehbar. Den einfachen Ausgang gibt es nicht.
Aber was passiert, wenn eine Rezession kommt oder die Inflation zu stark steigt?
Carsten Mumm: Wenn Inflation kommt, dann würden sich Fed und EZB schlussendlich darauf fokussieren und zum Teil die Zinsen anheben – auch wenn sie kurzfristig vielleicht ein höheres Inflationsniveau tolerieren würden. Wenn eine Rezession oder eine neue Staatsschuldenkrise kommt werden die Notenbanken weiter expansiv bleiben. Ich meine, dass Draghi bisher noch nicht die Verlängerung des Kaufprogramms auf die Agenda genommen hat, hat seinen Grund. Schließlich stehen die US-Wahl und das Italien-Referendum an. Die EZB will ihr noch Pulver trocken halten und die Politiker der Eurolandstaaten zu Reformen und Ausgaben antreiben.
Wäre in dieser Situation allgemein hoher Assetpreise für Anleger nicht auch Liquidität eine Lösung?
Carsten Mumm: Nein. Die Liquidität sollte auf den Notgroschen beschränkt bleiben, obwohl gefühlt "alles ganz ganz schrecklich ist". Aber diese Situation haben wir seit Jahren. Wir hatten die Griechenland-Krise, 2009 die Finanzkrise, daraus resultierend die Staatsschuldenkrise. Wenn jemand heute wartet, bis alles ruhiger wird, wird er sehr lange warten – vielleicht 6 oder 7 Jahre. Und die ganze Zeit verliert sein Geld an Kaufkraft. Deshalb muss man heute was tun.
Und zwar was?
Carsten Mumm: Für Liquidität gibt es keine Zinsen mehr. Festverzinsliche braucht man trotz niedriger Renditen teilweise. Letztlich aber müssen Renditechancen in allen Anlageklassen gesucht und genutzt werden: Aktien, Rohstoffe, Immobilien.
Für Anleger und das Asset Management heißt das: Man braucht Strategien, die dynamisch agieren und prognoseunabhängig sind. Prozyklisch dabei sein, also sich ergebende Trends nutzen, eng abgesicherte Stopps oder Absicherungs-Systematiken, um die potenziellen heftigen Verluste, die irgendwann eintreten, zu vermeiden. Abwarten ist die völlig falsche Strategie.