Bevor Australien entdeckt wurde, waren die Menschen in der Alten Welt überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz anscheinend völlig bestätigt wurde. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, wurde das bisherige Gedankengebäude schwer erschüttert. Die Schwarze-Schwan-Illustration veranschaulicht eine schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung und die Zerbrechlichkeit unseres (historischen) Wissens. Da die meisten Beobachter über den eigenen Tellerrand nicht hinausschauen, war für sie klar, dass alle Schwäne weiß sind. Es lag schlichtweg außerhalb der eigenen Vorstellungskraft, dass schwarze (Trauer-)Schwäne in allen Bundesstaaten Australiens vorkommen, sowohl auf dem Festland wie auch in Tasmanien.
Nassim N. Taleb, Gründer und Inhaber der Trading-Firma Empirica Capital LLC ist Autor des Buches "The Black Swan". Er behauptet, dass wir systematisch die schmerzhaften Folgen von Extremereignissen unterschätzen. Talebs Analyse ist einfach und schlicht: Wir denken in schlüssigen Geschichten, verknüpfen Fakten zu einem stimmigen Bild, nehmen die Vergangenheit als Modell für die Zukunft. So schaffen wir uns eine Welt, in der wir uns zurechtfinden. Aber die Wirklichkeit ist anders: chaotisch, überraschend, unberechenbar. Wir sprachen mit Prof. Dr. Jürgen Strohhecker, Frankfurt School of Finance & Management, über Grenzen in der Risikomodellierung und alternative Methoden aus dem Bereich System Dynamics.
RiskNET: In der Realität der komplexen Finanzmärkte entstehen Risiken häufig durch nicht-lineare und chaotische Effekte. Kurzum: Die Risikoursachen in komplexen Märkten, wie den globalen Finanzmärkten, können in aller Regel nicht monokausal auf einen einzigen Auslöser zurückgeführt werden. Die aktuelle Finanzkrise bietet hier ausreichend Anschauungs- und Beweismaterial. Bietet der klassische Werkzeugkasten des Risikomanagers überhaupt die passenden Instrumente um derartig komplexe Risikolandkarten zu bewerten?
Strohhecker: Nein, ich denke nicht. Meiner Einschätzung nach sind viele Risikomanager noch immer hauptsächlich damit beschäftigt, historische Daten zusammenzutragen und Messmodelle zu entwerfen. Damit lassen sich aber nur diejenigen Risiken bewerten, die in der Vergangenheit schon einmal eingetreten sind. Für neuartige, noch nie dagewesene Risiken sind die klassischen Risikowerkzeuge blind. Wer den schwarzen Schwan finden will, muss neue und besonders empfindliche Sensoren einsetzen und sehr breit suchen. Wer dann auch noch ein Gefühl für die Konsequenzen entwickeln möchte, die dann möglich sind, muss entweder übermenschliche Fertigkeiten entwickeln oder Computersimulationsmodelle einsetzen. Ich persönlich würde mich eher auf ein gutes System-Dynamics-Simulationsmodell verlassen.
RiskNET: Inwieweit kann System Dynamics helfen, komplexe Systeme besser zu verstehen und zu analysieren?
Strohhecker: Der System-Dynamics-Ansatz ist auf das Arbeiten mit dynamisch-komplexen Problemstellungen spezialisiert. Das sind Probleme, die sich durch besonders starke Vernetzung, durch Rückkopplung und lange Verzögerungen zwischen Ursache und Wirkung auszeichnen. Für solche Probleme erweist sich der System-Dynamics-Instrumentenkasten als besonders wirksam. Feedback-Diagramme machen die Vernetzung offensichtlich und kommunizierbar. Computersimulationsmodelle dokumentieren einerseits glasklar alle berücksichtigten Zusammenhänge und erlauben es andererseits, das Problem umfassend zu analysieren. System Dynamics hilft also dabei, die dynamische Komplexität eines Systems transparenter zu machen und durch die Simulation seine potenziellen Verhaltensmuster aufzudecken.
RiskNET: System Dynamics ist vor allem eine Methode, die Entscheidungsträger dabei unterstützt, mittels qualitativen Systemdenkens und quantitativer Systemsimulation ganzheitlich zu denken, um daraus bessere Entscheidungen treffen zu können. Hätte System Dynamics dazu beigetragen, dass Entscheider die Ursachen der aktuellen Finanzkrise besser verstanden hätten?
Strohhecker: Ich bin sicher, dass ein gut konzipiertes und richtig fokussiertes System-Dynamics-Modell den Verlauf der aktuellen Krise als ein Szenario hätte erzeugen können. Es hätte vermutlich die Kreditvergabepraxis der Banken und Vermittler, die Verbriefungsstrategie der Investmentbanker und die Verhaltensmuster der Hauskäufer und Bauunternehmer abbilden müssen. Entscheidungsträgern, die ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf Schönwetter-Szenarien mit weiterhin niedrigen Zinssätzen und hoher Liquidität gerichtet hätten, wären die Gefahren nicht verborgen geblieben. Ich glaube außerdem, dass wir auch jetzt noch von einem solchen Modell profitieren könnten; denn ich bezweifle, dass wir die Ursachen der Krise schon komplett verstehen. Wir haben aktuell viele Hypothesen, aber nur bedingt Klarheit darüber, welche Faktoren wie zusammenkommen mussten, damit sich das gerade zu beobachtende Resultat ergibt.
[Das Interview führte Frank Romeike, Chefredakteur RiskNET sowie Chefredakteur der Zeitschrift RISIKO MANAGER]
Professor Dr. Jürgen Strohhecker, Jahrgang 1968, ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Produktionswirtschaft und Controlling. Themenbereiche in Lehre und Forschung sind System Dynamics, Produktionsmanagement, Controlling sowie Kosten- und Erlösrechnung. Er hat in den Jahren 1987 bis 1992 an der Universität Mannheim Betriebswirtschaftslehre studiert. Im Anschluss – in den Jahren 1992 bis 1996 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Industrieseminar der Universität Mannheim. Die Promotion zum Dr. rer. pol. folgte im Jahr 1997. Seit dem Jahr 2005 ist er Sprecher des Management Research Centre und seit 2006 Vorstand für System Dynamics in Forschung und Lehre der Deutschen Gesellschaft für System Dynamics e. V.
Kommentare zu diesem Beitrag
Zitat aus einem RiskNET-Text: "Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman belegte gemeinsam mit seinem Kollegen Amos Tversky, wie weit das Idealbild des Homo Oeconomicus, der bei gegebener und bekannter Präferenzordnung, bei vollkommener Information und vollkommener Voraussicht seine Kauf- und Verkaufs-, Produktions- und Konsumtionsentscheidungen stets rational trifft, von der Realität entfernt ist. Der Mensch handelt völlig anders als jenes Wesen aus den Ökonomielehrbüchern. Vielmehr beruhen Entscheidungen häufig nicht auf komplizierten Rechnungen, sondern auf Daumenregeln (Kahneman, D. und Tversky, A.: Prospect Theory: An Analysis of Decision Under Risk, 1979)."
Nun ja, Menschen sind nicht so rational und klar strukturiert, wie es die Modelle (auch die SD-Modelle) suggerieren ...
SD-Modelle sind keine Kristallkugel - ganz bestimmt nicht. Forrester hatte ihren Einsatz für Vorhersagen kategorisch abgelehnt. Für ihn war es ausreichend, sie als Lerninstrumente zu benutzen. Es gibt inzwischen aber eine ganze Reihe von Beispielen, die zeigen, dass man mit SD-Modellen gar nicht so schlecht prognostizieren kann - wenn man die gebotene Vorsicht walten lässt. (Vgl. Lyneis: System dynamics for market forecasting and structural analysis, Syst. Dyn. Rev. 16, 3–25, 2000). Das liegt daran, dass SD-Modelle zu der Kategorie der Kausalprognosemodelle zu rechnen sind, mit denen sich prinzipiell bessere Ergebnisse erzielen lassen als z.B. mit Zeitreihenprognosemodellen.
Mein Fazit: Bei Schwarzen Schwänen, die sich über die Zeit entwickeln und aufplustern (bspw. die Harry-Potter-Manie) und dabei bestimmten Gesetzmäßigkeiten gehorchen (wie bspw. denen der Ausbreitung von Epidemien), gäbe es mit Kausalmodellen eine realistische Chance für eine nicht zu schlechte Vorhersage - allerdings häufig auch erst nach der Initialzündung. Das bedeutet, wir könnten in einem frühen Stadium die Ausbreitung des Harry-Phänomens antizipieren; den Geistesblitz in J.K. Rowlings Kopf, den werden wir m.E. niemals vorhersagen können.