Finanzielle Solidität 

Auf die Kombination von Messverfahren kommt es an


Finanzielle Solidität: Auf die Kombination von Messverfahren kommt es an Wissenschaft

Die Finanzmärkte befinden sich im Umbruch: Die Zentralbanken erhöhen die Zinsen, die Anleiherenditen steigen, die Inflation droht zu verharren, und Krypto-Assets/Plattformen geraten in Schwierigkeiten. Befinden wir uns auf dem Weg zu einer neuen globalen Finanzkrise?

Der Herbst ist die Saison der jährlichen Finanzstabilitätsberichte. Die Singapore Monetary Authority (MAS) warnt in ihrem Bericht vor der Gefahr einer neuen Finanzkrise. Auf den wichtigsten Finanzierungsmärkten besteht ein erhöhtes Risiko von Funktionsstörungen, die zu Liquiditätsengpässen bei Unternehmen führen können, so die MAS in ihrem Bericht. Eine Verschlechterung der Finanzlage von Unternehmen und Privathaushalten könnte die Qualität der Aktiva der Banken schwächen. 

Ebenso bringt die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrem halbjährlichen Finanzstabilitätsbericht zum Ausdruck, dass die hohe Inflation, die wachsende Wahrscheinlichkeit einer Rezession und die steigenden Finanzierungskosten verschuldete Haushalte, Unternehmen und Regierungen vor zunehmende Herausforderungen stellen und zu mehr Insolvenzen und Finanzmarktschwankungen führen könnten. 

Der sogenannte "Composite Indicator of Systemic Stress" (CISS), ein Krisenbarometer der EZB, ist in den letzten Tagen deutlich gestiegen. Nur während der Finanz- und der Euro-Krise lag der Index höher. Er setzt sich aus 15 verschiedenen Indikatoren zusammen. Der CISS für den Euroraum wurde erstmals im Jahr 2010 veröffentlicht. Mehrere Zentralbanken und andere Finanzbehörden haben mittlerweile das CISS-Konzept für die Erstellung von Finanzstressindizes für ihre jeweiligen Länder übernommen.

Finanzstressindizes quantifizieren das aktuelle Stressniveau im Finanzsystem insgesamt oder in wichtigen Teilen davon, indem sie eine Reihe von Indikatoren, die den Stress in einzelnen Marktsegmenten messen, zu einem zusammengesetzten Indikator verdichten. Obwohl zusammengesetzte Indikatoren schon seit langem für andere Zwecke verwendet werden (z. B. Indizes für die monetären und finanziellen Bedingungen), haben sich Finanzstressindizes erst in den letzten Jahren, ausgelöst durch die Finanzkrise, zu einem beliebten Instrument entwickelt.

Für politische Entscheidungsträger ist es von Interesse, den durch finanzielle Reibungen verursachten Gesamtstress im Finanzsystem – am Besten in Echtzeit – zu quantifizieren. Das bedeutet, die drohenden makroökonomischen Risiken abzuschätzen und unter Umständen geeignete Maßnahmen einzuleiten.

Stressindikatoren 

Es gibt eine Vielzahl von Standardindikatoren zur Messung des Stressniveaus in einzelnen Marktsegmenten. Sie erfassen jeweils bestimmte Symptome der zugrunde liegenden finanziellen Friktionen. Beispielsweise sollen optionsimplizierte Volatilitäten den Grad der Risikoaversion und Unsicherheit der Marktteilnehmer zum Ausdruck bringen. Für die Preise vieler wichtiger Vermögenswerte wie Staatsanleihen, Zinsderivate, Aktien, Devisen und viele andere mehr können diese Volatilitäten ermitteln werden. Der sogenannte VIX, ein Echtzeit-Volatilitätsindex von der Chicago Board Options Exchange (CBOE) ist so ein Maßstab zur Quantifizierung der Markterwartungen hinsichtlich der Volatilität. Er wird in der Finanzpresse häufig als "Angstmesser" der Anleger bezeichnet. 

Weitere Stressindikatoren sind beispielsweise Credit-Default-Swap-Spreads, Liquiditätsmaße wie Bid-Ask-Spreads und kumulative Aktienbewertungsverluste. Schließlich gibt es mengenbasierte Indikatoren, die beispielsweise die Aktivität auf einzelnen Primär- und Sekundärmärkten messen. Solche Indikatoren werden seit langem vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, den Zentralbanken und anderen nationalen Aufsichtsbehörden verwendet. Diese Standardindikatoren spiegeln sich in jedem Finanzstabilitätsbericht dieser Institutionen wider.

Während jeder einzelne Indikator sinnvolle Teilinformationen liefert, ist es doch sehr schwer, daraus abzuleiten, ob der in einem bestimmten Marktsegment beobachtete Stress entweder eher idiosynkratischer Natur ist oder stattdessen ein systemisches Phänomen darstellt: Man sieht einfach "den Wald vor lauter Bäumen nicht".

Indexmaße 

Eine Möglichkeit besteht darin, einen "Finanzstressindex" zu erstellen. Beim CISS beispielsweise werden portfoliotheoretische Prinzipien bei der Aggregation einzelner Stressindikatoren zum zusammengesetzten Indikator angewendet. Ähnlich wie bei der Ermittlung Risikos eines Anlageportfolios – wo das Portfoliorisiko im Allgemeinen nicht nur der einfache gewichtete Durchschnitt der Risiken der einzelnen Vermögenswerte ist, sondern auch von den Renditekorrelationen zwischen den Vermögenswerten abhängt – aggregiert der CISS die Informationen aus den einzelnen Stressindikatoren. Er berücksichtigt also die zeitlich variierenden (Rang-)Korrelationen zwischen den einzelnen Indikatoren. 

Der CISS legt ein größeres Gewicht auf Situationen, in denen Stress in mehreren Marktsegmenten gleichzeitig vorherrscht. Damit kommt zum Ausdruck, dass finanzieller Stress systemischer und damit gefährlicher für die Realwirtschaft ist, wenn sich die Instabilität weiter über das gesamte Finanzsystem ausbreitet. 

Neben dem portfoliotheoretischen Aggregationsschema wird beim CISS auch eine Wahrscheinlichkeits-Integral-Transformation vorgenommen. Damit sollen die einzelnen Rohstresskomponenten in Bezug auf die Skala und auf die Verteilungseigenschaften hin homogenisiert werden. Nach der Transformation sind alle Eingangsreihen annähernd standardgleichverteilt. Dieses Vorgehen führt zu einer größeren Robustheit gegenüber Ausreißern. 

Zusammengesetzte Indikatoren, die eine konventionelle Standardisierung auf ihre einzelnen Inputreihen anwenden, sind besonders anfällig für Ausreißer, und zwar umso mehr, je kleiner die verfügbare Datenstichprobe ist. Die Anwendung der Hauptkomponentenanalyse (PCA) oder anderer Faktormodelle kann die Robustheitsprobleme verschärfen, wenn sie mit konventionell standardisierten Eingangsreihen kombiniert wird. Insofern ist Robustheit eine wichtige Eigenschaft, wenn dieser Index für die regelmäßige Überwachung der Finanzstabilität verwendet werden soll.

Um die finanzielle Solidität eines Landes zu messen, können auch maschinelle Lernverfahren zum Einsatz kommen. Einzelne Analysen zeigen, dass solche Verfahren (z.B. Elastic Net, Random Forest, Gradient Boosted Trees) in der Lage sind, signifikante Verbesserungen bei der Genauigkeit von Vorhersagen zu liefern.

Andere Analysen wiederum wollen die allgemeine Solidität von Finanzinstitutionen in einem Land bewerten. Um komplexe und nichtlineare Beziehungen zu erkennen werden hier datengesteuerte Methoden eingesetzt. Die Autoren verwenden Daten aus 119 Industrie- und Entwicklungsländern und einen vollständig modellbasierten und datengesteuerten methodischen Ansatz, um einen Index der finanziellen Solidität (FSIND) auf Länderebene zu erstellen. Die Daten umfassen 17 Indikatoren für finanzielle Solidität aus dem Kernindikatorensatz des IWF für den Zeitraum 2010-2017.

Datengesteuerte Verfahren haben gegenüber empirischen Standardmodellen, die zur Vorhersage von Finanztrends verwendet werden, einige Vorteile. 

  1. Sie können mehrdimensionale Datensätze besser analysieren, wie es bei Finanzdaten häufig der Fall ist.
  2. Sie können unausgewogene Datensätze besser und mit geringerem Verlust an wichtigen Informationen verwalten. Große Datensätze enthalten große Mengen fehlender Werte, gemischte Häufigkeiten, ausgefranste Ränder oder unregelmäßige Muster, mit denen herkömmliche empirische Modelle nicht umgehen können.
  3. Bei diesen Verfahren müssen keine Modellierungsentscheidungen und Annahmen im Voraus getroffen werden. Ökonometrische Verfahren erfordern beispielsweise die Auswahl einer begrenzten Anzahl von Variablen. Faktormodelle sind zwar in der Lage, große Datenmengen zu verarbeiten, erfordern aber die Festlegung der zugrunde liegenden Annahmen. Ökonometrische Modelle müssen im Fall von Nichtlinearitäten und Wechselwirkungen diese a priori unterstellen, während datengestützte Methoden die Dynamik direkt erfassen können.

Es kommt ein Modell zur Dimensionsreduzierung zur Anwendung, das auf alternativen robusten PCA-Algorithmen basiert. Zunächst wird ein synthetisches binäres Maß des FSIND-Indexes erstellt. Das Maß soll ein stabiles bzw. instabiles Finanzsystem in jedem Land identifizieren. Anschließend kommt ein synthetisches kontinuierliches Maß für den FSIND-Index hinzu. Der FSIND-Index wird durch die Auswahl geeigneter Schwellenwerte auf der Grundlage des Kriteriums der besten Leistung validiert. Schließlich wird der FSIND-Index als Hauptregressor zur Vorhersage von Ergebnisvariablen wie zum Beispiel dem Verhältnis der notleidenden Kredite zu den gesamten Bruttokrediten oder den Bruttoinlandsersparnissen verwendet. Der Ansatz zur Indexkonstruktion scheint die wichtigsten Faktoren, die die Solidität der Finanzinstitutionen beeinflussen und die Dynamik der Lage des Finanzsystems im Zeitverlauf, gut zu erfassen.

Bei der Untersuchung länderspezifische Muster des Indexes stellen die Autoren fest, dass er in der Lage ist, wirtschaftliche und finanzielle Krisenzeiten zu erkennen. Das erleichtert eine Klassifizierung oder die Bewertung der Rangfolge von Finanzsystemen in der ganzen Welt. Dennoch bleibt noch einiges zu tun. So werden beispielsweise die Wechselwirkungen entlang der zeitlichen Dimension nicht vollständig berücksichtigt, da wir die Auswirkungen jedes einzelnen Jahres getrennt von denen der anderen Jahre bewertet wird. 

Schlussfolgerungen 

Es lässt sich feststellen, dass mittlerweile verschiedene Finanzstressindikatoren existieren. Sie basieren auf verschiedenen Verfahren, sei es auf ökonometrischen Ansätzen oder auf maschinellen Lernverfahren. Vermieden werden sollte ein "Pferderennen" darum, ob ein Finanzstressindex einem anderen generell überlegen oder unterlegen ist. Finanzielle Instabilität ist ein äußerst schwer zu fassendes Konzept. Darüber hinaus sind Finanzkrisen (glücklicherweise) seltene Ereignisse, was die statistischen Freiheitsgrade, die bei solchen Vorhersagewettbewerben zur Verfügung stehen, stark einschränkt.

Datengesteuerte Methoden sind relativ robust. Wenn historische Daten verrauscht sind (wie es bei Finanzkrisen der Fall ist), besteht bei der Verwendung empirischer Modelle, die die Daten der Stichprobe überbewerten, die Gefahr, dass sie falsche Schätzungen liefern. Mit datengesteuerten Verfahren kann dieses Problem überwunden werden. Allerdings haben datengesteuerte Verfahren auch Nachteile. Sie werden häufig als Black-Box-Modelle bezeichnet. Die datengesteuerten Modelle können zwar die Eingaben kontrollieren und weitgehend genaue Ergebnisse erzielen, aber sie können nicht die Gründe für das spezifische Ergebnis des Algorithmus erläutern. Daher ist es sehr schwierig, ein Argument zu finden, das den politischen Entscheidungsträgern hilft, die Ergebnisse zu verstehen. Das ist aber ebenso wichtig wie die Fähigkeit, genaue Vorhersagen zu treffen.

Insofern wird dafür plädiert, bestehende Ansätze zu kombinieren. Gemischte Ansätze, die reine algorithmische Techniken (keine spezifischen Annahmen über den Datenerzeugungsprozess) und parametrische Regressionstechniken umfassen, Vorteile haben, da sie die Analyse in einen theoretischen Kontext einbetten können. Sie ermöglichen die Überwindung des Problems der Zuverlässigkeit des Vorhersagemodells durch den Einsatz fortschrittlicher datengesteuerter Techniken. Gleichzeitig ermöglich sie die Schätzung der Ausfallwahrscheinlichkeit mit Hilfe von Standardregressionsverfahren.

Autor: 

Dr. Silvio Andrae

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock.com / Romolo Tavani ]
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