Am 20. Oktober war Weltstatistiktag. Ein Zahlentag, den die Vereinten Nationen 2010 ins Leben riefen. Dieser sogenannte World Statistics Day trug in diesem Jahr das Motto: "Connecting the World with data we can trust". Ein langes überfälliges Motto bei all den Halbwahrheiten, falschen oder falsch interpretierten Zahlen in Politik, Medien und Wirtschaft. Doch mit einem Statistiktag alleine ist es nicht getan und so kam der Start des diesjährigen RiskNET Summit just an jenem 20. Oktober gerade recht. Eine zweitägige Fachkonferenz zu den Themen Risikomanagement, Compliance und Governance.
Die Konferenz bietet traditionell jede Menge Raum und Zeit, um auch Zahlenwerke und Statistiken praxisnah zu erklären sowie neue Methoden für ein zukunftsgerichtetes Risikomanagement vorzustellen. Denn es muss für Unternehmen vor allem darum gehen, eine Welt inmitten des Umbruchs besser zu verstehen – wirtschaftlich und geopolitisch. Nur so lassen sich die richtigen Schlüsse ziehen und mit geeigneten Maßnahmen im Gesamtrisikomanagement einbinden. Wen wundert es, wenn Frank Romeike, Gründer und Geschäftsführer des Kompetenzportals RiskNET und der RiskAcademy, im Rahmen seiner Eröffnung vom Bermudadreieck aus Krieg, Pandemie und Inflation sprach. Aber der Reihe nach, wenn auch vorausdenkend. Oder wie es Frank Romeike formuliert: "Aus der Zukunft lernen ist spannend."
Von Zukünften, dem Stresstesten und dem vor die Welle kommen
Apropos Vorausdenken und zukünftiges. Diese Zukunftsperspektive ist ein wichtiger Schlüsselfaktor für ein funktionierendes und vor allem umfassendes Risikomanagement – gerade um Chancen für die eigene Organisation zu gewinnen. Und so startete das "Gipfeltreffen der professionellen Risiko- und Chancenmanager" mit einem genaueren Blick nach vorne mithilfe eines sogenannten Szenario-Managements. Alexander Fink, Gründungsinitiator und Vorstand des Unternehmens ScMI, sprach in diesem Kontext nicht umsonst vom "strategischem Vorausdenken" und von "zukunftsrobusten Entscheidungen". Den Weg dorthin veranschaulichte Fink mit einem Blick zurück in die Welt vor 15 und zehn Jahren, inklusive der Themen, Trends und Persönlichkeiten ihrer jeweiligen Zeit. Doch die Fakten von damals können schnell überholt sein. Dieser Blick in den Rückspiegel könne uns nach Fink schnell auf die falsche Spur bringen. Ein Beispiel: Die regelmäßigen Reports zu den global größten Krisen. Dieser wurde vor Jahr und Tag noch ohne den Ukraine-Krieg ermittelt. "Wir müssen uns mit Veränderung beschäftigen", so Fink. Und er fügt hinzu: "Es geht auch darum, die Art des Umgangs mit der Zukunft zu verändern."
Dr. Alexander Fink (ScMI): Szenario-Management: Von strategischem Vorausdenken zu zukunftsrobusten Entscheidungen
"Zukünfte" nennt Fink das Ganze. Was sind die unterschiedlichen Kräfte, die zusammenwirken? Um bei Fragestellungen mit einer hohen Unsicherheit oder einer hohen Komplexität ein wenig Licht in die Zukunft zu bringen, bietet die Szenarioanalyse einen strukturierten Zugang um "aus der Zukunft zu lernen". Das ermögliche seiner Meinung nach ein strategisches Denken im Sinne der Organisation. "Szenarien sind keine Prognosen", so Fink, "sondern Denkwerkzeuge". Diese Szenarien beschreiben die Welt um uns herum. Wichtig ist, dass Szenarien in einem interdisziplinären Gruppenprozess erarbeitet werden. Daraus folgert Fink: "Es sind spezifische Themen, die jeweils im Mittelpunkt stehen." Wichtig ist ein Systembild mit einer Art Radarschirm, welche Einflussfaktoren bestehen und welche wirklich zum Tragen kommen. "Schlüsselfaktoren als Fragen an die Zukunft", unterstreicht Fink. Dabei muss jeder Schlüsselfaktor genauer betrachtet werden, um mögliche Zukunftsprojektionen zu skizzieren und diese zu kommunizieren. Manager Fink nennt als Beispiel die "New Global Scenarios". Wie werden Weltwirtschaft und Globalisierung in der Post-Corona-Zeit aussehen? Welche Mächte werden auf- oder absteigen? Welche neuen globalen Architekturen könnten entstehen? Kurzum: Wie könnte ein "New Global" aussehen?
Im Windschatten der Corona-Pandemie zeichnen sich Veränderungen ab - in einigen Fällen altbekannte Trends, in anderen neue Strukturbrüche: Wird China mit Rückenwind in die 2020er-Jahre gehen – und wie wird sich seine Rivalität mit den USA und sein Verhältnis zum Westen verändern? Wie wird Europas Position in der neuen Weltordnung sein? Wird sich die Globalisierung fortsetzen, wird sie sich verändern - oder werden wir eine Deglobalisierung mit neuen Regionalmächten erleben? Welche Rolle werden Klimawandel, Digitalisierung und globale Ungleichgewichte spielen? Dies sind nur einige der drängenden Fragen, auf die es keine klaren Antworten gibt. Mehr noch als bisher ist die Zukunft unserer Welt nicht nur komplex, sondern auch höchst ungewiss.
Fink: Weder die Finanzkrise noch die Corona-Pandemie als auch der Ukraine-Krieg sind "Schwarze Schwäne"
Fink und sein Team haben mit einem globalen Expertenkreis einen tieferen Blick auf das globale Umfeld geworfen. Innerhalb von vier Workshops sind insgesamt acht sogenannte "New Global"-Szenarien erarbeitet worden. Sie reichen von Western Leadership bis zur globalen Machtverschiebung nach Asien und von multilateralen Kooperation bis umfassenden globalen Konflikten. Eine besondere Rolle spielen auch non-state-actors und politische Allianzen.
Um die Relevanz der einzelnen Szenarien besser einschätzen zu können, wurden die Szenarien in einer Expertenbefragung bewertet. Die Befragung von mehr als 200 Experten aus 65 Ländern zeigt zunächst eine sehr hohe Unsicherheit, da fast alle Zukunftsszenarien als relevant angesehen werden können. Zudem wurde eine insgesamt kritische Einschätzung der globalen Situation deutlich, da das gegenwartsnahe und erwartete Kontinuitätsszenario "New value blocs" gleichzeitig als kritische Zukunft eingestuft wird.
Abb.: Die acht Szenarien aus "The New Global"
Zurück zum eigentlichen Vortrag. Nach Fink müsse es von Szenarien als ein reines Denkwerkzeug zu Bewertungen kommen – ausgehend von der Gegenwart hin zur erwartbaren Zukunft. "In Szenarien denken", erklärt Alexander Fink. Das heißt auch, mit den Szenarien zu arbeiten und "Optionen stresstesten", um zu robusten Strategien und Entscheidungen zu gelangen. Ein elementares Vorgehen in unseren Zeiten, um sich nicht in Scheinsicherheiten zu wiegen oder bei jeder Krise den viel zitierten "Schwarzen Schwan" in den Vordergrund zu stellen. Denn weder die Finanzkrise noch die Corona-Pandemie als auch der Ukraine-Krieg sind nach Finks Worten ein Schwarzer Schwan. "Das ist nur eine Ausrede", resümiert Fink und empfiehlt bildlich: "Vor die Welle kommen."
Unternehmensstrategie ist auch Geostrategie
Dass Ausreden Unternehmen, aber auch die Politik nicht mehr weiterhelfen, zeigt sich immer deutlicher im geopolitischen Umfeld. In diesem Zusammenhang kommt manch politischer Akteur bis hin zu ganzen Bündnissen und internationalen Organisationen längst nicht mehr vor die Welle. Fatal, wie Günther Schmid, ehemals Bundesnachrichtendienst (BND), in seinen Ausführungen verdeutlicht. "Denn Geopolitik ist keine Kategorie, mit der wir uns im Unternehmenskontext hierzulande beschäftigen", unterstreicht Schmid. Corona und der Ukraine-Krieg haben den Systemkonflikt massiv verschärft.
Professor em. Dr. Günther Schmid, ehemals Bundesnachrichtendienst (BND)
Schmid: "Wir haben selten einen solchen Epochenbruch erlebt." Damit einherging eine wahre Kommentierungsexplosion – gerade hinsichtlich der Covid-Pandemie. Gleiches erfolgt aktuell im Zuge des Krieges in der Ukraine. Schmid beschreibt beide Krisen als Megarisiken. Mehr noch sieht er die Corona-Krise als Verstärker bereits bestehender Trends, nämlich des Verlusts an Ordnung im globalen Maßstab. Im Umkehrschluss könnte es auch heißen, dass sich die Fliehkräfte im staatlichen Kontext verstärkt haben. Aber auch die globalen Kriseninstrumente, wie die UNO oder die G7, haben nicht mehr funktioniert. Als Folge des Fehlens einer internationalen Krisenpolitik nehmen die Konflikte zu, vor allem zwischen China und den USA. Schmid: "Die Weltpolitik wird immer dezentraler, mit einer Streuung der Macht." Beispielsweise haben die USA kaum noch einen Einfluss auf den Nahen Osten. Demgegenüber sucht China seit Jahren die Kontrolle kritischer Wertschöpfungsketten mit dem Gleichklang von "Autokratie und Dominanz". China möchte nach Schmids Worten internationale Standards setzen. "Wir befinden uns in einer Sicherheitsunordnung", so der geopolitische Experte, "wobei China den Status quo zu seinen Gunsten verändern möchte". Die Neuverteilung der Macht im globalen Maßstab habe seiner Ansicht nach längst begonnen. Zu den revisionistischen Staaten, wie China und Russland, zählt Schmid auch die Türkei. Im Umkehrschluss sollen gezielte militärische Drohungen die Handlungsspielräume westlicher Staaten einschränken. Als Beispiel nennt Schmid die Drohungen der Türkei gegenüber Griechenland im Zuge des Streits um Ägäis-Inseln.
Günther Schmidt: "Unternehmensstrategie ist immer auch Geostrategie"
Der zentrale Konflikt unserer Zeit ist der zwischen den USA und China. Für die USA bedeutet Russland nur ein temporärer Konflikt, wohingegen der Konflikt mit China von den US-amerikanischen Regierungen langfristig interpretiert wird. Dementsprechend wird in den USA die gesamte Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik dem Kampf gegen Chinas Ansprüche im globalen Maßstab untergeordnet. Diese Konkurrenz der Systeme wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Und doch muss es auch zukünftig eine Abstimmung mit China und Russland geben, gerade hinsichtlich der Umweltfragen, aber auch mit Blick auf die Digitalisierung und damit einhergehend den Cybergefahren. Diese Krisen und Risiken haben im Umkehrschluss massive Auswirkungen auf Unternehmen und Märkte. "Unternehmensstrategie ist immer auch Geostrategie", warnt Schmid. Sicher auch vor dem Hintergrund, dass dies in vielen Unternehmen und deren Führungsetagen noch nicht angekommen ist. "Unternehmen müssen politisch Stellung beziehen", so Schmid. Dies zeigt sich unter anderem im Bereich der ESG-Risiken (Environmental-, Social- and Governance-Risiken). Bei den vielfältigen Risiken im globalen Maßstab brauchen Unternehmen eine politische Riskmap, um das Kaleidoskop der Risiken abzubilden und frühzeitig darauf reagieren zu können. Im Denken und Handeln muss in den Szenarien die Dezentralisierung und Fragmentierung der Macht Einzug halten, um die Welt von morgen beschreiben zu können und vor allem die notwendigen Antworten daraus abzuleiten. "Wir werden in einer Welt ohne Zentrum leben", prognostiziert Schmid.