Viele Kreditinstitute tun sich aktuell schwer und das nicht nur auf finanzpolitischer Ebene. Auch beim Thema Digitalisierung haben viele Traditionshäuser die Zeichen der Zeit lange nicht erkannt und laufen vielen Trends hinterher. Doch was heißt eine zunehmend digitalisierte und vernetzte Welt für die Banken, und welche Chancen und Risiken ergeben sich daraus für die Finanzdienstleister? Wir sprachen mit Uwe Rühl, Geschäftsführer der RÜHLCONSULTING Gruppe und seines Zeichens Experte für Risikomanagement, Informationssicherheit und Business Continuity Management. Eine Erkenntnis: Die Aufgaben für die Banken werden in Zeiten der Digitalisierung nicht weniger.
Seit Monaten laufen alle Medienkanäle zum Thema einer voll digitalisierten und vernetzten Welt heiß. Welche Chancen sehen Sie für Unternehmen bei der viel postulierten vierten industriellen Revolution?
Uwe Rühl: Wir leben in einer schnelllebigen Zeit, in der Unternehmen flexibel auf kurze Produktzyklen und Trends reagieren müssen. Im Umkehrschluss heißt das, vorausschauend zu planen und die komplette Produktions- und Dienstleistungskette im Blick zu haben. Von daher sehe ich einen klaren Mehrwert bei schnellen In-Time-Produktionen und -Dienstleistungen im Kontext von Industrie oder der Bank 4.0. Kundengeschäfte und Beratungen werden im Finanzdienstleistungsumfeld verstärkt online durchgeführt, inklusive neuer Produkte und Zahlungsweisen. Für viele Kunden eine feine Sache, weil sie dadurch in der Wahl der Geschäftsabwicklung freier sind. Hinzu kommen bessere bankinterne Prozesse durch die Digitalisierung. Das macht flexibler und ermöglicht den Banken, die Kosten für die eigenen Dienstleistungen zu reduzieren sowie besser zu planen.
Wo es eine Chancenseite gibt, existiert auch eine Kehrseite in Form möglicher Risiken. Auf welche Gefahren müssen sich Unternehmen und Finanzdienstleister bei einer allumfassenden Digitalisierung und Vernetzung einstellen?
Uwe Rühl: Hier sehe ich vor allem Cyberattacken als Bedrohung. Diese können alle Bereiche eines Unternehmens durchdringen und damit zu einem direkten materiellen Schaden führen. Hintergrund ist die durchgängige Vernetzung, die Systeme anfälliger macht. Wenn ein Angreifer einen Bereich des Produktions- oder Dienstleistungsbetriebes angreift, kann das schwerwiegende Folgen für die komplette Produktions- und Servicekette haben. Und damit meine ich bis zum Stillstand des Betriebsablaufs. Übertragen auf das Bankenumfeld sind Hackerangriffe mittlerweile an der Tagesordnung. Cyberkriminelle greifen dabei direkt Banksysteme an und verursachen beispielsweise mit Distributed-Denial-of-Service-Attacken, kurz DDoS, massive Schäden. Diese reichen von Erpressungen einzelner Banken bis zum Manipulieren und Stilllegen ganzer Systeme im Finanzumfeld.
Das Fachjournal IP (Internationale Politik) warf in einem Schwerpunkt zum Thema Industrie 4.0 die zentrale Frage auf, ob Konzerne es schaffen, "durch die Integration von IT-Technik die technologische Führung für das Gesamtprodukt zu behalten". Oder graben wir uns mit der immer stärkeren Abhängigkeit von IT-Lösungen nicht das eigene Grab? Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Uwe Rühl: Einerseits können Unternehmen den gesamten Produktionsprozess im Überblick behalten und steuern. Das ist durchaus eine positive Entwicklung, um die eigenen Prozesse zu verbessern. Methoden und Lösungen gibt es hier am Markt reichlich. Andererseits sehe ich Schattenseiten. Nämlich dann, wenn es wie zuvor beschrieben zu einer Cyberattacke kommt. In diesem Fall sind viele Unternehmen im schlimmsten Fall den Angriffen komplett "ausgeliefert". Beispiele für Cyberangriffe gab es in der jüngsten Vergangenheit genügend, auch im Finanzumfeld, und das wird sich im Zuge der weiterführenden Vernetzung und Digitalisierung wohl verschärfen. Sprechen wir von der fortschreitenden Digitalisierung, so müssen wir auch über wegfallende Jobs sprechen. Und das betrifft im Bankensektor auch hochqualifizierte Stellen.
Hinzu kommt, dass der Bankschalter alter Tage mehr und mehr verschwindet sowie eine zunehmende Ausdünnung der Filialnetze in vielen Banken fortschreitet.
Stichwort Vernetzung. Wir haben gelernt, linear zu denken und zu handeln. Sind wir für den "Quantensprung" hin zur durchgängigen Vernetzung überhaupt schon bereit? Oder werden wir eventuell von den Technologien in absehbarer Zeit als "schwerfällige menschliche Zwischenwesen aus der Schleife" entfernt, wie es der italienische Philosoph Luciano Floridi in seinem Buch "Die 4. Revolution" beschreibt?
Die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung hat heute schon viele Menschen "abgehängt" und führt augenscheinlich zu Belastungssymptomen. Wir werden zumindest abhängig sein von Analyse- und Monitoring-Tools, die uns helfen, die riesigen Datenmengen auszuwerten und am Ende nur ein Abbild der Realität liefern. In diesem Zusammenspiel kann es durchaus dazu kommen, dass der Mensch zum Bremsfaktor verkommt. Allerdings braucht es immer mehr Analysespezialisten, die mit den ausufernden Datenfluten etwas anfangen können, diese interpretieren und bestimmten Sachverhalten zuordnen können. Man braucht aktuell nur in die Stellenausschreibungen zu blicken, in denen landauf landab Datenanalysten gesucht werden.
Viele Experten sehen einen fundamentalen Wandel der Arbeitswelt auf uns zukommen. Beispielsweise artikuliert der Philosoph Richard David Precht die Gefahr, dass durch Industrie 4.0 eine Massenarbeitslosigkeit in Europa entstehen könnte, die wir uns bis dato nicht vorstellen können. Was ist Ihre Einschätzung, und welche Bereiche könnte dies betreffen?
Uwe Rühl: In den späten 70ern und frühen 80ern haben wir stark diskutiert, wie uns Computer und Roboter die Arbeit abnehmen und wie Arbeitsplätze rationalisiert werden. An diese Diskussion kann ich mich noch gut erinnern. Heute haben wir eine sehr hohe Beschäftigungsquote. Welche tatsächlichen Abhängigkeiten bestehen, kann ich hier nicht wissenschaftlich exakt wiedergeben. Was aber zu beobachten ist, ist die Tatsache, dass IT eher zu mehr Arbeit geführt hat, wohl aber mit anderen Schwerpunkten. Allerdings verändern sich bestimmte Berufe in der Industrie und dem Dienstleistungssektor, wobei einfache Tätigkeiten an manchen Stellen zunehmend verschwinden und durch digitalisierte Prozesse ersetzt oder überflüssig werden. Mit Blick auf das Bankenumfeld sehe ich den Bereich der Kundenbetreuung aber auch die Finanzmathematik, die in den kommenden Jahren mit massiven Umwälzungen rechnen muss.
Uwe Rühl ist Geschäftsführer der Rühlconsulting-Gruppe. Rühlconsulting ist mit ihren Tochterunternehmen Rucon Management und Rucon Service ein Beratungs-, Trainings- und Auditspezialist für Risikomanagement, Informationssicherheitsmanagement sowie Business Continuity Management (BCM). Im Mittelpunkt stehen die branchenübergreifende Arbeit und die Verzahnung von Integrierten Managementsystemen (IMS) zu nachhaltigen und wertsteigernden Sicherheitskonzepten und -lösungen. Das Ziel: nachhaltige, sichere sowie an Normen und Standards orientierte Arbeitsabläufe und Prozesse für Unternehmen jeder Größe, branchenübergreifend. Weitere Informationen unter: www.ruehlconsulting.de