China schickt sich an, wieder eine größere Rolle im Welthandel auszuüben. Gerne wird übersehen, dass China bereits im Jahr 1820 einen größeren Anteil am Wirtschaftsgeschehen hatte als Westeuropa bzw. Indien. Chinas Machtbereich erstreckte sich noch im Jahr 1840 unter anderem über ganz Südostasien, Gebiete des heutigen Kasachstan, der gesamten Mongolei sowie Teile der fernöstlichen Provinz Russlands nördlich der Amur-Mündung.
Durch den ökonomischen Aufstieg Chinas werden die globalen Spielregeln zwischen Asien-Europa-USA neu definiert. Die chinesische Vorgehensweise ist strategisch ausgerichtet und entspricht eher dem über 4.000 Jahre alten Go oder Weiqi-Spiel, das auf Langfristigkeit – ohne den Gegner langfristig vernichten zu wollen – ausgelegt ist. Jedoch werden Spielregeln und Standards nach den Vorstellungen der chinesischen Staatsregierung bestimmt, die nicht selten konträr zu den Freiheitsvorstellungen von Europäern und Amerikanern stehen. Mit der Einführung eines Social Credit Rating (SCR) hat die chinesische Regierung ein weiteres Element auf dem Weg zu alter ökonomischer Stärke und Dominanz umgesetzt.
Das vorliegende Buch "Social Credit Rating", herausgegeben von Oliver Everling, befasst sich mit dem Konstrukt eines Social-Credit-Systems im Allgemeinen und mit seiner chinesischen Variante im Besonderen. Im Vordergrund der Texte stehen die grundsätzliche Funktionsweise und Darstellung sowie die potenziellen Auswirkungen des Systems, dass das Verhalten seiner Bürger und Unternehmer belohnt oder bestraft. In acht gut strukturierten Abschnitten auf knapp 700 Seiten hat der Herausgeber einen umfangreichen Sammelband vorgelegt. Dabei kommen in 36 Artikeln (zum Teil in Englisch) Praktiker aus der Wirtschaft und Wissenschaftler – sowohl aus einer chinesischen als auch einer europäischen Perspektive – zum Wort.
Im Wesentlichen basiert das SCR auf die Anwendung der Methoden im Bereich der "Artificial Intelligence" (Künstlichen Intelligenz) in Kombination mit großen Datenmengen ("Big Data"). Geplant ist ein allumfassendes System mit eng vernetzten Datenbanken, wo laufend Daten über das Verhalten von Unternehmen und Personen aus allen Lebensbereichen gesammelt werden. Mit den so erstellten Datenbeständen und Anwendungen werden Algorithmen erstellt, die ein Verhalten sanktionieren oder für Gut befinden. Ein Datenschutzgesetz zum individuellen Schutz von Bürgern und Unternehmen gegenüber dem Staat, wie in Europa praktiziert, ist dabei (noch) nicht vorgesehen.
Die Regierung legt die Kriterien und Normen fest, ab wann eine Sanktionierung von Privatperson und Unternehmen erfolgt. Höhere SCR-Werte können zu niedrigeren Steuersätzen, besseren Kreditbedingungen, einem leichteren Marktzugang und zu mehr Möglichkeiten für öffentliche Aufträge führen. Ein weiterer Aspekt des Ratings wird sein, dass global tätige Konzerne darüber nachdenken müssen, wie sie mit "dem persönlichen Verhalten von Mitarbeitern außerhalb des Arbeitsplatzes umgehen sollen – für viele ein Tabu". Allerdings ist auch festzuhalten, wenn die Algorithmen transparent und diskriminierungsfrei funktionieren, "kann das neue System dazu beitragen, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen". Jedoch sind viele Fragen noch nicht geklärt. Wer kontrolliert, wer steuert und welche Einflussmöglichkeiten von Marktteilnehmern oder unabhängigen Institutionen gibt es, dass das SCR diskriminierungsfrei angewendet wird? Wie KI und Digitalisierung zur Überwachung und Diskriminierung in China eingesetzt wird und welche Probleme entstehen, wird in den lesenswerten Beiträgen von Theo Sommer und Katika Kühnreich fündig.
Allerdings sollten wir zurückhaltend und vorsichtig mit vorschnellen Meinungen und Sichtweisen sein. Chinesische Bürger haben ein grundsätzlich anderes Verhältnis zum Staat. Sicherheit geht vor Privatheit. Wenn du die Gesetze nicht brichst, dann geschieht dir auch nichts. Eine Aussage, die insbesondere von autokratischen Regierungen, Parteien und Organisationen auch in der westlichen Welt zu vernehmen ist.
Zweifelsohne liegt die Stärke des Buches darin, dass kontroverse Positionen gut nachvollziehbar diskutiert werden. Nicht nur für den an China Interessierten sind die Texte chinesischer Autoren bedeutsam. Der Leser sollte jedoch nicht vorschnell in allzu einfache Gedankenmuster verfallen. Aus dem Blickwinkel der westlichen Welt geschieht dies häufig aus einem ethisch-moralischen Hintergrund und der Ableitung orwellscher Dystopien einer totalitären Überwachungsgesellschaft. Asiatische Länder haben ihre eigenen Traditionen und Kulturen und sind geprägt durch ihre eigene Geschichte, die diametral zur westlichen Gesellschaftsphilosophie stehen.
Anders formuliert: Während in Europa das Schach-Spiel dominiert und damit einhergehend die kurzfristige Optimierung von Zielen bzw. die Vernichtung des Gegners im Vordergrund steht, so gleicht die Vorgehensweise Chinas eher dem alten Go oder Weiqi-Spiel. Dabei vertritt China durchaus eine Position, die unserer Position ähnelt. "When in Rome, do as the Romans do".
Das Buch eignet sich vor allem als Basis für weitergehende Diskussionen, wie beispielsweise: Wie kann die digitale Souveränität der Bürger gestärkt werden? Wo ist das europäische Konzept, um die Schwächen und ökonomischen Abhängigkeiten gegenüber China und USA zu reduzieren?
Fazit: Wer ein fundiertes, informatives und gut lesbares Buch zum Thema Social Credit Rating in China sucht, dem sei das vorliegende Buch empfohlen.