Die Mitglieder des Aufsichtsrats sind ausschließlich für das Wohl der Gesellschaft verantwortlich, so die allgemeine Rechtsauffassung. Primäre Aufgabe des Aufsichtsrats ist es, die Geschäftsführung – also den Vorstand – zu überwachen (§ 111 AktG). Außerdem obliegen dem Aufsichtsrat Prüfungspflichten (insbesondere des Konzern- und Jahresabschlusses der Gesellschaft, § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG) sowie Berichtspflichten. In diesem Kontext stehen unternehmerische Entscheidungen auf den ersten Blick im Gegensatz zur Aufgabe und Funktion des Aufsichtsrats: Er darf keine originäre Geschäftsführungsfunktion übernehmen. Seit Langem aber ist durch die Literatur und Rechtsprechung differenzierend klargestellt, dass der Aufsichtsrat nicht nur hinsichtlich seiner Personalkompetenz (einschließlich der Vergütungsvereinbarungen) und im Rahmen zustimmungspflichtiger Geschäfte (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG) unternehmerisch tätig ist (und sein muss), sondern ihn auch weitere Aufgaben zur "Mitwirkung" bzw. "Mitentscheidung" zwingen.
Laut einer Panel-Befragung, welche die Zeitschrift "Der Aufsichtsrat" in Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO in diesem Jahr zum siebten Mal durchführte, spielt die unternehmerische Mitwirkung an zentralen Unternehmensentscheidungen im Selbstverständnis von Aufsichtsratsmitgliedern deutscher Unternehmen eine immer stärkere Rolle.
Dennoch sieht sich die Mehrheit der Mandatsträger auch in Zukunft vor allem als Kontrolleure und erteilt einer Verschmelzung von operativen und kontrollierenden Funktionen (wie sie das angelsächsische Board-System kennt) eine klare Absage: Auf die Frage "Sehen Sie im Board-Modell eine Lösung, die Verantwortlichkeiten zusammenzuführen und im Interesse der gemeinsamen Verpflichtung auf das Unternehmensziel effizienter umzusetzen?" antwortete eine Mehrheit von 64 Prozent mit "Nein".
Stärkere Einbindung des Aufsichtsrats in strategische Entscheidungen
Ungeachtet der Diskussion um das duale oder das angelsächsische Modell zeigt die Panel-Befragung, dass Aufsichtsräte schon heute stark in strategische und grundlegende unternehmerische Entscheidungen eingebunden sind. Insbesondere bei Entscheidungen zu Beteiligungen und Akquisitionen sowie Entscheidungen zu Investitionen und Finanzierungen ist ihre unternehmerische Mitwirkung gefragt. Weitere Aktionsfelder sind Fragen zu Produktneueinführungen und Geschäftsfeldern, zur Internationalisierung, zu Unternehmensstrategien und Personalentscheidungen. In den Antworten auf die Frage nach der grundsätzlichen Einstellung zur Kompetenzverteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat wird die Abgrenzungsproblematik deutlich: So sprach sich etwas mehr als die Hälfte der Befragten für eine "unternehmerische Tätigkeit" aus. Dagegen lehnten 42 Prozent diese Funktion des Aufsichtsrats gänzlich ab. Hinsichtlich der Beteiligung bzw. Mitwirkung an unternehmerischen Entscheidungen kann eine Zuordnung der 118 (aus insgesamt 151) Nennungen nach sechs Themengebieten erfolgen:
- Beteiligung und Akquisition (9 Beteiligungskauf, 22 Akquisition, 3 Beteiligungsverkauf, 10 Desinvestment),
- Investition und Finanzierung (12 Investitionen, 10 Kredite und Finanzierung, 5 Kapitalmaßnahmen),
- Produkt und Geschäftsfeld (14 Produktneuentwicklung und -einführung, 4 neue Geschäftsfelder),
- Internationalisierung (9 Expansion ins Ausland, 2 Aufbau Low-cost-Ressourcen),
Unternehmensstrategie (10 Nennungen) sowie - Personalentscheidungen (6 Vorstandsverträge, 1 Personalentwicklung, 1 Sozialplan).
Die 151 Nennungen weisen eine klare Tendenz auf. Es gibt zwei zentrale Themen – die unternehmerische Mitwirkung des Aufsichtsrats bei Entscheidungen zu Beteiligungen und Akquisitionen sowie bei Entscheidungen zu Investitionen und Finanzierungen.
Steigende Haftungsrisiken für Aufsichtsräte
Unter Berücksichtigung der erhobenen Einschätzung zur wachsenden unternehmerischen Verantwortung des Aufsichtsrats wurde von 90 Prozent der Befragten die Einschätzung einer damit faktisch ebenfalls wachsenden Haftung geteilt. Nach der Möglichkeit befragt, diese steigende Mitverantwortung gegebenenfalls zu begrenzen bzw. kalkulierbar zu machen, sah ein Fünftel keine Möglichkeit außer der Mandatsniederlegung. Zwei Drittel der Befragten (66 Prozent) sehen den Aufsichtsrat hierbei vor allem in seinem faktischen Handeln gefordert: Dies beinhaltet u.a. eine klare Definition eines Aufgabenkatalogs und eine straffe Information zwischen Vorstand und Aufsichtsrat. Die Arbeit des Aufsichtsrats bedarf einer rechtssicheren Dokumentation, und die zeitliche Investition für die Überwachungstätigkeit sei zu erhöhen. Von etwas mehr als einem Fünftel der Befürworter einer Begrenzung der Mitverantwortung des Aufsichtsrats wurde eine D&O-Versicherung als Möglichkeit benannt. Ferner wurden eine noch höhere Kompetenz der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder, die Heranziehung externer Informationsquellen sowie weitere systemrelevante Maßnahmen angeführt.
Ablehnung des angelsächsischen Board-Systems
Überraschend deutlich fällt die Ablehnung des angelsächsischen Board-Systems aus. Auf die Frage "Sehen Sie im Board-Modell eine Lösung, die Verantwortlichkeiten zusammenzuführen und im Interesse der gemeinsamen Verpflichtung auf das Unternehmensziel effizienter umzusetzen?" antwortete eine Mehrheit mit "Nein". Die 32 Board-Gegner (64 Prozent) bewerteten in ihren 40 zum Teil sehr unterschiedlichen Einlassungen das duale System, und damit die Trennung von operativer und kontrollierender Funktion, als effizienter und besser. In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, dass 70 Prozent sich eine (zukünftige) Haftungsbegrenzung und -differenzierung wünschen, eine "Teilprofessionalisierung" im Sinne einer unterschiedlichen Kompetenzausstattung im Aufsichtsrat ("2-Klassen-Aufsichtsrat") aber ganz mehrheitlich (78 Prozent) ablehnen bzw. darin keine geeignete Lösung der Haftungsproblematik sehen.
[Eigener Text basierend auf: Arno Probst/Manuel R. Theisen: Unternehmerische Entscheidungen des Aufsichtsrats – Ergebnisse der 7. Panel-Befragung, in: Der Aufsichtsrat, Ausgabe 05/2010, S. 66-68, Bildquelle: iStockPhoto]