Ein Blick auf die Eurozone präsentiert uns einen großen Scherbenhaufen, der von Jahr zu Jahr größer wird. Seit Jahren stolpert die Eurozone von Krise zu Krise und übt sich in einem reaktiven Krisenmanagement. Während die Wettbewerbsfähigkeit des Südens Europas am Boden liegt, findet sich der Norden in einer Rettungs- und Verschuldungsspirale wieder, der er nicht mehr leicht entkommen kann. Das aktuelle Buch "Der Euro – Von der Friedensidee zum Zankapfel" von Hans-Werner Sinn ist eine aktualisierte Übersetzung des Buches "The Euro Trap. On Bursting Bubbles, Budgets and Beliefs", das Mitte 2014 bei Oxford University Press veröffentlicht wurde.
Die Monographie fasst das aktuelle Wissen zur Eurokrise zusammen, mit dem sich Hans-Werner Sinn als Präsident des ifo-Instituts über viele Jahre beschäftigt hat. Es analysiert die Geschehnisse in der Europäischen Zentralbank und versucht die Ereignisse zu erklären, die Südeuropa in eine tiefe und noch lange nicht überwundene Depression gestürzt und viel Unfrieden und Streit zwischen den Ländern Europas hervorgerufen haben.
In insgesamt neun Kapitel analysiert Hans-Werner Sinn den Weg von der Gründung der europäischen Gemeinschaft bis zum Rettungswahn und schlussendlich potenzielle Wege zu einer stärkeren Integration in Europa bis hin zu einem gemeinsamen europäischen Staat.
Die Europäische Union hat die Europäer vom Joch des Nationalismus befreit und den Völkern Europas Freiheit und Prosperität beschert, so Hans-Werner Sinn in seiner Einleitung. "Ihre Stabilität beruht auf einem freiwilligen Zusammenschluss zur Erleichterung des Handels und zur Verfolgung gemeinsamer Ziele." Diese Stabilität wird jedoch heute durch die Eurokrise gefährdet. Seit Jahren schwelt der Streit über die ungelöste Schuldenproblematik und den richtigen Weg, die tief greifende Wirtschaftskrise Südeuropas und Frankreichs zu überwinden. Der Norden sieht sich in die Rolle des Zahlmeisters gedrängt und wird von der EZB in Geiselhaft genommen. So wächst auf beiden Seiten die Unzufriedenheit. Wir haben einen politischen Weg eingeschlagen, der unsere Marktwirtschaft, die Demokratie und den Frieden in Europa gefährdet, so der renommierte Ökonom weiter.
Hans-Werner Sinn analysiert akribisch und fundiert welche Fehler in der kurzen Geschichte des Euro gemacht wurden. In diesem Kontext erläutert er vor allem, warum das Eurosystem in seiner gegenwärtigen Form nicht überleben kann. Er bietet fundierte Argumente, warum es im Interesse einzelner Euroländer liegen könnte, temporär aus dem Euro auszutreten und ihre neue Währung abzuwerten, um ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen. "Das wäre nicht nur für sie die einfachste Möglichkeit, sondern böte auch die Möglichkeit, das Eurosystem zu stabilisieren. Ich bin davon überzeugt, dass die Europäer beim Aufbau eines gemeinsamen Staates durch eine Phase des »atmenden Euro« gehen müssen, eine flexiblere Währungsunion, die irgendwo zwischen dem Dollar und einem Festkurssystem wie dem Bretton-Woods-System angesiedelt ist, das in der Nachkriegszeit herrschte."
Hans-Werner Sinn favorisiert eine große Schuldenkonferenz, um die privaten und öffentlichen Bilanzen der austretenden Länder zu reinigen und sie von einer untragbaren Schuldenlast zu befreien. "Je früher diese Schuldenkonferenz tagt, desto schneller wird eine Erholung stattfinden können", so Hans-Werner Sinn weiter. Denn eine solche Konferenz könnte die Steuerzahler langfristig entlasten, obwohl sie über die Rettungsschirme bereits selbst zu Gläubigern geworden sind, weil sie künftig davor geschützt werden, immer mehr Schulden der Banken und Staaten Südeuropas zu übernehmen. Sinn weiter: "Außerdem würde sich ein disziplinierender Effekt für die Zukunft ergeben, weil Investoren wüssten, dass sie ein Risiko eingehen, wenn sie überschuldeten Staaten und Banken Geld leihen. Die Selbstkontrolle des Kapitalmarkts funktioniert zwar nicht immer, aber ganz bestimmt funktioniert sie nicht, wenn man den Anlegern sagt, dass die Konsequenzen einer Fehlentscheidung von der öffentlichen Hand übernommen werden." In diesem Kontext setzt sich der Ökonom auch mit dem "Moral-Hazard-Effekt" auseinander. Ein Moral Hazard droht immer dann, wenn Individuen davon befreit werden, für potenzielle negative Folgen ihres Handelns selbst einzustehen, weil diese Kosten von einer größeren Gruppe (einem Kollektiv) übernommen werden. Kurzum: Das entsprechende Risiko wird "sozialisiert".
Hans-Werner Sinn trägt mit seinen fundierten und umfassenden Analysen dazu bei, ein tieferes Verständnis für die ökonomischen Hintergründe der europäischen Krise zu entwickeln und Wege zur Überwindung der Funktionsstörungen des Eurosystems zu finden, damit Europa das Knäuel seiner finanziellen Verstrickungen entwirren kann und wieder eine Zukunftsperspektive und Strategie entwickelt. Hierbei ist es dem Münchner Ökonomen vor allem (einmal wieder) gelungen, komplexe ökonomische Zusammenhänge verständlich darzustellen und potenzielle Alternativen aus der Krise aufzuzeigen.