ESG (Environmental, Social & Corporate Governance) und die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft ist in vielen Branchen ein vielfach und auch kontrovers diskutiertes Thema. Kaum eine Strategie, eine politische Agenda, ein Zeitungsartikel, ein Geschäftsbericht oder auch ein Unternehmensporträt, das sich nicht ausführlich mit dem Wort Nachhaltigkeit beschäftigt.
Erst kürzlich wies das britische Magazin Economist darauf hin, dass wir allerdings mit den drei Buchstaben den Planeten nicht retten werden (ESG: Three letters that won’t save the planet) und wies unter anderem auf einen Investitionswahn hin. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten und er wurden Text mit der Überschrift "ESG: Three letters that might save the planet" veröffentlicht.
In diesem kontroversen Umfeld bewegen sich auch Finanzdienstleister, die spätestens seit der Veröffentlichung der Sustainable Finance Strategy durch die EU-Kommission im Juli 2021 Nachhaltigkeitskriterien bei der Risikobewertung berücksichtigen sollten. Auch eine Umfrage der BaFin beschäftigte sich mit der Frage, wie Banken, Versicherer und Wertpapierunternehmen mit Nachhaltigkeitsrisiken umgehen (siehe BaFin Journal Oktober 2021). Die Mehrzahl der 381 in der Studie berücksichtigen Unternehmen aus dem Banken-, Versicherungs- und Wertpapiersektor sind für das Thema Nachhaltigkeit sensibilisiert. Die Ergebnisse zeigen jedoch auch einen großen Nachholbedarf im Risikomanagement, insbesondere bei der Verwendung interner Stresstests, aber auch bei strategischen und organisatorischen Festlegungen.
Wir sprachen mit Tobias Hertel (Lehrstuhl für Finanzierung und Kreditwirtschaft | Ruhr-Universität Bochum), Laura Mervelskemper (GLS Bank), Jens Teubler (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie) und Holger A. Tietz (GovSol GmbH) über das kontrovers diskutierte Thema Nachhaltigkeit und Wege und Herausforderungen, wie Finanzdienstleister ihr Risikomanagement unter ESG-Kriterien ausrichten können. Die Fragen stellten Thomas Kaiser (Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main) und Frank Romeike (Gründer und geschäftsführender Gesellschafter RiskNET).
Führen die Erwartungen der Finanzwirtschaft an die Realwirtschaft bzgl. ESG und damit verbundene Risiken wirklich zu signifikanten Verbesserungen im Sinne einer "besseren Welt"? Oder eher zu Ausweichbewegungen/Arbitrage – nicht regulierte Finanzmärkte, Verlagerungen in Länder, in der ein wirklich belastbares ESG-Rating nicht existiert etc.?
Laura Mervelskemper: Zunächst sollte klar sein, dass sich Unternehmen nicht nur aufgrund der Erwartungen der Finanzwirtschaft um ESG bemühen, sondern dies aus eigenem Interesse im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit des Geschäftsmodells tun sollten. Wir erleben derzeit stärker als je zuvor, dass eine Nicht- oder zu späte Beachtung dieser Themen zu diversen Krisen führt und Unternehmen nicht länger überlebensfähig sind. Dies wird sich in Zukunft zuspitzen, daher sollte die Realwirtschaft die Erwartungen der Finanzwirtschaft eher als Aufforderung und zusätzliche Motivation sehen, sich jetzt der sozial-ökologischen Transformation zu stellen.
Gleichzeitig ist wichtig, dass diese Aspekte nicht losgelöst abgefragt werden und für sich stehen, sondern Verknüpfungen aufgezeigt und berücksichtigt werden. Statt zum reinen Datenlieferanten zu werden, müssen Unternehmen spüren, dass ihre ökonomisch relevanten Nachhaltigkeitsleistungen und -risiken eingepreist und in die Bonitätsanalyse integriert werden. Eine einheitliche Sustainable Finance Regulatorik, wie wir sie derzeit im Aufbau erleben, kann in diesem Zuge die Grundlage dafür darstellen, dass die Anforderungen bzgl. ESG und damit verbundenen Risiken zum neuen "Normal" werden und einheitliche Rahmenbedingungen existieren.
Jens Teubler: Bisher scheint sich das Versprechen der Verschiebung von braunen zu grünen Geschäftstätigkeiten nicht zu erfüllen. Trotz des Wachstums nachhaltiger oder "ESG-konformer" Finanzprodukte, gibt es keinen signifikanten Rückgang bei nicht-nachhaltigen Investitionen und Finanzierungen. Dies könnte jedoch darin begründet liegen, dass sich das Versprechen von "belastbaren ESG-Daten" noch nicht erfüllt hat.
Es bleibt also abzuwarten, ob robustere ESG-Daten oder auch regulatorische Forderungen wie die "Green-Asset Ratio" der EU-Taxonomie tatsächlich zu Ausweichbewegungen führen. Ich erwarte zumindest, dass sich solche Änderungen und Verschärfungen zunächst positiv auf die "Klassenbesten" auswirken werden, sowohl was die Finanzinstitute als auch die Kunden anbelangt.
Holger Tietz: Meiner Einschätzung nach ist das Bewusstsein bei verantwortlichen Managern angekommen, mehr für eine nachhaltigere Wirtschafts- und Lebensweise zu tun als bisher bereits. Es gibt zahlreichen Unternehmen aus dem erfolgreichen Mittelstand, die sich intensiv mit ESG beschäftigen, wissen sie doch, dass auch die gesetzlichen Vorgaben bald für diese KMU relevant werden.
Als Ex-Versicherungsvorstand möchte ich gerne die Nachhaltigkeitspositionierung aus dem Januar 2021 der deutschen Assekuranz hervorheben. Dort haben sich die Versicherungsunternehmen, die weit über 95 Prozent des Marktes repräsentieren, zur Unterstützung des Pariser Klimaabkommens, dem Green Deal der EU, der bundesdeutschen Vorgaben etc. verpflichtet und darüber hinaus sich auf verbindliche Ziele zu mehr ESG in zentralen Teilen ihres Geschäftsmodells festgelegt: Bis 2025 sollen die Liegenschaften in Deutschland treibhausgasneutral sein; bis 2040 sollen auch die Kapitalanlagen klimaneutral sein. Anschließend erfolgt keine Zeichnung mehr von Risiken derjenigen Unternehmen – und zwar weltweit –, die nicht genug für nachhaltigeres Wirtschaften leisten wollen oder können.
Die Fortschritte werden einmal pro Jahr in einem Nachhaltigkeitsbericht für die gesamte Branche transparent publiziert und damit dokumentiert. Das bietet meines Wissens keine andere Branche in Deutschland und Europa. Hier wird die Vorreiterrolle des Versicherungswirtschaft deutlich.
Da auch die EIOPA und die BaFin immer höhere Ansprüche an ein nachhaltigere Wirtschaftsweisen legen, die gesetzlichen Anforderungen an die Nichtfinanzielle Berichterstattung ebenfalls steigen, fällt es einem stark regulierten Wirtschaftszweig immer schwerer, sich "durchzulavieren" und Nachhaltigkeit nur auf dem Papier zu betreiben. Und die Veränderungen eines wesentlichen (weltweiten) Finanzakteurs werden nicht ohne positive nachhaltige Auswirkungen auf andere Wirtschaftszweige bleiben.
Tobias Hertel: Das Formulieren nachhaltigkeitsbezogener Erwartungen dient nicht nur dem idealistischen Streben nach einer "besseren Welt", sondern ergibt sich als zwingende Notwendigkeit einer vorausschauenden Banksteuerung. Die Angst vor möglichen Ausweichbewegungen darf nicht zu einem weiteren Abwarten und einer "Transformation mit angezogener Handbremse" führen. Stattdessen gilt es, insbesondere in Bezug auf Klimarisiken, durch ein proaktives Vorangehen ambitionierte, globale Standards zu forcieren.
Ist es realistisch, für "S" und "G" das gleiche Ausmaß an globaler Übereinstimmung zu erwarten wie für "E"? Oder führt das eher zu Reputationsrisiken für Finanzdienstleister, wenn sie sich "in Dinge einmischen, die sie nichts angehen"?
Holger Tietz: Die Frage ist absolut berechtigt. So legt die im April 2022 verabschiedete EU-Taxonomie ihren Fokus auf "E". Erste Entwürfe für eine Taxonomie zu "S" gibt es bereits und werden derzeit "konsultiert". Von einer EU-Taxonomie zu "G" ist derzeit nichts zu hören.
Aber das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) fokussiert stark auf "S", beispielsweise "Menschenwürde", "keine Kinderarbeit" und so weiter, und auf "G", beispielsweise Bekämpfung der Korruption, und betrifft ja nicht nur die Finanzindustrie, sondern gerade Wirtschaftszweige mit zum Teil langen internationalen Lieferketten in mehreren Ebenen. Automobilhersteller mit weltweit mehr als 10.000 Zulieferern haben schon heute alle Hände von zu tun, um "saubere" Lieferketten nachzuweisen. Auch hier ist ein starker gesetzlicher Druck zu verzeichnen, die die Unternehmen dazu zwingt, ihre Lieferketten zu überprüfen und zu aktiv nachhaltiger zu gestalten.
Einen Reputationsverlust für Finanzdienstleister sehe ich nicht für den Fall, sich in Fragen einzumischen, die sie nichts anginge. Wohl aber im Fall von Greenwashing ...
Tobias Hertel: Selbst aus einer rein finanzwirtschaftlichen Perspektive kann das wachsende Ausmaß der finanziellen Wirkung sämtlicher Nachhaltigkeitsdimensionen nicht ignoriert werden. Finanzdienstleistern drohen demnach weitaus höhere Reputationsrisiken bei einer Ausblendung von Nachhaltigkeitsaspekten, wie die jüngsten gesellschaftlichen Dynamiken offenbaren. Für die Bewältigung der mit "S" und "G" einhergehenden, erhöhten Herausforderungen in der Definition und Quantifizierung können die im Umgang mit "E" aufgebauten Erfahrungswerte und Kompetenzen genutzt werden.
Laura Mervelskemper: Viele Themen im Bereich "E" haben den Vorteil, dass sie messbar sind oder gemacht werden können. Dies trifft auf die meisten Aspekte im Bereich "S" und "G" nicht zu bzw. gestaltet sich aufgrund der noch höheren Komplexität und Perspektivenvielfalt noch deutlich schwieriger. Daher wird es noch herausfordernder werden, hier eine globale Übereinstimmung zu erlangen, die greifbar ist – z.B. analog zum 1,5°C-Ziel. Nichtsdestotrotz können die Themen aus den Bereichen "S" und "G" genauso zu Risiken führen und müssen daher zwingend mitberücksichtigt werden. Daher ist es keinesfalls so, dass dies Dinge sind, die Finanzdienstleister nichts angehen – im Gegenteil liegt das (Reputations-)Risiko vielmehr darin, diese Dinge nicht zu beachten. Solche Themen können von Menschenrechtsverletzungen in der Lieferkette der finanzierten Unternehmen bis hin Korruption bei finanzierten Projekten reichen. Beide Beispiele machen deutlich, wie wichtig es auch ist, sich mit den Themen aus den Bereichen "S" und "G" der finanzierten bzw. investierten Unternehmen auseinanderzusetzen.
Jens Teubler: Gerade im Governance-Bereich sind ESG-Daten bereits heute oft gut, weil sie sich recht einfach erfassen lassen, beispielsweise anhand von Nachhaltigkeitsberichten, Monitoring von Kontroversen und so weiter. Hier gibt es nur deshalb ein Reputationsrisiko, weil Standards und Kriterien zwischen den unterschiedlichen Anbieter stark divergieren können. Das sollte sich jedoch beheben lassen.
Im sozialen Bereich gab es mit dem ersten Entwurf zur Sozialtaxonomie und der ersten Auflage des Lieferkettengesetzes zunächst vielversprechende Ansätze, um zumindest den potenziellen sozialen Schaden von Unternehmen auf der vertikalen Achse (Lieferkette) zu messen. Holger Tietz hatte hierauf bereits hingewiesen. Es hängt also davon ab, ob einige dieser Ideen noch einmal aufgegriffen werden, damit zumindest die größten Risiken minimiert werden können.
Die horizontale oder breite gesellschaftliche Wirkung von Unternehmen ist in der Tat schwerer zu messen als klassische grüne Anlagegüter und Projekte. Bisher werden hier oft eher die Erbsen gezählt, also die Menge unterstützter Projekte in einem Social Bond oder die Anzahl von bewilligten Anträgen in einem Kreditprogramm. In Zukunft sollten aber verstärkt die tatsächlichen Erfolge evaluiert werden und positive gewünschte Veränderungen über längere Zeiträume beobachtet werden. Die dazugehörige Mess-Methodik steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber die entsprechenden Dienstleister können hier meines Erachtens viel von klassischen Evaluationsmethoden in der Entwicklungspolitik lernen.
Ist die herkömmliche Risikoinventur und vor allem die Einteilung von Risiken in einzelne Risikoarten noch zeitgemäß? Oder geht es eher um eine Netzwerkdarstellung von miteinander mannigfaltig verbundenen Risiken?
Laura Mervelskemper: Gerade auf Nachhaltigkeitsrisiken trifft die mannigfaltige Verbundenheit zu anderen Risiken in besonderem Maße zu. Daher sind diese auch nicht als eigenständige Risikoart anzusehen. Die Risikoinventur muss sich vor diesem Hintergrund immer stärker in die Richtung einer Darstellung der unterschiedlichen Wechselwirkungen entwickeln, um Ursache-Wirkungszusammenhänge transparent zu machen und richtige Steuerungsmaßnahmen ergreifen zu können. Insofern bedarf es einer methodisch-strukturellen Erweiterung der Risikoinventur, um die Risiken aus dem ESG-Spektrum adäquat zu berücksichtigen.
Diese "integrierte Risikoinventur" bedarf eines Denkens in Wirkketten und muss auf verschiedenen ESG-Szenarien (Schritt 1) fußen, um entsprechende Risikotreiber bzw. Umwelteinflüsse, wie bspw. physische Folgen der Klimakrise, zu identifizieren (Schritt 2). Im dritten Schritt erfolgt eine Analyse, wie diese auf bestimmte Schlüsselfaktoren des Risikomanagements wirken (z.B. Immobilienpreise). Darauf aufbauend muss die Frage beantwortet werden, was dies für die Risikotreiber innerhalb der Bank, also bspw. die Sicherheitenstruktur, bedeutet (Schritt 4). Im fünften Schritt wird die Auswirkung auf die entsprechenden Modellparameter (z.B. Sicherheitenwerte) beleuchtet.
Tobias Hertel: Die Prozessschritte der Risikoinventur sowie die Einteilung verschiedener Risiken schaffen ein verlässliches Fundament, um die Identifikation, Bewertung und Steuerung von Risiken zu strukturieren. Durch die zunehmende Berücksichtigung von ESG-Risiken, die keine eigenständige Risikoart darstellen, sondern auf sämtliche bekannte Risikoarten einwirken, ist naturgemäß ein stärkeres Denken in Netzwerken von Nöten. In diesem Zuge gilt es den bestehenden methodischen Rahmen etwa um zukunftsgerichtete Verfahren, beispielsweise durch Szenarioanalysen, zu ergänzen und den – zeitlichen – Betrachtungshorizont zu erweitern.
Holger Tietz: Unter strategischen Gesichtspunkten sollten sich Vorstand, Geschäftsführung und Risikomanager über die vernetzten und sich gegenseitig beeinflussenden Risiken in einer vielfältig vernetzten Welt im Klaren sein. Dafür gibt es entsprechende Tools wie Bandbreitensimulationen oder System Dynamics in der Werkzeugkiste des Risikomanagements.
Für eine operative Steuerung von Risiken ist es meines Erachtens zielführender, wenn die beteiligten Personen sich über die gemeinten Risiken verständigen können, ganz konkrete Maßnahmen zur Steuerung der Risiken ergreifen und dann auch die risikomindernde Wirkung verstehen und ggf. nachsteuern können. Dazu bedarf es eines Vokabulars, das einzelne Risikoarten benennt ...
Insbesondere darf die gesetzliche Forderung nach einer quantitativen Bewertung von Risiken und ihre Aggregation nicht vergessen werden. Managemententscheidungen werden immer und wurden schon immer unter Annahmen zu den damit verbundenen Risiken gefällt – einzig die Bedeutung einer rechtssicheren Dokumentation der Entscheidung hat sich in den letzten Jahren deutlich verschärft. Fazit: Ja, die VUCA-Welt wird täglich komplizierter, die Risiken nehmen zu – aber aus diesem Grunde alles in einen Risikotopf zu werfen und dann gesamthaft steuern zu wollen, ist meines Erachtens nicht zielführend.
Handelt es sich bei Nachhaltigkeitsrisiken tatsächlich um "Risiken"? Oder handelt es sich eher um Ursachen für andere Risiken?
Holger Tietz: Schon die BaFin stellte im Dezember 2019 sachlich fest, dass Nachhaltigkeitsrisiken keine (!) neue Art oder Klasse von Risiken darstellen. Eher sind ESG-Risiken in den bekannten, d.h. den versicherungstechnischen, operationellen, strategischen Risiken und auch den Kapitalanlage-Risiken enthalten. Unterschieden wurde im "E"-Bereich aber in sogenannte transitorische und physische Risiken.
Jens Teubler: Die Auswirkungen des Klimawandels sind physisch erfassbare und wissenschaftlich vorhersehbare Schäden, haben globale Ursachen und sind damit meines Erachtens eine eigenständige Risikokategorie. Sie weisen jedoch eine starke dynamische, sprich: nicht-linearisierbare, temporale und räumliche Dimension auf, die es so bei klassischen Risikoarten nicht gibt.
Umgekehrt sind transitorische Risiken meine Ansicht nach zwar ebenfalls bis zu einem bestimmten Grad vorhersehbar, aber deutlich stärker mit den Handlungen der direkt betroffenen Akteure verknüpft. Man könnte sie also in der Tat als Ursachen für andere Risiken begreifen.
Laura Mervelskemper: Das ist eine Frage, wie wir Risiken definieren. Wenn wir uns auf die klassischen Risikoarten konzentrieren, sind Nachhaltigkeitsrisiken eher die Ursache für eine Auswirkung innerhalb der bekannten Risikoarten und sollten nicht als eigenständige Risikoart definiert werden. Wenn wir uns etwas von diesem festen Denkmuster lösen, ist jedoch schnell klar, dass auch die anderen Risikoarten nicht immer losgelöst voneinander betrachtet werden können. Vielmehr handelt es sich um multiple Ursache-Wirkungsgeflechte.
Tobias Hertel: Die Herausforderung oder gar Unmöglichkeit einer exakten Messbarkeit von Nachhaltigkeitsaspekten wirft die Frage auf, ob Nachhaltigkeitsrisiken nicht treffender durch den Begriff der Unsicherheit zu beschreiben sind. Die Breite, Tiefe und Vielschichtigkeit von Nachhaltigkeitsrisiken sprengen die Schubladen der traditionellen Risikosystematisierung. Dabei stehen Nachhaltigkeitsrisiken nicht nur als Auslöser am Anfang der Wirkungskette finanzieller Risiken, sondern wirken zugleich verstärkend und vernetzend entlang der gesamten Wirkungskette.
Was ist wichtiger für eine bessere Messung von ESG-Risiken: Bessere Daten oder mehr Vertrauen in Expertenschätzungen?
Jens Teubler: Wenn Experten ihre Meinung in einem transparenten Prozess bilden, können Expertenschätzungen gerade bei komplexen Fragestellungen einen Mehrwert liefern. Dies ist umso wichtiger, weil ESG-Datenbanken niemals die Fülle notwendiger Informationen liefern werden können. Allerdings darf nicht unterschätzt werden, welches Potential für den Ausbau der Datenbasis derzeit noch vorhanden ist. Allein die Anforderungen der CSR-Direktive werden hier im europäischen Raum zu einem rapiden Zuwachs dieser Daten führen und die Taxonomie wird größere Finanzinstitute dazu ermutigen, mehr nachhaltigkeitsrelevante Daten von ihren Kunden zu erfassen.
Holger Tietz: Hier lege ich den Fokus auf bessere Daten, die der Allgemeinheit zur Verfügung stehen sollten. Allerdings sollten diese vorab von "unabhängigen" Instituten geprüft, aufbereitet und interpretiert werden. Meines Erachtens sind die Informationen aus den großen Kapitalsammelstellen, etwa MSIC oder Blackrock, oder den großen Ratingagenturen nicht unabhängig genug, um als vertrauenswürdige Expertenschätzung anerkannt zu werden.
Ich empfehle eine suprastaatliche Erhebungsstelle oder den Zusammenschluss von mehreren renommierten Universitäten oder Forschungseinrichtungen, die mit hohem Sachverstand und Durchgriffsrechten zum Erhalt der Daten und der dazu passenden Informationen arbeiten. Aber dafür müssen Gelder zur Verfügung gestellt werden.
Tobias Hertel: Die verschiedenen Aspekte und Dimensionen der Nachhaltigkeit führen zwangsläufig zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Einschätzungen. Je nach Kontext und Anwendung ist daher ein flexibler Perspektivenwechsel gefragt. Um Vertrauen in abweichende Einschätzungen und Perspektiven zu schaffen, sind neben einer höheren Transparenz der Standpunkte, Vorgehensweisen und Methoden vor allem standardisierte und verlässliche Daten von Nöten.
Laura Mervelskemper: Wir brauchen beides. Es gibt sowohl Themen, für die es auch in naher Zukunft keine verlässliche Datenbasis geben wird, als auch solche, die sich mit (quantitativen) Daten allein nicht greifen lassen. In beiden Fällen können Expertenschätzungen hilfreich sein. Zudem sind sie eine sinnvolle Ergänzung, solange "bessere Daten" noch geschaffen werden müssen. Gleichzeitig sind Daten oftmals erst für die Vergangenheit vorhanden, während Expertenschätzungen eine zukunftsgerichtete Analyse ermöglichen.
Eine Studie von Flossbach von Storch Research Institute hat die Bewertungen von Nachhaltigkeitsratings mit einer gewissen Marktbedeutung wie MSCI ESG, RobecoSAM und Sustainalytics auf den Prüfstand gestellt. Die Ergebnisse der Studie sind beunruhigend. Denn die Einschätzungen der einzelnen Ratingagenturen zu den Nachhaltigkeitsleistungen ausgewählter Unternehmen weichen erheblich voneinander ab: Auf einer Bewertungsskala von 0 (nicht nachhaltig) bis 100 Punkten (sehr nachhaltig) bewertet beispielsweise die Ratingagentur MSCI ESG den Automobilhersteller Volkswagen mit null Punkten, Sustainalytics vergibt 19 Punkte. Bei RobecoSAM gibt es hingegen 65 Punkte. Ist Volkswagen laut Rating also nun "nicht nachhaltig", "ein bisschen nachhaltig" oder "nachhaltig"?
Holger Tietz: Das ist gutes Beispiel zu meiner Kritik zuvor. Eine unabhängige internationale "Institution" mit entsprechenden Befugnissen, Kompetenzen und finanzieller Mittel könnte hier Standards schaffen. Allerdings bin ich ein Freund dafür, nicht auf eine 100% -Lösung in 100 Jahren zu warten, sondern schnellere Lösungen gleich, die dann kontinuierlich verbessert werden sollten.
Ihre Aussagen sind sehr wichtig, zeigen Sie doch, dass es an einheitlichen Definitionen und Bewertungsstandards mangelt, um für einen weltweit tätigen Konzern wie VW zu einem Zeitpunkt zu einem nachvollziehbaren und transparenten ESG-Rating zu gelangen.
Laura Mervelskemper: Die Uneinheitlichkeit stellt in der Tat ein großes Problem dar. Gleichzeitig macht dieses Beispiel deutlich, dass sich Nachhaltigkeit nicht in einer Zahl ausdrücken lässt. Je nachdem, welche der vielfältigen Facetten aus dem ESG-Bereich beleuchtet werden, wie die Gewichtung aussieht und vor allem, welche Annahmen getroffen werden, können Unternehmen ganz unterschiedlich dastehen. Ohne einheitliche, der Bewertung zugrunde liegende Szenarien kann es gar nicht zu gleichen Ergebnissen kommen. Ein Szenario mit zunehmenden physischen Risiken führt bspw. zu einer anderen Bewertung bei ein und demselben Unternehmen als ein Szenario, das durch drastische Transformationsmaßnahmen und damit hohen transitorischen Risiken ein geringeres Ausmaß an physischen Risiken hervorruft.
Gleichzeitig zeigt das Beispiel, dass es für (a) glaubwürdige Ratingergebnisse und (b) eine sinnvolle Verwendung im Risikomanagement einer einheitlichen und transparenten Methodik sowie aufgeschlüsselten Ergebnissen bedarf. Ohne zu wissen, was genau wie berechnet wird, ist eine adäquate Berücksichtigung im Risikomanagement nicht möglich.
Zudem muss berücksichtigt werden, dass die meisten Ratings sowieso maximal eine Aussage über die ESG-Performance treffen. Um jedoch die tatsächliche Nachhaltigkeit zu bewerten, ist eine Kontextualisierung notwendig, die die Performance in den Zusammenhang mit den planetaren und sozio-ökonomischen Leitplanken setzt. So kann im Sinne der ESG-Performance eine Halbierung der CO2-Emissionen ein wichtiger Schritt sein – liegen die verbleibenden CO2-Emissionen dennoch weit über dem Budget, was dieses Unternehmen im Rahmen des 1,5°C-Ziels noch ausstoßen dürfte, kann von Nachhaltigkeit noch keine Rede sein.
Tobias Hertel: Bestehende Unterschiede von ESG-Ratings erschweren die angemessene und effiziente Bewertung von Nachhaltigkeitsaspekten am Kapitalmarkt. Das Zielbild eines starr definierten, einheitlichen ESG-Ratings (wie im Falle des Kreditratings) kann jedoch den vielfältigen Facetten und Perspektiven der Nachhaltigkeit nicht gerecht werden und birgt die Gefahr einer Beschränkung und Verkürzung relevanter Informationen. Daher ist eine Steigerung der Verfügbarkeit und Verlässlichkeit der zugrundeliegenden ESG-Daten sowie der Transparenz der Vorgehensweise der ESG-Ratingagenturen von essenzieller Bedeutung. Dadurch wird ein qualifizierter Umgang mit unterschiedlichen ESG-Ratings ermöglicht, für den jedoch gleichermaßen eine entsprechende Offenheit und Kompetenz von Anwenderseite erforderlich ist.
Jens Teubler: Die Divergenz bei ESG-Ratings spiegelt ein bekanntes Problem bei semi-quantitativen Bewertungen wider. Die Uneindeutigkeit für die Erfüllung von Kriterien führt zunächst zu abweichenden Beurteilungen innerhalb einer Organisation, während unterschiedliche Gewichtungen und Normierungsverfahren zu teilweise starken Unterschieden zwischen Rating-Agenturen führen. Die Agenturen müssen deshalb in einen Prozess der Konsolidierung treten (gemeinsame Standards), sich stärker an wissenschaftlichen Verfahren für multi-kriterielle Analysen orientieren und ihre Bewertungen besser begründen. Bis dahin sind ESG-Ratings gerade im Bereich der "grauen Wirtschaft" unzuverlässig.
Risikoberichte im Rahmen der Offenlegung umfassten bereits vor expliziter Berücksichtigung von ESG-Risiken oft mehr als 100 Seiten. Können nichtinstitutionelle Investoren weitere Informationen zu ESG-Risiken überhaupt sinnvoll verarbeiten, auch im Licht der teilweise erheblichen methodischen Unterschiede, beispielsweise bzgl. ESG-Ratings?
Laura Mervelskemper: Die Frage müsste vielmehr lauten, wie die Berichte bzw. Informationen so aufgebaut und aufbereitet werden können, dass (auch) nicht-institutionelle Investoren alle Informationen, inkl. derer zu ESG-Risiken, sinnvoll verarbeiten können. Denn dass sie einbezogen werden müssen, steht fest. Sinnvolle Standards seitens der supranationaler Institutionen, wie bspw. die Paris Alignment Benchmarks der EU, können in diesem Zuge hilfreich sein, um ein einfach(er)es Verständnis zu erreichen bzw. Informationen zu aggregieren.
Tobias Hertel: In Bezug auf ESG-Risiken kann die flächendeckende Verfügbarkeit nachvollziehbarer, detaillierter Daten, insbesondere für die vernetzende Funktion der Finanzwirtschaft, als wesentliche Einschränkung benannt werden. Die Weiterentwicklung der – nachhaltigkeitsbezogenen – Offenlegung darf jedoch nicht nur dem Leitbild "mehr ist besser" folgen. Von ebenso großer Bedeutung ist die Schaffung eines standardisierten, transparenten Vorgabenrahmens, durch den eine effizientere Auswertung und ein zielgerichteter Vergleich ermöglicht wird. Dabei gilt es auch von Anwenderseite die unterschiedlichen Informationsbedarfe der verschiedenen Interessensgruppen etwa hinsichtlich des Umfangs und der Detailtiefe zu balancieren.
Jens Teubler: Auch klassische Finanzberichte können sehr umfassend sein. Ihre Kerninformationen liegen jedoch in der Regel tabellarisch vor. Hier sollten vor allem intranationale Gesetzgebungsprozesse Abhilfe schaffen und entsprechende Standards fördern und einfordern. Die Vorschläge der EFRAG für einen EU-weiten Berichtsstandard zu Nachhaltigkeitsinformationen sind hier bereits recht vielversprechend.
[Die Fragen stellten Thomas Kaiser und Frank Romeike]
Tobias Hertel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Finanzierung und Kreditwirtschaft an der Ruhr-Universität Bochum und hat dort die Lehrveranstaltung "Sustainable Finance" mitkonzipiert. Zusätzlich ist er als wissenschaftlicher Assistent des Arbeitskreises "Finanzierung" der Schmalenbach-Gesellschaft tätig. Im Rahmen seiner Forschung beschäftigt er sich mit den vielfältigen Anwendungen der Sustainable Finance in der Finanz- und Realwirtschaft und veröffentlicht hierzu regelmäßig Beiträge in Fachzeitschriften.
Dr. Laura Mervelskemper ist seit 13 Jahren auf der Schnittstelle zwischen Nachhaltigkeit und dem Finanzwesen aktiv. Seit 2018 ist sie bei der GLS Bank tätig, der ersten und größten deutschen Nachhaltigkeitsbank, und leitet gemeinsam mit Jan Köpper die Abteilung "Wirkungstransparenz & Nachhaltigkeit". Sie ist insbesondere verantwortlich für die Weiterentwicklung des internen Nachhaltigkeitsmanagements und beschäftigt sich in diesem Bereich u. a. mit der Messung und Steuerung der Klimawirkung des Anlage- und Finanzierungsportfolios.
Jens Teubler ist Senior Researcher am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Er beforscht Methoden, Modelle und Wirkungslogiken für die Qualifizierung und Quantifizierung von Nachhaltigkeitsindikatoren. Der Fokus liegt dabei auf Konsummustern von Haushalten, Nachhaltigkeitsinformationen in Unternehmen und Banken, Umsetzung der EU-Taxonomie sowie Wirkungsanalysen von grünen und sozialen Anleihen.
Holger A. Tietz ist Geschäftsführer der GovSol GmbH und beschäftigt sich mit den Themenkomplexen Governance, Risk & Compliance (GRC) sowie Nachhaltigkeit (ESG). Er war über 30 Jahre in der Versicherungswirtschaft tätig. Zuletzt von 2012 bis 2018 als Vorstand der INTER Versicherungsgruppe in Mannheim. Dort verantwortete er die Bereich Risikomanagement, Unternehmensplanung & Controlling, Rechnungswesen, Komposit sowie IT und Digitalisierung. Von Hause aus "Bonner" Diplom-Volkswirt absolvierte er ein berufsbegleitendes Masterstudium im Risiko- und Compliancemanagement an der TH Deggendorf.
Thomas Kaiser / Laura Mervelskemper (Hrsg.): Effektives Management von ESG-Risiken in Finanzinstituten, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2023.
Banken, Versicherungen, Asset Manager und weitere Finanzdienstleister spielen bei der Unterstützung der Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft eine wichtige Rolle. Dabei werden sie von ökologischen, sozialen und politischen Risikofeldern herausgefordert.
Wie Sie Ihr Risikomanagement unter diesen ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) optimal ausrichten können, beleuchtet das Praxisbuch "Effektives Management von ESG-Risiken in Finanzinstituten" systematisch – mit Beiträgen führender Finanzdienstleister, Aufsichtsbehörden, Hochschulen, Think Tanks und Beratungsgesellschaften.
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