Online-Kurse können durch die folgenden Attribute beschrieben werden: Interaktivität, Multicodalität und Multimedialität. Beim Online-Kurs Risikomanagement hat der Lernende lediglich die Möglichkeit mit dem Online-Programm zu interagieren. Hier wäre eine Interaktion mit anderen Nutzern oder den Autoren eine sinnvolle Ergänzung. Im Kontext Multicodalität beschränkt sich das Programm auf statische Bilder. Es würde sich anbieten, auch im Risikomanagement mit animierten Bildern zu arbeiten oder auch virtuelle "Experimente" mit Hilfe einer Simulation zu unterstützen. Im Bereich der Multimedialität beschränkt sich der vorliegende Online-Kurs auf das E-Learning-Programm sowie ergänzende Fachartikel im pdf-Format. Ergänzende Videos oder ein Begleitmanuskript bzw. E-Lectures wäre eine denkbare Ergänzung des gewesen.
Der Online-Kurs soll Grundlagenwissen über das Risikomanagement vermitteln. Der Kurs gliedert sich in insgesamt 10 Kapitel: Grundlagen des Risikomanagements, Risikomanagementsystem, Risikomanagement als Führungsaufgabe, Risikoermittlung, Risikoanalyse und -messung, Risikobewältigung, Risikoüberwachung, Kommunikation und Dokumentation, Organisation des Risikomanagementsystems und Projekt-Risikomanagement.
Nach eigenen Angaben orientiert der Kurs sich an der österreichischen ON-Regel 49000 und weiteren Standards (etwa der ISO 31000 bzw. ISO 31010) im Risikomanagement. Der Absolvent des Online-Kurses soll nach Abschluss des Kurses Risiken methodisch korrekt ermitteln, minimieren, klassifizieren und deren Bewältigung effektiv planen und durchführen. Inwieweit dieses Ziel erreicht werden kann, kann der Leser nachfolgend selber beurteilen.
Zum Einstieg vermittelt der Kurs zunächst den Eindruck, dass die Inhalte nicht adäquat die aktuellen Entwicklungen widerspiegeln. So wird zunächst der Zusammenbruch der Kölner Privatbank I. D. Herstatt KGaA skizziert, die im Juni 1974 infolge von Devisenspekulationen insolvent wurde. Ergänzend wird der Cerivastatin-Skandal – besser bekannt unter dem Handelsnamen Lipobay – sowie weitere aktuellere Skandale bzw. Unternehmenspleiten skizziert. Mögliche Gründe und gemeinsame Muster werden nicht dargestellt. Der Praktiker wird sich jedoch vor allem für die Ursachen dieser Skandale interessieren, um hieraus Erkenntnisse für das eigene Unternehmen abzuleiten.
Außerdem fällt beim Durcharbeiten des Online-Kurses auf, dass Fehler beispielsweise der ONR 49000 unreflektiert übernommen werden. So wird dem Leser nicht erläutern, dass es sich bei der Standardabweichung und dem Konfidenzintervall um keine Methoden handelt, sondern vielmehr um statistische Kennzahlen zur Analyse von Risiken. Die Standardabweichung ist ein Maß für die Streuung der Werte einer Zufallsvariablen um ihren Erwartungswert. Das Konfidenzintervall gibt die Präzision der Lageschätzung eines Parameters an.
Haarsträubend wird es dann bei der Definition des Value at Risk. Der Kurs führt hierzu aus: "Der VaR beschreibt einen maximal möglichen Verlust einer Anlage, der in einem bestimmten Zeitraum mit einer gegebenen Wahrscheinlichkeit unter normalen Marktbedingungen nicht überschritten wird. Der Verlust ist somit abhängig von einer vorzugebenden Wahrscheinlichkeit. Dabei wird eine Normalverteilung (Glockenkurve) unterstellt."
Die Definition zeigt recht deutlich, dass der Autor die Definition des Value at Risk weder theoretisch verstanden hat noch in der Praxis jemals berechnet hat. Vielmehr ist der Value at Risk die kleinste nichtnegative Schranke für potenzielle Verluste, die mit einer vorgegebenen Mindestwahrscheinlichkeit p nicht überschritten wird. Dadurch werden die größten Verluste, die nur mit einer definierten Wahrscheinlichkeit von beispielsweise ein Prozent auftreten, vernachlässigt. Der Value at Risk ist daher kein Maximalverlust, sondern eine Verlustschranke, die höchstens mit der Wahrscheinlichkeit von ein Prozent überschritten wird. So kann man das Risiko der nichtberücksichtigten größten Verluste als Restrisiko bezeichnet. Dann ist der Value at Risk gerade die Trennlinie zwischen Normalrisiko und Restrisiko, das heißt die Untergrenze des Restrisikos oder die Obergrenze des Normalrisikos. Diese Definition haben viele Akteure leider bis heute nicht verstanden – die jüngste Finanzkrise liefert hier ausreichend Anschauungsmaterial. Und die Autoren des Online-Kurses sind hier keine Ausnahme. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, indem die Autoren ausführen, dass beim Value at Risk eine Normalverteilung (Glockenkurve) unterstellt wird. Das ist falsch, denn bei einer stochastischen bzw. simulationsbasierten Berechnung eines Value at Risk ist jedwede Wahrscheinlichkeitsverteilung möglich.
Auch bei der Darstellung der Methoden der Risikoaggregation konzentrieren sich die Autoren auf fehlerhafte bzw. falsche methodische Ansätze. Zielsetzung der Risikoaggregation ist die Bestimmung der Gesamtrisikoposition eines Unternehmens sowie eine Ermittlung der relativen Bedeutung der Einzelrisiken unter Berücksichtigung von Wechselwirkungen (Korrelationen) zwischen diesen Einzelrisiken. Eine Aggregation aller relevanten Risiken ist erforderlich, weil sie auch in der Realität zusammen auf Gewinn und Eigenkapital wirken. Es ist damit offensichtlich, dass alle Risiken gemeinsam die Risikotragfähigkeit eines Unternehmens belasten. Diese Risikotragfähigkeit wird letztendlich von zwei Größen bestimmt, nämlich zum einen vom Eigenkapital und zum anderen von den Liquiditätsreserven. Die Beurteilung des Gesamtrisikoumfangs ermöglicht eine Aussage darüber, ob die Risikotragfähigkeit eines Unternehmens ausreichend ist, um den Risikoumfang des Unternehmens tatsächlich zu tragen und damit den Bestand des Unternehmens zu gewährleisten.
Ein methodisch korrekter – viele Experten behaupten der einzige methodisch fundierte – Ansatz zur Risikoaggregation ist die stochastische Szenarioanalyse. Auf diese Methode gehen die Autoren überhaupt nicht ein. Dies ist erstaunlich, da dieser Ansatz bei vielen Unternehmen mit einem hohen Reifegrad im Risikomanagement weit verbreitet ist. Stattdessen konzentrieren sich die Autoren auf das Additionsverfahren, das Punktwertverfahren und die Fundamentalgleichung des Risikomanagements. Diese Ansätze sind vor allem in der Theorie verbreitet und liefern keine Aussage über den aggregierten Risikoumfang.
Insgesamt fällt einem beim Lesen des Online-Kurses auf, dass das Lektorat und Korrektorat nicht besonders sorgfältig gearbeitet hat. So wird etwa aus dem Handelsnamen Lipobay der Name Liprobay. Aus dem Deutschen Corporate Governance Kodex wird der Deutsche Corporate Governance Index (DCGI). Außerdem ist die überwiegende Anzahl der Quellen veraltet und spiegelt nicht den aktuellen Stand der Literatur wider. Auf die Angabe von Standardwerken im Risikomanagement wird komplett verzichtet.
Fazit: Als erste Einführung in das Thema Risikomanagement kann der Online-Kurs nur sehr eingeschränkt empfohlen werden. Da die Inhalte sich im Wesentlichen auf statische Abbildungen und Texte beschränken, wäre das Investment in zwei oder drei gute Standardbücher der bessere Weg. Auch die angegebene Bearbeitungszeit von rund 60 Stunden überrascht. Nach rund 8 bis 16 Stunden sollte ein Einsteiger in das Thema Risikomanagement den Kurs durchgearbeitet haben.
Autor der Rezension: Frank Romeike