Im Zentrum dieses Beitrags steht die Vernetzung des europäischen Bankenmarktes und die Untersuchung der damit entstehenden bzw. verbundenen Risiken. So spielt das Systemrisiko bei der Vollendung der Europäischen Bankenunion eine sehr wesentliche Rolle, wenn es beispielsweise um die Harmonisierung der Einlagensicherung (European Deposit Insurance Scheme, EDIS) geht. Für die Ausgestaltung von EDIS müssen zwingend die verschiedenen Quellen systemischer Risiken berücksichtigt werden. Fernández-Aguado et al. [2021] arbeiten heraus, dass die Verflechtungen zwischen den Banken verschiedener Länder einen wichtigen Einfluss auf die Verlustverteilung haben. Deshalb muss es gelingen, dieses System auch dem Informationsbedarf entsprechend modellieren sowie adäquat simulieren zu können. Mit diesen Anforderungen führt dann eigentlich kein Weg an der Anwendung der agentenbasierten Modellierung vorbei – eine Methode, die aufgrund ihrer Vielfältigkeit sowie Realitätsnähe in den Darstellungsmöglichkeiten erkenntnisbringende computergestützte Experimente erlaubt.
Die Methode 'Agentenbasierte Modellierung'
Finanzsysteme sind zweifelsfrei komplexe Systeme. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie aus einer Vielzahl von verschiedenartigen, miteinander agierenden Elementen bestehen. Deren aggregierte Eigenschaften sowie Verhaltensweisen sind allerdings nicht unmittelbar von den einzelnen Elementen ableitbar. Vielmehr entstehen infolge der vielfältigen Interaktionen der unterschiedlichen Bestandteile in einem solchen System stets Ereignisse, die beispielsweise mit den herkömmlichen (gleichungsbasierten) Modellen kaum vorhersehbar sind. Für die Analyse und Simulation solcher emergenten Phänomene sind demzufolge Methoden oder Techniken erforderlich, die der zugrunde liegenden Komplexität gerecht werden. Eine solche innovative bzw. zeitgemäße Herangehensweise ermöglicht die agentenbasierte Modellierung (Agent-based Modeling, ABM).
Denn mit diesem computergestützten Ansatz lassen sich komplexe natürliche sowie auch ökonomische/soziale Systeme detailliert modellieren und über einen individuell-gestaltbaren Zeitraum in experimenteller Weise untersuchen. Dies gelingt durch die zentrale Fähigkeit der ABM, das umfassende Zusammenspiel einer großen Anzahl heterogener Agenten (bspw. Kreditinstitute) miteinander sowie mit ihrer Umgebung (bspw. Zentralbanken) recht unkompliziert in die digitale Welt zu überführen. Unter anderem können sich die Agenten dabei gegenseitig beeinflussen (bspw. Bildung von Spekulationsblasen) oder auf Änderungen ihrer Umwelt individuell-situativ reagieren, die sich durch deren Handlungen selbst verändern kann (bspw. Leitzinsanpassung). Aufgrund einer weitestgehend realistischen Abbildung des zu analysierenden Systems und der individuellen Eigenschaften sowie Verhaltensweisen dessen einzelner Bestandteile lassen sich ganz unterschiedliche Gegebenheiten erklären oder weithin verlässliche Prognosen erstellen. Um nun aber auch einen Eindruck vom deskriptiven Charakter eines agentenbasierten Modells (ABM) zu erhalten, zeigt ► Abb. 01 schematisch die Elemente eines solchen Modells. Was hier jedoch recht statisch aussieht, kann auch in einer außerordentlich dynamischen Weise ablaufen. So können sich die Agenten unter anderem frei gemäß zuvor definierter Regeln in ihrer Umwelt bewegen, wobei diese Regeln wiederum durch Lernprozesse modifizierbar wären. Die erkenntnisbringenden Möglichkeiten der Methode ABM sind also nahezu unerschöpflich bzw. lediglich den Grenzen der Fantasie oder, wesentlich trivialer, der Datenverfügbarkeit unterworfen [vgl. Andrae/Pobuda 2021].
Abb. 01: Schematische Darstellung der Elemente eines ABMs und ihre Interaktionen [Quelle: Haldane/Turrell 2018, S. 232]
ABM-Analyse des europäischen Bankenmarktes
Teply/Klinger [2019] entwickeln ein agentenbasiertes Modell des europäischen Banken-systems auf der Grundlage vorhandener Datensätze über die Verflechtungen zwischen den europäischen Banken. Die Kreditinstitute sind in Gestalt von Agenten (Knoten) modelliert, welche ein dynamisches Verhalten aufweisen, das in Form von Regeln ausgedrückt wird. Diese Regeln werden von einem Systemsimulator, also einem Computerprogramm, ausgeführt. Es werden bei diesem Vorhaben 286 Banken aus neun Ländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Irland, Italien, die Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien) in die Analyse einbezogen. Die gegenseitigen Abhängigkeiten der Banken ergeben sich aus den Bilanzinformationen der jeweiligen Institute. Auf dieser Basis wird ein zusammenhängendes Netzwerk modelliert (unter Beachtung einiger Unterschiede in den nationalen Strukturen). So lässt sich mit diesem ABM des europäischen Bankensystems nun das Verhalten des Systems bei negativen Schocks unterschiedlicher Schweregrade sowie unter verschiedenen Marktbedingungen entsprechend realitätsnah simulieren. Dabei wird unter einem solchen negativen Schock beispielsweise ein Bankenausfall oder der Zusammenbruch gleich mehrerer Institute verstanden. Darüber hinaus wird dieses Modell methodisch so aufgestellt, dass es ebenso Banken unterschiedlicher Größe darstellt bzw. einschließt. In den Simulationen können die Institute dann in einem weiten Spektrum von gegenseitig abhängigen Beziehungen und Marktbedingungen operieren.
Zwei Parameter stellen die Schlüsselfaktoren dar, welche das Verhalten der Banken in dem ABM beeinflussen: einerseits handelt es sich dabei um die Illiquidität des Marktes und andererseits um die Größe des anfänglichen Schocks. Innerhalb der Simulation wird also jeweils ein Schock ausgelöst, der eine Gruppe von Banken im Netzwerk trifft, um anschließend zu sehen, wie sich der Schock ausbreitet und wie das gesamte System auf solche Störungen reagiert. Die daraus gewonnenen Schlussfolgerungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: In Frankreich scheint der zentrale Faktor, welcher zum Systemrisiko beiträgt, die Größe der Bank zu sein, während die Liquidität keine allzu bedeutende Rolle spielt. Der Ausfall großer französischer Banken stellt also ein erhebliches Risiko für das gesamte System dar, da selbst leichte Schocks bei großen Instituten in Frankreich zu einem systemweiten Kollaps führen können. Zudem hat sich gezeigt, dass das französische System widerstandsfähiger gegenüber Schocks bei den kleinen sowie mittleren Banken ist, da ein systemweiter Zusammenbruch hier nur bei großen Schocks und hoher Illiquidität eintritt. Ähnliche Resultate wurden in Berechnungsexperimenten mit deutschen Banken beobachtet. Allerdings scheint das deutsche Bankennetzwerk anfälliger für Liquiditätsschwankungen zu sein; dieser Effekt ist besonders ausgeprägt bei kleinen Banken. Nichtsdestotrotz spielt die Größe in Deutschland ebenfalls eine Rolle, jedoch nicht annähernd so stark wie in Frankreich. Italienische Banken weisen hingegen in dem ABM einen viel höheren Beitrag zum Systemrisiko als deutsche oder französische Banken auf. Obwohl der italienische Finanzsektor kleiner ist als der in Deutschland und in Frankreich, sind die Auswirkungen von Bankenzusammenbrüchen in Italien mit denen in Deutschland sowie Frankreich vergleichbar.
Vom ABM zum 'Akteursbasierten Reaktiven System'
Agentenbasierte Modelle haben zweifelsfrei einen dynamischen und individuellen Charakter. Dennoch kodieren sie eine eher globale Sicht des Systems. Selbst wenn verschiedenen Agenten entsprechend heterogene Verhaltensregeln zugewiesen werden können, wird das System im Allgemeinen von einer zentralisierten Logik gesteuert. Das Verhalten der Agenten entspricht also in diesem Sinne weitestgehend mathematischen Funktionen oder auch stochastischen Prozessen, welche beispielsweise von globalen Variablen wie dem aktuellen Marktzustand oder dem globalen Zeitplan abhängen (können). Aus diesem Grund kann es fallspezifisch durchaus erforderlich sein, die Methode ABM jeweils an die vorliegenden Anforderungen anzupassen.
So entwickelt Crafa [2021] für die Analyse von Finanznetzwerken das agentenbasierte Modell zu einem konzeptionellen Rahmen weiter, den sie als akteursbasierte reaktive Systeme (Actor-based Reactive Systems, ARS) bezeichnet. Hierbei werden eine dezentralisierte Steuerungslogik sowie ein grundlegend anderes Zeitmanagement unterstellt. Finanzsysteme sind als verteilte und reaktive Systeme modelliert, d. h. als eine Klasse asynchron kommunizierender Systeme, die sich durch ein beachtliches Maß an dezentraler Steuerung und koordinierten Interaktionen zwischen Agenten an verschiedenen Standorten auszeichnen. Diese Wirtschaftsteilnehmende sind sich des aktuellen globalen Systemzustands jedoch nur teilweise bewusst; sie empfangen zeitlich versetzt Nachrichten, die sie über das Eintreten eines Ereignisses informieren (beispielsweise einen Marktschock oder die Mitteilung von Schuldnern zu deren Zahlungsunfähigkeit). Unter diesen Bedingungen reagieren die Akteure auf das Ereignis, indem sie ihr Verhalten gemäß ihrer internen Strategie sowie entsprechend den lokal gespeicherten Informationen ändern. Somit erfolgen deren Aktionen zeitlich in asynchroner Weise. Crafa wendet diesen ARS-Rahmen auf das vorgenannte europäische Finanznetzwerk an. Letztendlich ermöglicht das ARS-Modell im Vergleich zum ABM von Teply/Klinger feinere Analysen sowie eine flexiblere Modellierung mit einem höheren Maß an Heterogenität und Anpassungsfähigkeit der Wirtschaftsteilnehmenden.
Mit dem ARS-Modell wird die Systementwicklung untersucht anstelle einer Abfolge synchroner Iterationen. Mit solch einer Herangehensweise ist es in diesem speziellen Anwendungsbereich noch besser möglich, nicht nur den endgültigen globalen Zustand des Systems zu bewerten, sondern auch die vollständige sowie feinkörnige Dynamik jedes Agenten genau zu erforschen und die kausale Kette von Ereignissen sowie Reaktionen zu beobachten, welche das jeweilige Verhalten des Agenten innerhalb der Systemausführung bestimmt haben. Ferner ist durch die hoch skalierbare Implementierung ein effektiver Umgang mit großen Finanzsystemen, welche klar einen höheren Grad an Heterogenität der Agenten aufweisen, erreichbar. Auf dieser Basis lassen sich sehr flexible Stresstests entwickeln, um schnell mit vielen hypothetischen Szenarien in einem test-orientierten Stil zu experimentieren. Kurzum kann also festgehalten werden, dass sich die agentenbasierte Modellierung und das akteursbasierte reaktive System als Methoden mit einer hohen Anwendungsbreite sowie -tiefe im Finanzsektor bereits bewährt haben.
Motivation zur weiteren Beschäftigung mit ABM
In Zukunft sollten immer stärker die computergestützten Möglichkeiten der fortschreitenden Informationstechnik ausgeschöpft werden, um der Komplexität realer Gegebenheiten gerecht zu werden. Die stetige Verbreitung von Stichworten wie Big Data oder Künstliche Intelligenz zeigen auch deren Ankommen in der weitläufigen Berufs- und Lebenswirklichkeit. Vor allem der Finanzbereich war bereits seit den Anfängen der Computerisierung ein zentraler Treiber deren Entwicklung. Daher ist die zunehmende Anwendung der agentenbasierten Modellierung sowie davon abgeleiteter Herangehensweisen im Finanzsektor wenig erstaunlich, nachdem diese innovative Methode ihren vielfältigen Nutzen in den Naturwissenschaften und ebenso in den Sozialwissenschaften (auch wenn hier Nachholbedarf besteht) unter Beweis stellen konnte.
Literatur
- Andrae, S./Pobuda, P. [2021]: Agentenbasierte Modellierung: Eine interdisziplinäre Einführung. Wiesbaden, Springer Gabler.
- Crafa, S. [2021]: From agent-based modeling to actor-based reactive systems in the analysis of financial networks, in: Journal of Economic Interaction and Coordination 16(3), 649–673.
- Fernández-Aguado, P. G. et al. [2021]: Evaluation of European Deposit Insurance Scheme funding based on risk analysis, in: International Review of Economics and Finance.
- Haldane, A. G./Turrell, A. E. [2018]: An interdisciplinary model for macroeconomics, in: Oxford Review of Economic Policy 34(1–2), 219–251.
- Teply, P./Klinger, T. [2019]: Agent-based modeling of systemic risk in the European banking sector, in: Journal of Economic Interaction and Coordination 14(4), 811–833.
Autoren:
Dr. Silvio Andrae
Patrick Pobuda