In Deutschland verzeichnen wir nach dem massiven Einbruch im ersten Quartal um 3,5 Prozent im zweiten Quartal wieder einen bescheidenen Zuwachs (0,3 Prozent), der sich wohl auch im dritten Quartal fortsetzen wird. Bei der Auftragslage waren nach dem starken Einbruch zuletzt wieder Zuwächse, vor allem bei den Auslandsorders zu sehen. Die hohe Preisstabilität und die (noch) relativ stabile Beschäftigungslage haben den privaten Konsum stabilisiert. Professor Dr. Franz-Christoph Zeitler, Vizepräsident der Deutschen Bundesbank, warnt jedoch davor, die Niveaueffekte des Einbruchs Ende 2008 und Anfang 2009 auszublenden. "Es wird längere Zeit dauern, bis ein Niveauverlust des BIP von fünf bis sechs Prozent wieder wett gemacht ist." Zeitler weist ergänzend darauf hin, dass die aktuelle Erholung vor dem Hintergrund weltweiter massiver Konjunkturprogramme stattfindet. Erst die Zukunft wird zeigen, ob sie die Wirkung einer "Initialzündung" für einen endogenen Aufschwung entfalten können oder ihre Wirkung zeitlich begrenzt bleiben wird.
Der Bundesbank-Vize wies bei einer Rede anlässlich der Fachinformationstagung des Genossenschaftsverbands Bayern darauf hin, dass insbesondere die Märkte für Unternehmensanleihen (corporate bonds) auf einem stabileren Niveau seien. "Dies gilt für die niedrigeren spreads im Pfandbriefsektor, bei denen wohl auch das covered bond-Programm der EZB zu spüren ist. "Dies gilt – wenn auch mit Einschränkungen – für die CDS spreads (Aufschläge für Kreditausfallversicherungen) der Kreditinstitute, die die Refinanzierungskosten der Kreditwirtschaft am Kapitalmarkt widerspiegeln", so Zeitler.
Vor dem Hintergrund dieser positiven Signale darf jedoch das "Aber" nicht übersehen werden: "Die Erholung der Finanzmärkte findet vor dem Hintergrund massiver Liquiditätshilfen der Notenbanken statt." Die steile Zinsstruktur hat sich positiv auf die Ertragszahlen der Institute im ersten Halbjahr ausgewirkt. Zu einem Teil gehen die höheren ausgewiesenen Erträge aber auf Fair-Value-Effekte (Wertaufholung, Bewertung im Handelsbestand) zurück, deren Volatilität und Vorläufigkeit eine Erkenntnis der Krise ist, ergänzt Zeitler.
Schließlich haben die weltweiten Finanzmarktstabilisierungsprogramme mit Garantien, Rekapitalisierungsangeboten und Auslagerungsmöglichkeiten ("bad banks") ein Sicherheitsnetz für die Finanzmärkte eingezogen, das wesentliche Voraussetzung für die aktuelle Erholung war und ist.
Das Finanzsystem auf Nachhaltigkeit ausrichten
Die Finanzkrise hat zu einer Fülle von Untersuchungen, Vorschlägen und Ratschlägen geführt, die nicht immer frei von institutionellen Eigeninteressen der jeweiligen Stellen sind, so Zeitler. Seiner Ansicht nach sollten alle Vorschläge zunächst daran gemessen werden, ob sie geeignet sind, größere Nachhaltigkeit in das internationale Finanzsystem zu bringen. "Die Richtung muss sein: Weg vom ‚high speed money‘, einer oft eingerissenen ‚hit and run-‚ Mentalität hin zu stärkerer Langfristorientierung und Nachhaltigkeit. Der Grundsatz der Nachhaltigkeit wurde ja – bevor er zur "sustainability" umfirmierte - ursprünglich in Deutschland entwickelt. Der Begriff nahm (schon im 18. Jahrhundert) seinen Ausgang in der Forstwirtschaft, wurde im 20. Jahrhundert auf die Ökologie übertragen und bedarf nun der Umsetzung in die Finanzwirtschaft. Die Krise eröffnet eine historische Möglichkeit, den Grundgedanken unserer sozialen Markwirtschaft international zu verankern, nämlich die Dynamik und den Erfindungsreichtum des Marktes zu verbinden mit globalen ‚Leitplanken‘, mit Standards und Rahmenbedingungen, die die Systemstabilität sichern und selbstzerstörende Wirkungen eines völlig ungeregelten Marktes verhindern."
Das Fundament für Nachhaltigkeit bildet zunächst einmal die Geschäftsmodelle der Institute und ihrer Risikomessverfahren. Dies betrifft beispielsweise den vorsichtigen Umgang beim großvolumigen Einsatz von Finanzinnovationen, bei denen noch keine Erfahrungen über einen kompletten Zyklus hinweg bestehen. Dies betrifft den seit Langem bekannten Zusammenhang von Langfristfinanzierung und Finanzstabilität, der in den Jahren scheinbar unerschöpflicher Marktliquidität oft in Vergessenheit geriet. Dies betrifft auch Kreditvergabepraktiken, die auf den sandigen Grund dauerhaft im Wert steigender Sicherheiten und auf Beleihungsrelationen (LTV’s) von über 100 Prozent aufgebaut sind – nach diesem Muster sind bekanntlich viele "Subprime-Kredite" in den USA gestrickt worden, ergänzt Zeitler.
"Nachhaltigkeit sollte – zweitens – ein zentrales Thema der Rechnungslegung und Gewinnermittlung sein", so der Bundesbank-Vize. Das klassische "deutsche Modell" mit Vorsichts- und Imparitätsprinzip, dessen Einführung unter Bismarck seinerseits eine Reaktion auf eine große Finanzmarktkrise im 19. Jahrhundert war, ist in den letzten Jahren mehr und mehr der Zeitwertbilanzierung gewichen. Dieses fair-value-accounting hat sicherlich den Vorteil schneller und transparenter Informationen und Entscheidungsgrundlagen für Unternehmensleitungen und Investoren, aber auch den Nachteil hoher Volatilität und einer prozyklischen Verstärkung der Auf- und Abwärtsbewegung des Marktes. Zeitler: "Es beruht auf der gedanklichen Voraussetzung stets liquider Märkte für alle nach dem Zeitwert bewerteten Wirtschaftsgüter und der meist unausgesprochenen Nebenbedingung, dass bei einzelnen Veräußerungsvorgängen erzielte Werte auch dann zuträfen, wenn der Gesamtbestand eines Finanzinstruments am Markt zum Verkauf/Kauf angeboten würde – kurz gesagt: nicht realisierte Wertzuwächse werden gleichgesetzt mit am Markt realisierten, ausschüttungsfähigen Erträgen."
Aus Sicht der Bundesbank sollte der vom deutschen Gesetzgeber im Bilanzmodernisierungsgesetz beschrittene Weg auch international Beachtung finden, die positiven Signaleffekte der Zeitwertbilanzierung ("Informationsbilanz") mit dem Vorsichtsprinzip für Gewinnermittlung und Ausschüttung zu verbinden. "Ein Teil des Zeitwertgewinnes aus Finanzinstrumenten ist nach der Neuregelung im BilMoG in eine Rücklage einzustellen und bildet somit einen antizyklischen Puffer für widrige Marktphasen. Der Zeitwert wird beim Ansatz bestimmter Wirtschaftsgüter akzeptiert, aber mit einem Ausschüttungsverbot belegt", ergänzt Zeitler.
Der Baseler Ausschuss hat deshalb – ausgehend von Überlegungen der Banque de France und Bundesbank – dem Standardsetzter IASB u. a. vorgeschlagen, bei Finanzinstrumenten mit erheblichen Unsicherheiten die Bewertung von der Gewinnausschüttung zu trennen.
Verbesserung der Anreizstrukturen statt punktueller Interventionen
Die Finanzkrise hat die alten Erfahrungen der Väter der sozialen Marktwirtschaft bestätigt, dass punktuelle Eingriffe und Regeln zwar gut gemeint sein mögen, aber oft erhebliche negative Nebenwirkungen entfalten. Auch manche aufsichtlichen Vorschriften haben Anreize zur Regulierungsarbitrage gegeben, so Zeitler. Die Bundesbank habe deshalb seit Ausbruch der Krise Mitte 2007 mit zahlreichen Vorschlägen auf die Verbesserung der Anreizstrukturen hingewirkt. Hier sind, so Zeitler, auch im Baseler Ausschuss und in Brüssel wichtige Fortschritte erzielt worden:
- Bei der Änderung der Bankenrichtlinie der EU wird ein Selbstbehalt des Urhebers (originators) von Verbriefungen von fünf Prozent eingeführt. Damit hat der Originator ein Interesse, die Kreditqualität "seiner" Verbriefung bereits bei der eigentlichen Kreditvergabe zu prüfen und nach der Ausplatzierung zu überwachen. Auf internationaler Ebene steht eine ähnliche Regelung allerdings noch aus.
- Die Großkreditregeln der EU wurden überarbeitet. Durch eine weitere Fassung der "Kreditnehmereinheit" ist nun sichergestellt, dass mehrere Ankaufgesellschaften einer Zweckgesellschaft zu einer Kreditnehmereinheit zusammengefasst werden. Zugleich sichern die neuen Regeln aber auch, dass sektoral oder regional beschränkt agierende Banken ihre verschiedenen Kunden nicht zu einer Kreditnehmereinheit zusammenfassen müssen.
- Die Eigenkapitalunterlegung von Verbriefungspositionen und insbesondere von Liquiditätslinien für verbriefte Strukturen ("conduits", SIV’s) sind erhöht worden, ebenso wie die Eigenkapitalunterlegung im Handelsbuch. Früher mögliche Arbitrage-Effekte zwischen Bankenbuch und Handelsbuch sollten damit künftig ausgeräumt sein.
- Große Bedeutung bei den Anreizstrukturen kommt auch international anerkannten Regeln über Vergütungsprinzipien zu – internationalen Regeln deshalb, weil ohne level-playing-field einzelne Institute immer wieder mit dem Verhalten von Wettbewerbern konfrontiert werden, die ein Jahr nach der größten Finanzkrise seit dem 2. Weltkrieg wieder zu einem "business as usual" zurückkehren wollen. Variable Leistungsanreize neben dem fixen Gehalt sind demnach sinnvoll, müssen aber am langfristigen Unternehmenserfolg ausgerichtet sein, dürfen nicht asymmetrisches Risikoverhalten begünstigen (deshalb auch "Malus-Elemente") und müssen die mit den Ertragschancen verbundenen Kapitalkosten berücksichtigen.
Striktere Regeln für die Eigenkapitalausstattung
Auf der Agenda der internationalen Gremien und dem kommenden Gipfel von Pittsburgh steht auch das Thema Eigenkapital – im Grundsatz zu Recht, denn eine Stärkung des vorgehaltenen Eigenkapitals erhöht die Robustheit des Finanzsystems, erschwert übergroße Fremdkapital-Hebel und erhöht die Vorsicht gegenüber risikoreichen Geschäftsmodellen, weil der Haftungsbeitrag der Eigentümer stärker ins Gewicht fällt, so der Bundesbank-Vize. Auf der anderen Seite würde eine abrupte Erhöhung der Eigenkapitalanforderungen einen prozyklischen Schub bedeuten, den von den Märkten und Agenturen ohnehin ausgehenden Druck in Richtung "deleveraging", zum Abbau von Aktivpositionen und damit Kreditforderungen massiv verstärken. Zeitler fasst seine Analyse in einem Satz zusammen: Wer das Risiko einer Kreditklemme vermeiden will, darf nicht vor gesicherter Überwindung der Krise die generellen Eigenkapitalanforderungen verschärfen.
Aus Sicht der Bundesbank ist die große Herausforderung in diesem und im nächsten Jahr die Bewältigung des "Rating-Shift", die mit der verschlechterten Bonitätssituation vieler Unternehmen einhergehende höhere Kapitalvorsorge. "Im Bereich strukturierter Wertpapiere wird die Ratingmigration bekanntlich noch verschärft durch teilweise extreme ‚cliff-Effekte‘ der geltenden Baseler Regeln, wonach Rating-Abstufungen auch bei Wertpapieren mit geringer Ausfallwahrscheinlichkeit zu massiven Eigenkapitaleffekten führen.
Im Einzelnen geht es, nach Ansicht der Bundesbank, bei den kapitalrelevanten Regeln neben einer Erhöhung des Mindestkapitals insgesamt vor allem um eine Definition von "hartem Kernkapital" (core tier 1), der Einführung sog. antizyklischer Puffer und der parallelen Beachtung der leverage ratio neben den Baseler Grundsätzen. Alle diese Maßnahmen müssen im Zusammenhang gesehen und bewertet werden; vor endgültigen Beschlüssen ist deshalb eine umfassende Untersuchung der Auswirkungen (impact study) notwendig (und nach den derzeitigen Dokumenten auch vorgesehen), um die Interdependenzen der Einzelvorschläge zu erfassen.
Zeitler: "Bei der Definition des Eigenkapitals sollte dessen eigentlicher Sinn und Zweck, die Verlusttragungsfähigkeit im Vordergrund stehen und nicht einzelne Rechtsformen (beispielsweise Aktien/common equity) gegenüber anderen Rechtsformen bevorzugt werden. Der Grundsatz sollte lauten: Inhalt vor Rechtsform und Gleichbehandlung unterschiedlicher Rechtsformen. Dies muss auch für das Eigenkapital der Genossenschaften, für genossenschaftliche Geschäftsguthaben gelten. Die künftigen neuen Baseler Kriterien wie auch die nach der Bankenrichtlinie von CEBS zu entwickelnden Kriterien sollten dies gebührend berücksichtigen. "
Bei der Einführung eines antizyklischen Puffers geht es vor allem darum, sicherzustellen, dass wirklich eine mit dem Zyklus atmende Regelung kommt und nicht lediglich eine "Einbahnstraße" in eine zusätzliche weitere Erhöhung des Mindestkapitals eröffnet wird, so Zeitler.
Zeitlers Fazit: "Die Finanzmarktkrise ist über den Globus und auch unser Land wie ein Sturm hinweggefegt; ob und welche Böen noch kommen werden, ist ungewiss. Wie bei einem Sturm in der Natur sind manche Bäume, vor allem die ‚Flachwurzler‘ umgerissen worden, die ‚Tiefwurzler‘ sind zwar mitunter zerzaust, blieben aber stehen." Aus Sicht der Bundesbank wird es nun die gemeinsame Aufgabe aller Marktteilnehmer sein, bei den Geschäftsmodellen, bei den Finanzinstrumenten, bei den aufsichtlichen Rechtsinstituten darauf zu achten, dass die "Tiefwurzler" gestärkt und bewährte Grundsätze und Tugenden des Bankgeschäfts wieder beachtet werden, auch wenn sie scheinbar konservativ und altmodisch erscheinen mögen.
[Quelle: Eigener Text basierend auf Vortrag von Professor Dr. Franz-Christoph Zeitler, Vizepräsident der Deutschen Bundesbank, am 19. September 2009 anlässlich der Fachinformationstagung des Genossenschaftsverbands Bayern]
Kommentare zu diesem Beitrag
Helfen könnte mehr Transparenz: Die Verantworten in der Öffentlichkeit nachhaltig bekannt machen, an den Pranger stellen, ächten. Das würde vielleicht dem einen oder anderen von Koks verblödeten Investmentbanker und Wirtschaftsprüfer helfen sich auf Tugenden und Moral zu besinnen und den Begriff des "ehrbaren Kaufmanns" gerecht zu werden....
Abgesehen von ein paar amerikanischen Managern (die man an einer Hand abzählen kann) waschen doch alle ihre Hände in Unschuld. Die Finanzkrise wirkt mehr wie ein durch höhere Gewalt verursachtes Unglück als durch Gier verschiedener Manager verursachte Not der breiten Massen...