Der jüngst zu Ende gegangene RiskNET Summit zeigte eines deutlich: Wir befinden uns inmitten einer neuen Zeit, die ungleich komplexer erscheint in der Folge zunehmende geopolitische Zerwürfnisse, wirtschaftliche Unwägbarkeiten und gesellschaftliche Spannungen. Um in dieser Gemengelage als Unternehmen zu bestehen, braucht es Plan und Ziel. Doch das ist oft leichter gesagt als umgesetzt, gerade wenn der Blick auf die Wirklichkeit und das Kommende verstellt scheint. Mithilfe des Wargaming lassen sich Modelle entwickeln und Szenarien durchspielen. Wir sprachen mit Oberstleutnant Thorsten Kodalle, Dozent für Sicherheitspolitik bei der Führungsakademie der Bundeswehr und renommierter Wargaming-Experte, über das Wargming im Allgemeinen und im geopolitischen Kontext.
Im Rahmen Ihres Vortrages sprachen Sie von Simulationen und Wargames. Können Sie die Begriffe im Kontext des Risikomanagements konkretisieren und einordnen?
Thorsten Kodalle: Wargaming und Simulation basieren auf Modellbildung. Ein Modell ist eine vereinfachte Betrachtung der Wirklichkeit, strenggenommen ist es damit immer falsch, kann aber immer noch sehr hilfreich sein. Abstraktion fokussiert auf relevante Elemente der Realität. Ein Model über die Zeit betrachtet ist eine Simulation. Wargaming trifft auch Annahmen über die Realität und enthält als wesentlichen Bestandteil Menschen, die Entscheidungen treffen, deren Konsequenzen sie im Wargame erleben, erleiden und aushalten müssen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu einer Szenarioanalyse. Eine Szenarioanalyse kann allerdings eine Modellannahme für ein Wargame werden. Wenn es China gelingt im Bereich der Mikroprozessoren vergleichbare Fähigkeiten wie die Chipproduzenten in Taiwan aufzubauen und damit die diesbezügliche Abhängigkeit verliert, würde China Taiwan dann angreifen? Und was bedeutet das für den Rest der Welt, insbesondere Europa? Was bedeutet das für die Logistikketten und die Wertschöpfungsketten? Wie hoch bewerten wir so ein Risiko und was sind geeignete Maßnahmen zur Mitigation? Sie können also ein Modell einer solchen Welt bauen, damit ein Szenario entwerfen und analysieren und es dann mit einem Wargame im wahrsten Sinne des Wortes durchspielen.
Wie lässt sich die Wargaming-Methode im Kontext geopolitischer Risiken einsetzen?
Thorsten Kodalle: Wargaming lässt sich primär einsetzen für Experimentation, Training und Bildung. Letzteres bereitet uns für und auf das Unvorhergesehen vor. Training bereitet uns für das Vorhersagbare vor. Experimente finden uns Lösungsmöglichkeiten für zukünftige Herausforderungen zu finden. Im Bildungsbereich geht es meiner Meinung nach vorrangig darum, Unvorhergesehenes zu identifizieren und damit vorhersehbar zu machen. Niemand kann eine Liste machen der Sachen, an die er nicht gedacht hat, aber das Wargaming kann helfen solche blinden Flecken zu identifizieren, und zwar auf allen Ebenen. Sie können ein geopolitisches Risiko erstmal angemessen wahrnehmen und akzeptieren, zum Beispiel den Klimawandel oder die Fragilität der kritischen Infrastruktur, auch der globalen, Stichwort Unterwasserdatenkabel. Wenn sie dann in diesem Kontext ein Wargame durchführen, denken sie so intensiv darüber nach, dass sie zukünftig den sogenannten Normalitäts-Bias vermeiden. Der Normalitäts-Bias verleitet sie oft dazu, die aktuelle Situation als normal und langfristig stabil zu betrachten. Veränderungen werden dann für unwahrscheinlich gehalten und radikale Veränderungen werden als abwegig verworfen.
Haben Sie hierzu ein Praxisbeispiel?
Thorsten Kodalle: Eines der am einfachsten zugänglichen Beispiele eines Wargames zu einem geopolitischen Risiko ist das Wargame des Think Tank Centre for New American Security, kurz CNAS, zum Konflikt zwischen China und Taiwan. Einfach bei YouTube suchen unter CNAS und Wargaming und dann NBCs Meet the Press Beitrag finden. Da wird in 26 Minuten das eindrucksvoll dokumentiert, wie ein militärisches Wargaming auf strategischer Ebenen funktioniert.
Zum Ukraine-Krieg gibt es ebenfalls zahlreiche Treffer, insbesondere die Amerikaner und die Briten unterstützen die Ukraine bei der aktuellen Operationsführung auch mit Wargaming. Aus dem nicht-militärischen Bereich kann ich die Social Simulations des Institutes for the Future, also von Jane McConigal empfehlen. Als Gamerin und Futurologien spielt sie die Megatrends der regelmäßig durch. 2008 eine Pandemie wie die aktuelle und aktuell Massenmigration. Ihr aktuelles Buch "Bereit für die Zukunft" erklärt ihren Ansatz ganz genau.
Mein persönliches Beispiel fand in meiner Lehre statt. Am 7. Februar 2022 griff in meinem Seminar Sicherheitspolitik der Akteur Russland im 1. Spielzug die Ukraine an und dreht im 2. Spielzug Europa den Gashahn ab. Wir haben damals schon über die Gefahr von Blackouts in Bezug auf den niedrigen Stand der strategischen Gasvorsorge gesprochen, damals unter 20 Prozent. Am 24. Februar 2022 habe ich dann sofort die Entscheidung getroffen, eine Wärmepumpe in mein Haus einzubauen. Damit hatte ich mich zwar schon grundsätzlich beschäftigt, aber die Entscheidung immer wieder vertagt. Das Wargame in meinem Seminar hat mir die Entscheidung dann sehr leicht gemacht. Das ist jetzt mein kleiner Beitrag zur strategischen Autonomie Deutschlands. Und für alle die einen Wärmepumpe haben gilt übrigens: Die haben ein Stromproblem und damit ein Wärmeproblem. Das darf nicht getrennt betrachtet werden.
Woran liegt es, dass das Wargaming hierzulande noch nicht so weit verbreitet ist?
Thorsten Kodalle: Preußen hat mit der Entwicklung des Kriegsspiels einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der Methode geleistet, der international von vielen in der Regel englischsprachigen Nationen sehr erfolgreich angewendet wird.
In Deutschland haben wir das einfach verlernt, so wie wir viele andere Kompetenzen verlernt haben. Genauso wie wir unseren zivilen Katastrophenschutz und unsere Streitkräfte kaputt gespart haben. Das ging Hand in Hand mit der Friedensdividende, die wir realisieren wollten und eines grundsätzlichen Pazifismus. Begriffe wie "Krieg" oder "Wargaming" wurden vermieden und sollten vermieden werden. Mein Seminar "Gamification of Strategic Thinking" heißt so, weil man mich 2019 bat, den Begriff "Wargaming" im Titel zu vermeiden. Heute könnte ich das Seminar sicherlich "Wargaming for Strategy Development" nennen.
Paradoxerweise war nicht nur der Begriff "War" problematisch, sondern auch der Begriff "Game". Der Begriff "Game" ist immer noch problematisch und Unkundige vermuten dann den Einsatz von Spielen wie "Monopoly", weil sie in ihrem Leben nie andere Spiele gespielt haben. Und den Einsatz von Spielen wie "Monopoly" für seriöse Zwecke erscheint ihnen zweifelhaft, daher verwerfen sie den Einsatz aller Games, inklusive Serious Games. Ich nutze inzwischen gerne die Formulierung "didaktisches Lernspiel" aus der Blackout Simulation "Neustart". Das klingt unverfänglich und sinnvoll. Lernen wollen wir ja alle was und didaktische Lernen erscheint besonders wirksam.
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Thorsten Kodalle ist an der Führungsakademie der Bundeswehr als Dozent für Sicherheitspolitik mit den Schwerpunkten transatlantische Sicherheit, Kritische Infrastruktur und Cyber tätig. Er trat im Jahr 1986 in die Streitkräfte ein, studierte Staats- und Sozialwissenschaften, absolvierte die Ausbildung zum Stabsoffizier im Generalstabsdienst.
Er beschäftigt sich mit strategischer Zukunftsanalyse, Streitkräfteplanung und Entscheidungsunterstützung, unter anderem mit computergestützten Simulationssystemen, aber auch manuellem Wargaming in der Ausbildung von Führungspersonal. Aktuell ist er der deutsche Vertreter in der NATO-Studie "Gamification of Cyber Defence/Resilience", in die er die Aspekte des manuellen Wargaming einbringt.