Ich traf Jesus am Kiosk. Er trug ein weißes Leinengewand, Riemchensandalen aus Leder und eine Langhaarperücke. Das war in den 1990er Jahren, Rosenmontag in Köln. Über Geschmack lässt sich bei Kostümen und dem Karneval bekanntlich streiten. Auch darüber, ob Heilige, religiöse Symbole oder die Kirche in Gänze dadurch verunglimpft werden. Aber es ist in Mitteleuropa möglich, zumindest, ohne dass Gefahr für Leib und Leben besteht. Und doch gab es in Europa dunkle Zeiten, in denen solch ein Vergehen den Tod bedeutete. Zeiten, in denen Mörder, Räuber und Vergewaltiger im Namen des christlichen Glaubens Europa und große Teile der damals bekannten Welt unterjochten. Von Kreuzfahrern auf ihren Zügen Richtung "Heiliges Land" bis zu Inquisitoren im angeblichen Auftrag Gottes verübten diese Menschen unvorstellbare Gräueltaten an Andersgläubigen und Andersdenkenden.
Blütezeit in islamischen Ländern
Stillstand als Status quo, verharren im Glauben an Demut, Unterwürfigkeit und ein Leben voller Entbehrungen. Die Devise: "Gott wird es richten". "Deutschlandradio Kultur", schrieb hierzu im Rahmen einer Buchbesprechung zu "Platon in Bagdad" von John Freely: "Im westlichen Europa fand die Blüte der Wissenschaft mit dem Siegeszug des Christentums ihr Ende. Neunhundert Jahre nach ihrer Gründung musste die Platonische Akademie in Athen schließen, weil sie religiösen Eiferern als heidnisch galt." Der Islam erlebte in jener Epoche einen Aufschwung und brachte blühende Kulturen hervor – von Bagdad über Damaskus bis Kairo. In ihnen arbeiteten Wissenschaftler, Philosophien und Künstler aus allen Ländern. Es entstanden Forschungszentren, in denen nach John Freely die Wissenschaft eine neue Heimat in den islamischen Ländern fand. "Führende Ärzte, Mathematiker und Astronomen des Mittelalters lebten in Bagdad, Kairo und Damaskus. Ihre Werke kamen über das islamische Al-Andalus im heutigen Spanien wieder nach Europa und waren später unverzichtbar für Kopernikus, Galilei und Newton", so Deutschlandradio Kultur zum Buch von Freely.
Von religiösen Eiferern im Namen Gottes
Und heute? Die Welt hat sich gewandelt. Frühere islamische Magneten des Fortschritts, Denkens und Forschens versinken vor unseren Augen in Schutt und Asche. Kriege (mit einem indirekten oder direkten Eingreifen des Westens und Russlands) haben ihre tödlichen Spuren hinterlassen. Darauf folgend erleben viele destabilisierte Staaten im Nahen Osten eine Terrorwelle entfesselter Gruppen – mehr oder weniger im angeblichen Namen Allahs handelnd.
Im Grunde haben wir es bei der aktuellen Islamismus-Debatte mit ähnlichen Vorzeichen zu tun, wie im christlichen Abendland des Mittelalters. Wenn Religionen von Eiferern benutzt werden, um Menschen gefügig zu machen, führt das unweigerlich in die Sackgasse. Angst erzeugen, statt Vertrauen zu fördern, Hass sähen statt (Nächsten-)Liebe vorzuleben. Als religiöse Speerspitze dient ein falscher Glaube. Nämlich, dass Gott "gute und böse" Menschen unterscheidet – die einen dem scheinbar wahren Glauben angehörend. Die anderen als Ungläubige, Heiden oder Anhänger der "Religionen des Buchs" abgestempelt. Die einzig wahre Auslegung der Religion wird zum Dogma und führt selbst zu inneren und teils brutalen Glaubenskämpfen. Sunniten gegen Schiiten (siehe auch Infokasten "Beispiel Irak"), Katholiken gegen Protestanten (unter anderem der Dreißigjährige Krieg) oder ultraorthodoxe Juden gegen den eigenen Staat Israel. Es geht um Schwarz-Weiß-Denken, bei dem das farbenfrohe Spektrum des Lebens und Akzeptierens sowie Respektierens des Anderen keinen Platz findet.
Religiöse Mauern werden aufgebaut, ein Wagenburgdenken gefördert und alles Fortschrittliche als "Teufelswerk" abgelehnt. Randnotiz: Der IS weiß die modernen sozialen Medien für die eigene Propaganda sehr wohl professionell und ausgiebig für sich zu nutzen. Ein Umstand, den jüngst die Wochenzeitung "Die Zeit" in einem Feuilleton-Beitrag zu "Kino gegen den Dschihad" thematisierte: "Anders als die Menschen, die sie besiegt haben, sind sie bis an die Zähne bewaffnet und mit neusten Smartphones, Jeeps und Motorrädern ausgestattet. Das grundlegende Paradox ihrer Welt, nämlich die Verbindung antiquierter und despotischer sozialer Werte mit modernster Technik …"
Die Furcht der Hassprediger vor Wahrheit, Witz und Satire
Es ist die Angst der Hassprediger vor dem Lachen, vor der Karikatur, der Satire und dem Menschen als Individuum auf der Suche nach der Wahrheit. Der Titanic-Chefredakteur, Tim Wolff, schrieb hierzu nach den Morden an den französischen Satire-Mitarbeitern von "Charlie Hebron", dass Fanatiker, speziell religiöse, Komik verachten. "Sie vertreten eine todernste, einzige ewige Wahrheit, und der Witz – egal wie klug oder lustig er im Einzelfalle sein mag – bedroht diese Wahrheit. Religion (und so manch andere Weltanschauung) ist Wahnsinn im Kleide der Rationalität, Satire und Komik Rationalität im Kleide des Wahnsinns. Das eine muss das andere missverstehen. Deshalb werden Vertreter des heiligen Ernstes der Komik stets mit Zorn begegnen. Und es ist ihr gutes Recht. Solange sie dies mit denselben Waffen wie Satiriker tun: mit Wort und Bild. Und nicht mit Maschinenpistolen."
Anders ausgedrückt: Wer Religion als Machtinstrument missbraucht, der muss sich vor der Wahrheit, der Satire und dem Witz fürchten. Vor dem Risiko als Demagoge, Machtmensch, Sklaventreiber oder Mörder entlarvt zu werden – im Mittelalter wie heute. Oder wie "Die Zeit" schreibt: "… nicht aus Frömmigkeit engagieren sie sich für den Dschihad, den sie lediglich instrumentalisieren, um sich gegenüber einer Gemeinschaft mit uralten spirituellen Traditionen aufs hohe Ross zu setzen". Vielmehr geht es den Schein-religiösen Söldnern um "Macht, Frauen und Reichtum."
Beispiel Irak: Nährboden für radikale Gruppen
Der dritte Golfkrieg, der im März 2003 unter Federführung der USA und einer "Koalition der Willigen" im Irak begann, brachte die Zerschlagung des alten Regimes unter Saddam Hussein. Seit dem militärisch erzwungenen "Umsturz" kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Sunniten, Schiiten, Kurden und ausländische Terrorbanden tragen seit Jahren einen erbitterten Konflikt im Irak aus. Das Land, um seine Kulturgüter, das Wissen und der Identität beraubt, taumelt dem Abgrund entgegen. Mord, Totschlag und Willkür allerorten, dem bis dato Hunderttausende Menschen zum Opfer fielen. Die nach dem alten Machthaber Saddam Hussein installierten Regierungen sind zu schwach, um dem täglichen Gemetzel ein Ende zu setzen. Das Militär ist zerschlagen, Politiker und Polizei sind korrupt. Zudem haben führende Mitglieder der ehemaligen Baath-Partei, Milizionäre und Geheimdienstmitarbeiter Rache geschworen. Sie akzeptieren keine schiitische Regierung, fühlen sich unterdrückt. In dieses Vakuum eines chaotischen Staatsgebildes ohne feste Strukturen sprang ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien). Die Terrorgruppe entstand zunächst unter dem Namen "Tawhid und Dschihad" 2003 im Irak, um gegen die US-amerikanischen Besatzer zu kämpfen. Nach einer Namensänderung ist die Terrorgruppe mittlerweile als Islamischer Staat (IS) bekannt und geht mit einer bisher nicht gekannten Brutalität im Irak und Syrien vor. Der IS dient unter anderem den ehemaligen und nun entwurzelten Baath-Anhängern sowie "Gesinnungsgenossen" aus allen Teilen der Welt als Sammelbecken. Geistiger Kopf des IS und selbsternannter Kalif ist Abu Bakr al-Bagdadi.
Nach massiven Eroberungszügen im Irak und Syrien hat der IS große Landesteile unter seien Kontrolle gebracht und mittlerweile ein eigenes Kalifat ausgerufen mit der Hauptstadt im syrischen Raqqa.