RiskNET Kolumne April 2009

Back to the roots: Rückkehr zu einem vertrauensbasierten Risikomanagement


Die aktuelle Weltwirtschaftskrise ist in ihrer finanziellen sowie psychologischen Gravität ein Lackmustest für die wichtigsten Parameter unserer Wirtschaftsordnung: Vertrauen, Integrität und Loyalität. Eine prosperierende Volkswirtschaft baut auf gegenseitigem Vertrauen der Marktteilnehmer, einem ethisch verantwortlichen und somit integerem Handeln sowie der wechselseitigen Loyalität von Arbeitgebern und -nehmern auf. Auf diesen Pfeilern ruht eine soziale Marktwirtschaft, über diese Attribute täglichen Handelns entsteht bei allen Marktteilnehmern ein Gefühl der Fairness vor dem Hintergrund gemeinsamer Verantwortung. Schwindet aber das Gefühl der Fairness aufgrund fehlender Integrität, so bröckeln konsequent Vertrauen und Loyalität – eine Entwicklung, wie wir sie angesichts täglich neuer Hiobsbotschaften in der gegebenen Finanzkrise derzeit erleben müssen. Schwer vorstellbare und noch weniger nachvollziehbare Botschaften unterminieren das Vertrauen in die Integrität und Loyalität unseres Wirtschaftssystems:

  • Staatsregierungen spannen volkswirtschaftlich zwar sinnvolle, in ihrer gigantischen Form dem einzelnen Marktteilnehmer aber schwer kommunizierbare, Schutzschirme auf. So umfasst der Bankenschirm der deutschen Bundesregierung 480 Mrd. €, während parallel neue Schulden von 50 Mrd. € zur Stabilisierung der Konjunktur geplant werden. Die US-Regierung hat Bankgarantien von 1,4 Billionen US-Dollar erlassen und rechnet mit einem Gesamtaufwand von 8 Billionen US-Dollar, um die Finanzkrise gesamthaft abwenden zu können.
  • Banken haben weltweit bis dato 1 Billion US-Dollar Abschreibungen auf ihre Wertpapiere vorgenommen. Allein in Deutschland rechnet man noch mit einem Bestand von einer Billion € toxischer Wertpapiere.
  • Westeuropäischen Banken droht der Ausfall von 1,7 Billionen Euro, die  als Kredite an die einstmals wachstumshungrigen, nun von der Finanzmarktkrise besonders betroffenen, osteuropäischen Staaten vergeben worden sind.
  • Industriekonglomerate fordern ebenso staatliche Hilfen, nachdem ihr Wachstumshunger durch die Finanzkrise zum Schluckauf kolportiert ist. So stünde die ehemals gesunde Schäffler-Gruppe ohne die über Finanzmarkttransaktionen gehebelte Übernahme von Continental noch immer im nun vergangenen Glanz.
  • Ganze Staaten fürchten ein Downgrading ihrer Bonität mit ungeahnten Folgen auf die von ihnen emittierten Staatspapiere. Das Beispiel Island vor Augen müssen nun auch Spanien, Italien und Irland mit Bangen die Entwicklung der kommenden Wochen erwarten.


Angesichts dieser Entwicklungen der aufgrund der Unvorstellbarkeit genannter Zahlen wahrlich "großen Weltwirtschaft", fühlt sich der einzelne Arbeitnehmer macht- und teilnahmslos, kapitalistischen Prozessen hilflos ausgeliefert, womit ein Vertrauensverlust im Innenverhältnis der Arbeitsmärkte wuchert.

Zahlreichen Unternehmen droht die Insolvenz, weil ihre Wachstumsgier an eine permanent mögliche Fremdfinanzierung gekoppelt war. Der Produktionsfaktor Arbeit wurde in den vergangenen Jahrzehnten in seiner Bedeutung vom Produktionsfaktor Kapital ersetzt. In der Krise des Kapitals werden nun Arbeitsverhältnisse unweigerlich mit in den Abgrund gezogen – mit jedem einzelnen Arbeitsplatz ist aber ein Schicksal verknüpft. Muss hier die ursprünglich beabsichtigte und nun doch nicht von der Bundesregierung realisierte Deckelung von Managergehältern (in Deutschland wie auch aktuell in den USA) auf 500.000 € nicht wie Hohn klingen und die beschworene Loyalität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufweichen? Wie ernst kann der einfache Bundesbürger als "man in the street" den nun gefundenen Regierungskompromiss zur Begrenzung von Vorstandsvergütungen eigentlich nehmen?

Besonders bitter ist in dieser Gemengelage zudem die Erfahrung von Misstrauen, welches Arbeitnehmern in Großkonzernen seitens ihrer Führungsriege entgegenschlägt. Datenabgleiche der Deutschen Bahn sowie der Telekom wurden unter dem Deckmantel der Korruptionsabwehr vorgenommen – letztlich wurden alle Mitarbeiter dieser Konzerne quasi unter einen Generalverdacht gesetzt. "Anti-Fraud-Management-Systeme" implizieren in jedem Mitarbeiter ein potenzielles Betrugsrisiko und nehmen somit die gesamte Belegschaft in Sippenhaft. Wie soll sich auf dieser Vertrauensbasis eine hoch motivierte Mitarbeiterschaft bilden?

Vor dem Hintergrund diverser Vertrauenskrisen sollen nun Regulierungsbestrebungen für Sicherheit, Konstanz und neues Vertrauen sorgen. Der deutsche Corporate Governance Kodex ruft Unternehmensleiter zu ethisch-verantwortlicher Unternehmensführung auf, Compliance-Codes sollen in den Unternehmen die Einhaltung rechtlicher und vertraglicher Normen garantieren und aufsichtsrechtliche Veränderungen verschärfen die Regulierungstendenz der Finanzmarktindustrie. Zahlreiche Gesetze werden aufgestellt, verschärft oder neu strukturiert, um den entstandenen Schaden der Finanzkrise unwiederholbar zu machen. Neben dem bereits erwähnten Corporate Governance Kodex besteht mit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich, dem Transparenz- und Publizitätsgesetz, dem Bilanzkontroll- und Bilanzrechtsreformgesetz, dem Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts sowie der europäischen Transparenzrichtlinie – um nur einige zu nennen – ein Paragrafendschungel zur Verhinderung betriebswirtschaftlicher und rechtlicher Unternehmensschieflangen. Selbst auf europäischer Ebene werden supranationale Aufsichtsorgane in Stellung gebracht, um länderübergreifende Kontrollen besser koordinieren zu können. Doch kann mit diesen Gesetzen neues Vertrauen in Finanz- und Arbeitsmärkte gebracht werden? Können Integrität und Loyalität per Gesetz vorgeschrieben werden?

Die Antwort zu diesen rhetorischen Fragen ist offensichtlich. Ausschließlich ehrliches, nachhaltiges, wahrhaftiges, kooperatives und transparentes Handeln der wirtschaftlichen Entscheider können wieder einen "common sense" in unserer Wirtschaft erzeugen. Wenn der neue US-Präsident zu Recht eine Kultur kurzfristigen Gewinnstrebens beklagt, so liegt genau in dieser fehlenden Nachhaltigkeit die Schwäche unseres aktuellen Wirtschaftssystems. Fürsorgliche, langfristig denkende, mittelständische Unternehmer, die als "Vater ihrer Belegschaft" Vorbilder darstellten, planten nie nur auf den nächsten Jahresabschluss hin. Ihre Entscheidungen hatten mittelfristig Gewicht, weil sie davon ausgehen konnten, mittelfristig für eben diese Entscheidungen gerade stehen zu müssen. Dieses Unternehmertum stellt keine sozialromantische Verklärung dar – dieses Unternehmerbild hat Deutschland zu einer der stärksten Wirtschaftsnationen der Welt gemacht. Zur sozialen Marktwirtschaft gibt es keine Alternative – nur sollte diese Wirtschaftsform wieder in ihrer von Ludwig Erhard und seinem Berater Müller-Armack definierten Form gelebt werden.

Vertrauen, Integrität und Loyalität waren der Anfang des deutschen Wirtschaftswunders vor einem halben Jahrhundert – genau diese Werte müssen auch wieder am Anfang der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise im Jahre 2009 stehen. Ein klares Bekenntnis zu diesen Werten steht aber seitens der Marktteilnehmer derzeit noch aus. Mahatma Gandhi prägte den Satz: "Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt". Fangen wir also bei uns an, die genannten Werte nicht nur einzufordern sondern auch selbst vorzuleben. Der Weg aus der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise führt allein über unsere marktwirtschaftliche Einstellung zu einem erneuten Vertrauen in effiziente Faktormärkte – und bedarf keiner normativen Vorgabe juristischer Kontrollnormen.

Prof. Dr. Matthias Müller-ReichartAutor:

Prof. Dr. Matthias Müller-Reichart ist Inhaber des Lehrstuhls für Risikomanagement der RheinMain Hochschule in Wiesbaden, steht als Unternehmensberater in Diensten europäischer Versicherungsgesellschaften und engagiert sich als Einzelhändler eines Online-Juweliers in Würzburg. Zahlreiche Publikationen, Fachvorträge und Kongressleitungen weisen ihn als deutschen Versicherungsexperten auf EU-Ebene aus. 

 

Kommentare zu diesem Beitrag

Platon /24.03.2009 15:58
Klasse Kolumne. Endlich wird das Thema Finanzkrise mal aus einer anderen Perspektive betrachtet ... "Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt" sollte bei jedem Politiker und Vorstand über dem Schreibtisch hängen!
Optimist /25.03.2009 19:49
Sehr geehrter Herr Professor Müller-Reichart, Sie haben Recht. Eine prosperierende Volkswirtschaft baut auf gegenseitigem Vertrauen der Marktteilnehmer, einem ethisch verantwortlichen und somit integerem Handeln sowie der wechselseitigen Loyalität von Arbeitgebern und -nehmern auf. Leider sind wir von diesem Zustand meilenweit entfernt. Die Bonusdebatte ist nur ein Beispiel.

Möglicherweise hat der Ökonom James K. Galbraith recht, wenn er darauf hinweist, dass das alte Management in den Banken keinerlei Anreiz hat, bei der Wahrheitsfindung mitzuhelfen: "Eine zahlungsunfähige Bank hat keinerlei Veranlassung mehr, seriöse Bankgeschäfte zu betreiben. Die Anreize sind pervertiert. Das alte Management wird eher zocken und weitere Kapitalverluste anhäufen, einfach weil die Aussicht besteht, dass die Bank ohnehin bald geschlossen wird. Nehmen wir einmal an, die Lage der Bank ist völlig hoffnungslos, oder der Vorstand ist durch und durch korrupt. Dann besteht der größte Anreiz in dieser Situation darin, die Bank zu plündern und so viel Geld mitzunehmen wie möglich, bevor das wahre Ausmaß der Schäden ans Tageslicht kommt. Dazu streichen die Manager noch in dieser Situation Boni und Dividenden ein." (siehe Spiegel Online vom 23. März 2009)
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