Für Aufsehen und fachliche Diskussionen sorgt derzeit ein Urteil des Bundesgerichtshofes zu einer weiteren Methode der Darlegung der Zahlungsunfähigkeit (BGH II ZR 112/21, Urteil des II. Senats vom 28.06.2022, veröffentlicht am 01.08.2022). Unternehmen, Berater und Insolvenzverwalter können nun mit einer weiteren Methode die eingetretene Zahlungsunfähigkeit feststellen. Dies hat der II. Zivilsenat des BGH in einer Leitsatzentscheidung beschlossen. Das Urteil befasste sich mit der für ein krisenbehaftetes Unternehmen wesentlichen Frage, ab wann es zahlungsunfähig ist.
Die Zahlungsunfähigkeit als maßgeblicher Insolvenzgrund wird allgemein mit einem Berechnungsansatz festgestellt, der seit dem Jahr 2005 als etabliert gilt. Demnach ist ein Unternehmen zahlungsunfähig, wenn es mit den zum Stichtag präsenten liquiden Geldmitteln (Aktiva I) die zum Stichtag fälligen Verbindlichkeiten (Passiva I) nicht decken kann und eine Lücke von 10 Prozent auch nicht mit den im dreiwöchigen Prognosezeitraum zufließenden liquiden Geldmitteln (Aktiva II) bei Gegenrechnung der in diesem Zeitraum fällig werdenden Verbindlichkeiten (Passiva II) schließen kann.
Bei dieser Methode der Erstellung einer erweiterten Liquiditätsbilanz werden entsprechend in jeweiliger Addition die Aktiva I und die im dreiwöchigen Prognosezeitraum zufließenden Aktiva II den Passiva I und den in diesem Zeitraum fällig werdenden Passiva II gegenübergestellt. Wenn ein Unternehmen innerhalb von drei Wochen nicht mindestens 90 Prozent seiner Verbindlichkeiten begleichen kann, ist es zahlungsunfähig.
Die Methode, wie eine Zahlungsunfähigkeit festgestellt wird, hat der Bundesgerichtshof nun de facto verkürzt.
Nach der aktuellen BGH-Entscheidung ist es nun zusätzlich möglich, an jeweils drei Stichtagen innerhalb eines dreiwöchigen Zeitraumes einen vereinfachten Liquiditätsstatus zu erstellen, in dem lediglich die Aktiva I (konkret zum Stichtag präsente Geldmittel aus Kasse, Bank und Forderungen) und die Passiva I (konkret zum Stichtag fällige Verbindlichkeiten) einander gegenübergestellt werden.
Sollte sich an drei aufeinanderfolgenden Stichtagen innerhalb eines dreiwöchigen Zeitraumes bei Gegenüberstellung von Aktiva I und Passiva I herausstellen, dass die Liquiditätslücke jeweils 10 Prozent oder mehr beträgt, gilt das Unternehmen sogar rückwirkend ab dem ersten Stichtag als zahlungsunfähig.
Vorteile für Insolvenzverwalter
Die neue verkürzte Methode bringt vor allem den Insolvenzverwaltern Vorteile, da sie ihnen die Arbeit bei der Darlegung der Zahlungsunfähigkeit deutlich erleichtert. Wenn der Verwalter die Frage der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit prüft, ist er auf eine vollständige und ordnungsgemäße Buchführung des betreffenden Unternehmens angewiesen. Bei dieser verkürzten Methode, die Zahlungsunfähigkeit dreimal nur per Stichtag zu prüfen, werden deutlich weniger Daten benötigt. Insbesondere bei kleineren und mittleren Unternehmen, bei denen regelmäßig die Buchhaltungsdaten in den letzten Monaten vor Insolvenzantragstellung sowie zukunftsgerichtete Finanzpläne nicht oder zumindest nicht vollumfänglich vorliegen, ist dies eine Entlastung für den Insolvenzverwalter.
Die Feststellung des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit ist im Hinblick auf die Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen für den Insolvenzverwalter von enormer Bedeutung. Mittels der verkürzten Methode kann der Verwalter ggf. nach dem ersten Prüfungsstichtag getätigte Auszahlungen zurückholen, die zur Gläubigerbenachteiligung geführt haben.
Risiko Insolvenzverschleppung für Geschäftsführer und Vorstände
Für Geschäftsführer und Vorstände erhöht die neue verkürzte Methode das Risiko, dass der Vorwurf der Insolvenzverschleppung gegen sie erhoben werden kann, da sie ggf. bereits am ersten Stichtag einen Insolvenzantrag hätten stellen müssen. Die Haftungsregelungen, insbesondere § 15b Insolvenzordnung, sehen für Geschäftsleiter eine weitreichende Haftung vor, sobald das Unternehmen zahlungsunfähig ist. Die verkürzte Methode stellt aber quasi erst mit dem letzten Liquiditätsstatus nach drei Wochen fest, ob das Unternehmen bereits zum ersten Stichtag zahlungsunfähig war. Es ist damit bereits eine erhebliche Zeit vergangen, in der das Unternehmen zahlungsunfähig und der Geschäftsleiter in seinem finanziellen Spielraum eingeschränkt war.
Im Hinblick auf die Haftungsregeln in einer Insolvenz drohen dann erhebliche Konsequenzen, wenn zum Beispiel nach dem ersten Stichtag nennenswerte Masseschädigungen durch Auszahlungen ohne entsprechende Gegenleistungen entstanden sind. Diesbezüglich sind allerdings auch ggf. durch die Geschäftsführer und Vorstände getätigte ernsthafte Sanierungsbestrebungen zu berücksichtigen.
Außerdem besteht für Geschäftsführer und Vorstände die Gefahr, dass sie nicht mehr innerhalb der gesetzlichen Frist einen Insolvenzantrag stellen. Die Frist für die Stellung eines Insolvenzantrages beträgt lediglich drei Wochen ab dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit. Der Geschäftsleiter weiß aber mit der verkürzten Methode erst nach drei Wochen, also erst zum Ablauf der Frist für die rechtzeitige Stellung des Insolvenzantrages, dass er einen Insolvenzantrag stellen muss. Ein den gesetzlichen Anforderungen entsprechender Insolvenzantrag wird dann nicht mehr rechtzeitig erstellt werden können. Ein Ablaufen der Frist für die Stellung eines Insolvenzantrages hat neben der Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung des Geschäftsleiters auch eine Verschärfung der Haftung für Zahlungen, die nach dieser Frist erfolgt sind, zur Folge.
Wenig hilfreich für Sanierungsberater
Für Sanierungsberater ist die neue verkürzte Methode wenig zielführend und birgt teils erhebliche Haftungsrisiken. Falls die in einer Sanierungsphase befindlichen Unternehmen das StaRUG-Verfahren oder einen Schutzschirm anstreben, ist eine festgestellte rückwirkende Zahlungsunfähigkeit ein Ausschlusskriterium, da bei beiden Verfahren zwingend nur eine drohende Zahlungsunfähigkeit vorliegen darf. Die BGH-Entscheidung führt hier tendenziell zu verkürzten Berechnungen, die der erforderlichen Abgrenzung zur drohenden Zahlungsunfähigkeit nicht gerecht werden.
Speziell in diesen Fällen sind die nach der etablierten erweiterten Methode anzuwendenden Finanzpläne zwecks Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten für Finanzplandefizite bzw. Finanzplanüberhänge als wesentliches Instrument anzusehen. Auch könnte beispielsweise die Erstellung eines Liquiditätsstatus an drei aufeinanderfolgenden Dienstagen zu höheren Liquiditätsdeckungsgraden führen, als wenn drei Freitage als Stichtage genommen würden. Demzufolge ist hier die vom IX. Zivilsenat (zuständig für Insolvenzrecht) bestätigte und vom Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) propagierte Methode der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit mittels erweiterter Liquiditätsbilanz weiterhin als maßgeblich anzusehen.
Zwei Methoden, unterschiedliche Ergebnisse
Aus unserer Sicht ist festzuhalten, dass Unternehmen und Insolvenzverwalter zur Prüfung der Frage der Zahlungsunfähigkeit beide Methoden nutzen können. Jedoch ist es ratsam, bei vorliegender Ordnungsmäßigkeit und Vollständigkeit der Buchführung die seit dem Jahr 2005 etablierte erweiterte Methode zu wählen und ex ante die zukunftsgerichteten Finanzpläne bzw. ex post die Summen- und Saldenlisten (mit den gebuchten realisierten Verkehrszahlen) einzubeziehen.
In der Praxis führt die neue Methode tendenziell zu verkürzten Berechnungen, die der erforderlichen Sorgfaltspflicht nicht genügen und bei laufender Geschäftstätigkeit (ex ante) die allgemein zur Beurteilung der Zahlungsfähigkeit (Liquiditätsdeckungsgrad in Prozent) geforderten Finanzpläne als Instrumente des in der Krise gebotenen verschärften Controllings außer Acht lassen. Demzufolge sollte – auch im Hinblick auf Zivilstreitigkeiten mit D&O-Versicherungen und parallel laufende Strafverfahren – die vom IX. Zivilsenat bestätigte und vom IDW propagierte Methode der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit mittels erweiterter Liquiditätsbilanz weiterhin das Maß der Dinge sein.
Die beiden dargestellten Methoden führen zudem in der Praxis zu unterschiedlichen Liquiditätsdeckungsgraden, da die neue verkürzte Methode stichtagsbezogen den dreiwöchigen Prognosezeitraum nicht einbezieht und die entsprechende Deckung nicht abbildet. Die unterschiedlichen Ergebnisse dürfen jedoch nicht sein, da die Zahlungsunfähigkeit – unabhängig von den gewählten Berechnungsmethoden – ein objektives Tatbestandsmerkmal und zudem nicht von Bewertungsfragen abhängig ist. [vgl. auch Hochdorfer, BB Betriebsberater 37.2022] Es ist wie bei der Cash-Flow-Berechnung: Man kann ihn mit der indirekten Methode (ausgehend vom Ergebnis) oder mit der direkten Methode (zahlungswirksame Erträge abzgl. zahlungswirksame Aufwendungen) berechnen. Das Ergebnis muss identisch sein.
Auch zur Vermeidung von erheblichen Haftungsrisiken und strafrechtlichen Risiken aufgrund der Abweichungen zwischen den Ergebnissen ist zu empfehlen, an der etablierten erweiterten Methode festzuhalten.
Bei erklärter Anfechtung ist es für die Anfechtungsgegner – also zum Beispiel Finanzämter, Dienstleister und Lieferanten des insolventen Unternehmens, von denen der Insolvenzverwalter Zahlungen zurückfordert – ratsam, die Darlegung der angeblichen Zahlungsunfähigkeit mittels etablierter erweiterter Methode einzufordern, insbesondere wenn ersichtlich eine Zahlungsstockung mit nachfolgender Schließung der Liquiditätslücke durch einen Überhang an zufließenden Geldmitteln vorlag.
Die etablierte erweiterte Methode zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit ist entsprechend weiterhin zu präferieren, auch um die dynamische Liquiditätsentwicklung von Unternehmen realitätsnah abbilden zu können, Manipulationen auszuschließen und ex post bei einem Betrachtungszeitraum von mindestens zwölf Monaten saisonale Schwankungen und Zahlungsstockungen zu erkennen.
Autoren:
Rechtsanwalt René Schmidt ist bei Schultze & Braun als Prozessanwalt sowie in der vorinsolvenzlichen Beratung tätig.
Diplom-Kaufmann (FH) Stefan Höge ist Kreditanalyst und seit mehr als 25 Jahren mit der Erstellung von Zahlungsunfähigkeitsgutachten befasst.