Nach der Lektüre des Büchleins "Die Jahrhundertkrise" wird dem Leser bewusst, dass die aktuelle Finanzkrise vor allem durch eine Eigenschaft charakterisiert werden kann: durch Komplexität. Daher legt der Autor bereits im Vorwort die Latte nicht zu hoch und weist deutlich darauf hin, dass es nicht die eine, glasklare Erklärung für das Desaster gibt, das die Welt seit dem Sommer 2007 und noch mehr seit dem Herbst 2008 aus den Fugen gebracht hat. Basierend auf den Analysen und Meinungen internationaler Top-Ökonomen beweist Olaf Storbeck, dass die vielen griffigen, fernsehtauglichen Erklärungen, die im Angebot sind, zwar meist ein Körnchen Wahrheit enthalten – aber mehr auch nicht. So räumt er u. a. mit dem Argument auf, dass die Gier auf der Vorstandsebene und bei den Investmentbankern als Kernursache gilt. Dieser Erklärungsansatz ist ungefähr so richtig wie der Versuch, einen durch Raser im Nebel verursachten Massenunfall auf der Autobahn mit dem menschlichen Mobilitätsdrang zu erklären: Natürlich würde es ohne Mobilitätsdrang keine Unfälle auf der Autobahn geben. Als alleinige Erklärung für eine konkrete Massenkarambolage aber wäre sie viel zu unspezifisch – und damit nichtssagend, so Storbeck.
Der Autor nähert sich dem Thema aus einer anderen Perspektive: Wer die richtigen Schlüsse aus der Finanzkrise ziehen will, muss die komplexen Ursachen verstehen. Mindestens zwei Arten von Ursachen, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen, gilt es dabei – nach Ansicht von Storbeck – zu unterscheiden: Erstens haben mehrere langfristig wirkende Phänomene in den vergangenen 25 bis 30 Jahren die Voraussetzung für die Krise geschaffen. Diese erste Gruppe von eher indirekt wirkenden Faktoren liegt auf gesamtwirtschaftlicher Ebene. Es handelt sich um "makroökonomische Ursachen". Zweitens sind in den zehn Jahren vor Ausbruch der Krise im August 2007 eine Reihe von konkreten Fehlentwicklungen und Irrtümern in mehreren Bereichen der Wirtschaft zusammengekommen, die die Krise konkret verursacht haben. Diese direkten Ursachen liegen größtenteils auf der Ebene einzelner Unternehmen und Akteure und werden daher "mikroökonomische Faktoren" genannt.
Die wichtigsten indirekten Ursachen, die den makroökonomischen Rahmen für die Krise bilden, sind aus Sicht des Autors u. a. blinde Marktgläubigkeit, ein trügerisches Gefühl der Sicherheit, die weltweite Jagd nach Rendite und zu billiges Geld. Die direkten Ursachen der Finanzkrise sind u. a. der irrationale Überschwang auf dem US-Immobilienmarkt, komplexe und falsch bewertete Finanzprodukte, das System der Schattenbanken, neue Eigenkapital- und Bilanzierungsregeln für Banken sowie falsche Anreizsysteme in der Finanzbranche.
Im Gegensatz zu der überwiegenden Anzahl der Publikationen rund um die Finanzkrise konzentriert sich Storbeck nicht auf eine isolierte Analyse der mikro- bzw. der makroökonomischen Aspekte, sondern hat in seinem kompakten Buch das aktuelle akademische Wissen zur Erklärung der Finanzkrise zusammengetragen und zu einem Gesamtbild verdichtet.
In einer verständlichen Sprache liefert der Autor Antworten auf viele Fragen: Was hat Friedrich der Große mit der zweiten Weltwirtschaftskrise zu tun? Was können wir von evangelikalen Christen über die Ursachen der Misere lernen? Und was würde der Krisenökonom John Maynard Keynes empfehlen? Warum hat US-Präsident Franklin Delano Roosevelt durch die Einsamkeit der Blue Ridge Mountains eine 775 Kilometer lange Straße bauen? Warum brachen vor rund 80 Jahren die Danatbank und die Dresdner Bank zusammen? Welche Parallelen und Unterschiede existieren zwischen der "Großen Depression" und der aktuellen Jahrhundertkrise?
Das Buch kann allen Lesern empfohlen werden, die sich in einer kompakten Form und basierend auf der aktuellen wissenschaftlichen Forschung mit den Ursachen und Lehren der Finanzkrise beschäftigen möchten. Das Gesamtbild wird lediglich durch kleinere Ungenauigkeiten getrübt. So sind "Structured Investment Vehicle" keine Tochterfirmen, die Banken für besonders riskante Geschäfte nutzen (Seite 59). Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Refinanzierungsstruktur, bei der mittels einer Zweckgesellschaft (Special Purpose Vehicle) bestimmte Forderungen gekauft werden. Refinanziert werden diese Investments durch die Ausgabe von Asset Backed Commercial Papers, d. h. Geldmarktpapiere, deren Zins- und Kapitalzahlungen durch die Cash-Flows eines Forderungsportfolios bedient werden. Außerdem irrt der Autor, wenn er auf Seite 61 darauf hinweist, dass die IKB im Geschäftsbericht 2006/07 auf die "Notfall-Kreditlinie" in Höhe von 8,1 Mrd. Euro nicht hingewiesen hätte. Auf den Seiten 80 ff. des – nicht revidierten – Geschäftsberichts kann folgendes nachgelesen werden: "Um den Diversifikationsgrad unserer Kreditaktiva und gleichzeitig die Ertragsstärke unseres Portfolios weiter zu verbessern, investiert die IKB zusätzlich in verbriefte internationale Kreditportfolien. […] Diesen Gesellschaften stellen wir neben anderen Banken auch Liquiditätslinien zur Verfügung." Auf Seite 198 wird es dann konkreter: "In dem Posten Andere Verpflichtungen sind Kreditzusagen über insgesamt 11,9 Mrd. Euro Gegenwert an Spezialgesellschaften enthalten, die nur im Falle von kurzfristigen Liquiditätsengpässen bzw. vertraglich definierten Kreditausfallereignissen von diesen in Anspruch genommen werden können."
Trotz dieser kleinen Schwächen kann das gut lesbare Buch jedoch uneingeschränkt als Basislektüre – jenseits der allgemeinen populistischen Schlaumeier-Literatur – empfohlen werden.
Rezension von Frank Romeike
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