Komplexe Systeme

Die Katastrophengesellschaft. Warum wir aus Schaden nicht klug werden.


Rezension

Das Buch beginnt mit einer Frage: "Wo waren Sie am 11. September?" Man muss die Frage nicht präzisieren. Wenn vom 11. September die Rede ist, dann weiß jeder, dass nicht der 11. September 1881 gemeint ist. Damals ereignete sich in dem Örtchen Elm im Schweizer Kanton Glarus ein verheerender Felssturz, dem 114 Menschen zum Opfer fielen. Verursacht wurde der Bergsturz durch menschliche Fahrlässigkeit, dennoch sprach man verschleiernd von einer "Naturkatastrophe". Und wo waren Sie in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986? Diese Frage werden die meisten Menschen nicht ohne Weiteres beantworten können. Auch wenn man die Frage andersherum stellt, wird man auf Erinnerungslücken stoßen: In welchem Jahr ereignete sich die Atomkatastrophe von Tschernobyl? Die Gründe für diese Erinnerungslücken sind für den Autor transparent: Die Reaktorkatastrophe fand nicht "bei uns" statt, nicht in Deutschland, Frankreich oder den USA, sondern in der Sowjetunion, an der ukrainisch-weißrussischen Grenze. Die Katastrophe von Tschernobyl wurde auch nicht weltweit live übertragen, sondern tagelang verheimlicht.
Die Frage, was eine Katastrophe ist, wird subjektiv unterschiedlich beantwortet.

Allgemein versteht man unter einer Katastrophe ein entscheidendes, folgenschweres Unglücksereignis. Etymologisch kann Katastrophe auf die "Wendung zum Niedergang" zurückgeführt werden. Diese Wendung zum Niedergang kann mit einem persönlichen Notfall (Arbeitslosigkeit, Krankheit etc.), örtlichen Schadenfällen (Überschwemmung, Brand etc.), einer großflächigen Zerstörung von Leben, Infrastruktur und Hilfsmöglichkeiten eines ganzen Lebensraumes (Hurrikan, Tsunami etc.)  oder bis zum Untergang ganzer Gesellschaften (Inkareich, Römisches Reich etc.) zusammenhängen.
Autor Ulrich Teusch ist sich sicher: Die Welt ist so sicher wie nie – und so katastrophenträchtig wie nie. Das ist kein Widerspruch, sondern ein Dilemma. Unsere sicherheitsfixierte Gesellschaft hat sich in eine Sackgasse manövriert. Der Autor weist darauf hin, dass nach Katastrophen – man denke an 9/11 sowie der Tsunami-Katastrophe Ende 2004 – relativ schnell wieder unterhaltsamere Themen in den Brennpunkt der medialen Aufmerksamkeit geraten. Je größer der zeitliche oder räumliche Abstand zu einer Katastrophe, desto unwirklicher wird sie und desto "entspannter" gestaltet sich der Umgang mit ihr. Das menschliche Leid rückt in weite Ferne.

Eine zentrale These von Ulrich Teusch: Wir leben in einer Zeit permanenter Nachrichten von Katastrophen und irgendwie müssen wir uns damit arrangieren. Könnte es nicht sogar sein, fragt sich Teusch selber, ob wir die vielen Nachrichten über Katastrophen rund um den Erdball sogar gebrauchen, um ein Ventil für unsere Empörungswut oder unser frei herumvagabundierendes Mitleid zu haben. "Die Katastrophengesellschaft ist ein guter Nährboden für Schwarzmaler oder Schönredner."  Katastrophen, so verheerend sie auch immer gewesen sind, haben auch dazu beigetragen, den Blick auf ‚Lücken im System’ oder auf technische Unvollkommenheiten zu schärfen.

Das katastrophische Potenzial des technischen Systems in seiner Gesamtheit übertrifft bei Weitem das entsprechende Potenzial spektakuläre Einzelereignisse. Die Verschmutzung der Meere beispielsweise wir zu einem geringen Teil durch große Tankerunglücke verursacht; der weitaus größte Teil der Verschmutzung resultiert aus dem, was täglich beim sorglosen Be- und Entladen, beim erlaubten und unerlaubten Reinigen der Öltanks auf hoher See und durch kleinere Lecks der Schiffsmaschinen ins Wasser gelangt. Wie der technische Fortschritt ständig Probleme löst, die vermeintlichen Lösungen jedoch immer wieder neue, technisch zu lösende Probleme hervorbringen, so produziert er immer größere Sicherheit und zugleich immer größere Gefahrenlagen. Den Gefahren versucht die Gesellschaft durch immer neue aufwendigere sicherheitstechnische Maßnahmen beizukommen, ohne doch je wirklich Sicherheit erlangen zu können.

Die Schwäche von Ulrich Teschs Essay liegt vor allem darin, dass der Leser nur wenige Antworten – jenseits der Allgemeinplätze – auf die vom Autor präsentierten Fragen (insbesondere die auf dem Cover: Warum wir aus Schaden nicht klug werden) erhält. "Die Katastrophengesellschaft" beglückt den Leser mit vielen kleinen Geschichten und Anekdoten, die entweder ironisch, manchmal auch polemisch, zynisch und pointiert, in jedem Fall unterhaltsam präsentiert werden. Das Fazit des Buches liefert der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Walter Benjamin: "Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene."

Rezension von Frank Romeike


Details zur Publikation

Autor: Ulrich Teusch
Seitenanzahl: 230
Verlag: Rotpunktverlag
Erscheinungsort: Zürich
Erscheinungsdatum: 2008

RiskNET Rating:

Praxisbezug
Inhalt
Verständlichkeit

sehr gut Gesamtbewertung

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