Beim Lesen des Titels werden viele Leser sofort an den Roman "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann denken. In der fiktiven Doppelbiografie des Mathematikers und Geodäten Carl Friedrich Gauß und des Naturforschers Alexander von Humboldt lernen wir den Übergang von einer durch Gott gelenkten Welt des Schicksals hin zu einer wissenschaftsbasierten Welt der Zukunftssteuerung und vor allem einer aktiven Steuerung von Chancen und Risiken. Während damals die Kirche Wissenschaft als Hexerei und Zauberei ablehnte, haben Gauß und von Humboldt es geschafft, das Bild der Wissenschaft weg von dem Mythischen hin zu System der Erkenntnisse über die wesentlichen Eigenschaften, kausalen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Technik sowie der Gesellschaft und des Denkens zu entwickeln.
Doch beide haben sich der Wissenschaft auf unterschiedlichen Wegen genähert. Während Humboldt die Welt auf seinen Reisen mit eigenen Augen empirisch erforschte, vermaß Gauß die Welt eher theoretisch mit Methoden der Mathematik und Statistik. Doch heute wissen wir, dass sich beide Ansätze sinnvoll ergänzen.
In seinem rund 270-seitigen Essay über Geld und Gesellschaft diskutiert Thomas Mayer die Vermessung der Zukunft mit mathematischen Wahrscheinlichkeiten. Basierend darauf haben wir einen "Versicherungsstaat" errichtet, der den Auftrag hat, unsere Lebensrisiken zu minimieren und uns gegen die Restrisiken abzusichern. Doch hier unterliegen wir einer Illusion, so Mayer. Die Zukunft lässt sich nicht vermessen und fundamentale Ungewissheiten lassen sich nicht in kalkulierbare Risiken überführen. Die von Mayer beschriebene Entwicklung ist unmissverständlich: Der Staat schwingt sich zum obersten Risikomanager auf. Um die daraus entstehenden Kosten zu stemmen, besteuert der Staat seine Bürger bis zur teilweisen Konfiszierung ihres Vermögens. Und am Ende wird die Risikogesellschaft zerstört – darauf hatte bereits der Soziologe Ulrich Beck in seinen Publikationen zur Weltrisikogesellschaft und Risikogesellschaft hingewiesen. Paradoxerweise führt die Inflation "gefühlter Risiken" insgesamt zu mehr Gleichgültigkeit: "Wo sich alles in Gefährdungen verwandelt, ist irgendwie auch nichts mehr gefährlich". Und doch muss der Versicherungsstaat am Ende Konkurs anmelden.
Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutschen Bank Gruppe und Leiter der Deutsche Bank Research. Bevor er in die Privatwirtschaft wechselte, bekleidete er verschiedene Funktionen beim Internationalen Währungsfonds in Washington und beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel.
Das Buch untergliedern sich in 24 einzelne Essays, die auch getrennt voneinander gelesen werden können.
Wirtschaftlicher Fortschritt bringt auf der einen Seite Wohlstand und produziert auf der anderen Seite Unsicherheit. Mayer weist darauf hin, dass unsere risikoaverse Gesellschaft diese minimieren und versichern will. In diesem Kontext zitiert Mayer Ludwig Erhard: "[…] Besonders unverständlich erscheint dieser Prozess (der Weg zum Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat, Anmerkung Redaktion), weil in dem Maße, in dem sich der Wohlstand ausbreitet und die wirtschaftliche Sicherheit wächst, dazu unsere wirtschaftlichen Grundlagen sich festigen, das Verlangen, das so Erreichte gegen Fährnisse der Zukunft absichern zu wollen, alle anderen Bedenken überschattet. Hier liegt ein wahrlich tragischer Irrtum vor, denn mal will offenbar nicht erkennen, dass wirtschaftlicher Fortschritt und leistungsmäßig fundierter Wohlstand mit einem System kollektiver Sicherheit unvereinbar sind."
Erhard warnte vor dem Versorgungs- und Wohlfahrtstaat, der dem Ende nichts anderes als Planwirtschaft bedeutet. Er weist auf die gefährlichen Folgen des Versorgungsstaats hin, "[…] an dessen Ende der soziale Untertan und die bevormundete Garantierung der materiellen Sicherheit durch den allmächtigen Staat, aber in gleicher Weise auch die Lähmung des wirtschaftlichen Fortschritts in Freiheit stehen wird."
Die Krisen der vergangenen Jahre – allen voran die letzte Banken- und Finanzkrise sowie die Coronakrise – haben diesen Wandel zum "Versicherungsstaat" transparent gemacht. In einem Schwerpunktkapitel setzt sich Mayer mit idiosynkratischen und gesellschaftlichen Risiken auseinander. Am Beispiel Klimawandel setzt sich Mayer mit der Illusion auseinander, dass wir die Zukunft vermessen könnten. "Da das Klima ein komplexes System ist, kann seine Veränderung nur in Modellen untersucht werden, die dieses System stark vereinfacht abbilden. […] Wie alle Abstraktionen von einer komplexen Wirklichkeit können diese Modelle nicht frei von Irrtümern bei der Konstruktion und Kalibrierung sein. Vor allem aber gehen diese Modelle von der 'Stationarität‘ des Systems aus: Was war, wird auch so bleiben." In diesem Kontext muss berücksichtigt werden, dass eben verschiedene Modelle je nach Parametrisierung drastisch unterschiedliche Klimaszenarien generieren.
Mit der Rolle der Wissenschaft, die mitunter eher religiöse Glaubensgewissheiten sind, setzt sich Mayer sowohl im Kontext Klimawandel als auch der Corona-Pandemie auseinander. "Auch Virologen, Epidemiologen und andere Wissenschaftler erlagen der Versuchung, risikoaverse und hinter der Wissenschaft Schutz suchende Politiker zu vereinnahmen. Dabei spielte die ehrwürdige Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die auch die Bundesregierung beriet, eine eher weniger ehrwürdige Rolle. Prominente Mitglieder der Akademie überschritten die Grenzen der Wissenschaftlichkeit und stellten die politische Forderung einer 'No Covid‘-Strategie zur Eindämmung von Infektionen auf. Außerdem verknüpfte die Akademie die Bekämpfung der Pandemie mit der Verhinderung der Erderwärmung und forderte die Errichtung einer 'klimafreundlichen Wirtschaft‘, eine 'konsequente Mobilitäts- und Landwirtschaftswende‘ und eine 'Neuregelegung des Strommarkts‘."
Im Kapitel "Warum die moderne Geldpolitik zum Scheitern verurteilt ist" setzt sich Thomas Mayer kritisch mit der Zentralbank- und Nullzinspolitik auseinander: "Die Welt der Wirtschaft beschreiben sie mit einem starren mathematischen Gleichungssystem. In dieses Prokrustesbett werden statistische Daten über wirtschaftliche Handlungen gezwängt und die in den Gleichungen enthaltenen Parameter mit mathematischen (ökonometrischen) Methoden geschätzt." Mayer ist sich sicher: "Die scheingenaue Planung der Zukunft zerstört schließlich die Planer."
In einem Kapitel zur modernen Finanztheorie setzt sich Mayer kritisch mit der sog. Normalverteilungshypothese, dem Capital Asset Pricing Modell und Value-at-Risk-Modellen auseinander. Als Praxisbeispiel skizziert er u.a. die theoretischen Modellwelten, die schließlich zum Zusammenbruch des LTCM-Fonds geführt haben. "Über Jahrzehnte hat das Risikomanagement mit der Value-at-Risk-Technik immer wieder versagt, hat die Strukturierung von Anleihen in sichere und nachrangige Tranchen nur die Illusion von Sicherheit erzeugt."
Hier muss ich dem Autor widersprechen, da es nicht das Risikomaß "Value at Risk" ist, das versagt hat, sondern die Modelle, die auf einer Normalverteilungshypothese basierten. Ursächlich für die Risikoblindheit sind Schwächen bei den Methoden des Risikomanagements, die häufig auf einer fehlerhaften Annahme "normalverteilter Risiken" und einem "Random-Walk" basieren. Der Mathematiker Benoît Mandelbrot bezeichnete dies als "milde Zufälligkeit" im Gegensatz zur tatsächlichen "wilden Zufälligkeit" in der Realität.
Noch immer berücksichtigen viele Risikomanagementsysteme zu wenig die empirischen Erkenntnisse, dass der Risikoumfang selbst volatil ist (GARCH-Prozess) und extreme Marktbewegungen ("crashs") wesentlich häufiger auftreten als dies eine "Normalverteilung" nahe legt. Die notwendigen Verfahren (beispielsweise aus der Extremwerttheorie bzw. aus dem Ansatz der pareto-stabilen Verteilungen) zur Beschreibung und Steuerung von Risiken haben bis heute nicht die notwendige Verbreitung gefunden. Entsprechend wurden die in letzter Zeit zu beobachtenden extremen Marktbewegungen von vielen Marktteilnehmern als so unwahrscheinlich eingeschätzt, dass diese keiner Beachtung wert wären.
So sind die vom Autor skizzieren Krisen kein Argument gegen Risikomodelle, die unvermeidlich sind, sondern ein Argument für deren Weiterentwicklungen. Viele Schwächen der in der Praxis üblichen Modelle sind seit langem bekannt – und werden heute weiterhin in der Praxis und (noch schlimmer) in der Regulierungswelt angewendet.
Der Ausblick des vormaligen Chefvolkswirts der Deutschen Bank Gruppe ist eher pessimistisch: "Die Gefahr einer neuen LTCM-Krise steigt. Doch dann fallen die Banken als Krisenmanager aus, da man ihnen den Eigenhandel verboten hat. Der Versicherungsstaat muss seinen Aufgabenbereich also noch weiter ausweiten. Im Finanzsektor und vor allem in den Banken, Zentralbanken und staatlichen Behörden konnte sich eine Kultur entwickeln, in der die maßgeblichen Akteure für die von ihnen begangenen Fehler keine persönliche Haftung übernehmen. Im Zweifelsfall kann man sich auf 'die Wissenschaft' berufen, deren Protagonisten für in der praktischen Anwendung gefährliche Theorien Nobelpreise verliehen bekommen, aber kaum je für die Konsequenzen einstehen. Am Ende dieser Entwicklung steht der Verlust an Glaubwürdigkeit und Vertrauen in den gesamten Geld- und Finanzbereich.", so Mayer.
Die moderne Risikogesellschaft hat vier wichtige Eigenschaften. Sie ist global, medial, reflexiv und lässt sich von "Experten" beherrschen. Durch die Risikovermeidungstechniken werden immer neue Risiken geschaffen. Die Bekämpfung der Corona-Pandemie liefert uns hierfür ausreichend Anschauungsmaterial. Statt "Nachhaltigkeit" schafft die Risikogesellschaft "Fragilität". Die Risikogesellschaft zerstört sich schließlich selbst. Wissenschaft wird in der Risikogesellschaft politisch instrumentalisiert, denn "vor allem die erfolgreiche Missionierung der Menschen zur Übernahme einer bestimmten, immer auch von Ungewissheiten gekennzeichneten Expertenauffassung" erzeugt die Erfahrbarkeit und Wirklichkeit eines globalen Risikos, so der Autor. Das bevorzugte Mittel zur Missionierung (Hermann Lübbe), mit dem eine wirkmächtige Minderheit abseits demokratischer Verfahren durch verbale Gewalt (die heute "Shitstorm" heißt) einer eingeschüchterten Mehrheit ihre Moralvorstellungen aufdrücken will. Dabei werden auch fehlbare wissenschaftliche Thesen zu profanen Glaubenslehren umgemünzt. "Ungläubige" werden abgewertet und ausgrenzt, wie uns die Diskussion um Corona vor Augen geführt hat. Denn in den vergangenen Monaten ging es so gut wie nie um die Widerlegung bestehender und die Aufstellung neuer Hypothesen. Mayer weiter: "Einerseits müssen Experten die Zumutung der Fehlbarkeit ertragen, wenn sie für sich Wissenschaftlichkeit in Anspruch nehmen wollen. Andererseits verlieren sie durch das Eingeständnis der Fehlbarkeit ihre Definitions- und Entscheidungsmacht über das Risiko. Schutz bietet ihnen die Erhöhung zu medialen Göttern einer neuartigen Religion in der eigentlich gottlosen Gesellschaft."
Im Kapitel "Wert, Wachstum, Qualität" setzt sich Mayer kritisch mit dem Verlust des Zinses auseinander. Der Nullzins hält Unternehmen am Leben, die aufgrund hoher Verschuldung bei höheren Zinsen längst untergegangen werden. Diese "Zombies" binden Ressourcen in Form von Kapital und Arbeitskräften, die ansonsten einer produktiveren Verwendung zugeführt worden wären. Mayer hofft, dass "sich die Mehrheitsgesellschaft gegen den Zugriff der Politik auf private Einkommen und Vermögen wendet, wenn es klar wird, dass diese Politik zur allgemeinen Verarmung im Totalitarismus führt."
Bei politischen Entscheidungsträgern wird immer wieder ausgeblendet, dass die Gesetzmäßigkeit der Risikotragfähigkeit auch für Staaten gilt. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass der Versicherungsstaat in mehrfacher Hinsicht an die Grenzen seiner Kompetenz und Leistungsfähigkeit gestoßen ist. In den vergangenen Jahren hat der Staat die Geringschätzung der Freiheit und der Grundsätze des liberalen Rechtsstaats offenkundig gemacht. Außerdem bewies der deutsch-europäische Versicherungsstaat erneut seine Unfähigkeit einer staatlichen Zentralplanung, große Aufgaben oder Krisen effektiv zu bewältigen. Und des Weiteren überschritt der Versicherungsstaat – spätestens in der Corona-Pandemie – auch die Grenze der seiner finanziellen Leistungsfähigkeit.
Thomas Mayer belässt es nicht mit einer Diagnose, sondern diskutiert unterschiedlich Narrative für die Zukunft und wie wir mit radikaler Unsicherheit besser umgehen könne. Hierbei wird vor allem deutlich, dass Ordnungen im Wirtschafts- und Finanzbereich fragil sind, sofern deren Teile starr verbunden sind und Entscheidungen zentral getroffen werden.
"Fehlentscheidungen von zentralen Planern erfassen alle Teile einer zentralen Planwirtschaft gleichermaßen, Druck trifft auf Unbeweglichkeit, und statt sich anzupassen, zerbricht das System", so Mayer. Bereits vor der Finanz- und Eurokrise war unsere Wirtschafts- und Finanzordnung fragil. Denn Zentralbanken definieren auf der Grundlage neu-keynesianischer makroökonomischer Modelle die kurzfristigen Kapitalmarktzinsen, und durch die moderne Finanztheorie gleichgeschaltetes Denken führte zu einer Monokultur u.a. im Management von Finanzrisiken. Und in Reaktion auf die Krise hat die Politik die zentrale Planung verstärkt und den Grad der Vernetzung erhöht. Mayer weiter: "Nun bestimmen die Zentralbanken auch noch die langfristigen Kapitalmarktzinsen, und das Gruppendenken beim Anlegen und Management von Finanzmarktrisiken wird von starren, bürokratischen Vorschriften im Rahmen der Banken- und Versicherungsregulierung gefördert." Und auch bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie haben starre politische und bürokratische Strukturen zum Staatsversagen geführt.
Doch wie müssen "nachhaltige" Lösungen beschaffen sein, um besser mit radikaler Unsicherheit umzugehen? Mayer skizziert drei Eigenschaften: 1. Robustheit, 2. Antifragilität und 3. Resilienz. Robustheit ist dabei die Eigenschaft, unvorhergesehene Schläge einstecken zu können. Antifragilität beschreibt keine einfache Resilienz gegen Stressoren, sondern das Profitieren von Volatilität und Zufall. Antifragilität kann man sich als Hydra vorstellen. Dem vielköpfigen Ungeheuer der griechischen Mythologie wachsen für jeden abgetrennten Kopf zwei neue nach. Bei der Resilienz geht es darum, Schäden auszubessern und Verluste wiedergutzumachen.
Damit wird deutlich, dass der in der Rolle des obersten Risikomanagers mutierte und zentrale Versicherungsstaat zum Scheitern verurteilt ist. Bereits heute sehen wir eine weitgehend von Regierungen gelenkte Wirtschaft, zerrüttete Staatsfinanzen und ein zur Finanzierung der Staatsschulden geschaffener enormer Geldüberhang. Es drohen Konkurs oder Inflation zur Beseitigung des Schulden- und Geldüberhangs.
Mayer zeigt auf, dass am Ende nur eine Rückkehr zu Gemeinsinn und gegenseitigem Respekt im Rahmen der liberalen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft einen Ausweg bietet. Und wir müssen einsehen, dass wir dazu verurteilt sind, unter radikaler Unsicherheit zu handeln.
Fazit: In seinem äußerst unterhaltsam geschriebenen Essay wird deutlich, dass das staatlich und zentral gelenkte Risikomanagement selbst zum Risiko wird und droht, die auf Risikominimierung und Risikoversicherung ausgerichtete Risikogesellschaft zu zerstören. Mayer nimmt in seinem Essay kein Blatt vor den Mund und spricht Klartext, was nicht Jedem – insbesondere unseren politischen Entscheidungsträgern und ihren wissenschaftlichen Lakaien – gefallen wird. Denn so manches von der Politik und den Medien verbreitete Narrativ wird von Mayer entzaubert.