"Wenn die Fahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete." Das Zitat wird der Nobelpreisträgerin Herta Müller zugeschrieben. Ob es wirklich von ihr stammt ist nicht entscheidend. Dafür aber die Tatsache, dass die in den 1980er Jahren aus Rumänien nach Deutschland übersiedelte Autorin in ihren Werken die kommunistische Diktatur in ihrem Geburtsland thematisiert. Und die Fahnen samt Trompeten sind eben ein Gradmesser für Nationalismus oder eben jeden "Ismus" als eine Art Glaubenssystem – eine Metapher des Dumpfen. Nun zeigt sich in den letzten Jahren in vielen Ländern ein aufkommender Nationalismus ab – gepaart mit scharfen Tönen der politisch Verantwortlichen. Sei es in Deutschland mit der AFD, in Frankreich und dem Front Nationale, in Ungarn, Polen, dem Brexit des Vereinigten Königreichs, in Erdoğans Türkei oder in den USA und Trumps "America first" Dauerslogan. Die Liste ließe sich weltweit beliebig erweitern. Für Europa gesprochen ist dieses dumpfe Dröhnen und Poltern gegen die EU als Institution, gegen anderen Mitgliedsstaaten, Flüchtlinge und Andersdenkende eine Gefahr. Denn neben den wirtschaftlichen Aspekten steht nicht weniger als die Einheit des europäischen Kontinents auf dem Spiel. Der Philosoph Otfried Höffe fasst es in einem Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung in fünf wesentlichen Punkten zusammen: "Die Europäische Union befindet sich in einer tiefen Krise. Erstens verlässt ein wohlhabender Rechtsstaat, das Vereinigte Königreich, die Union. Zweitens haben andere wohlhabende Rechtsstaaten wie Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz den Beitritt abgelehnt. Polen lässt sich, drittens, viele Milliarden Euro überweisen und verweigert – ohne jedes Risiko von Sanktionen – die Solidarität in der Flüchtlingsfrage." Und er fährt fort, dass Griechenland "ohne die Gesamtheit der versprochenen Reformen effektiv durchzuführen, stets neues Geld" erhalte. Zudem schwinde seiner Meinung nach in Polen und Ungarn zunehmend die Rechtsstaatlichkeit.
Nun rächt sich das Versäumen der politisch Verantwortlichen in den Mitgliedsstaaten sowie vonseiten der EU, zu lange fast einzig auf die wirtschaftliche Karte des Zusammenhalts der Europäer gesetzt zu haben. Denn Integration, Vernetzung und Austausch entsteht nicht an den Börsen und noch weniger in den Finanzzentren in London oder Frankfurt. Dazu braucht es einen langfristigen Plan, die Menschen an der EU auch teilhaben zu lassen, abseits von Börsenkursen. Sie mitgestalten zu lassen und dort abzuholen, wo sie Fragen haben und ihnen klare Antworten auf eine immer komplexere Welt zu geben. Ein weiteres Indiz ist die Teilhabe, denn nach Höffes Worten erzwinge man keine Einheit, die nicht auf den Willen des eigentlichen Souveräns, des Bürgers, zurückgehe.
Bei aller Kritik darf eines nicht vergessen werden. Europa heißt abseits der Institution und der politischen Scharmützel vor allem Frieden sowie gesellschaftlicher und kultureller Austausch. Ein Unterfangen, das seit 70 Jahren funktioniert und dessen sich die politisch Verantwortlichen bewusst sein sollten. Ein Blick in die europäische Vergangenheit vor 1945 sollte genügen.