Dass China im vorigen Jahr Exportweltmeister wurde und Deutschland vom Thron stieß, hat überall Schlagzeilen gemacht. Dass das Land im kommenden Jahr voraussichtlich die Nummer zwei unter den Abnehmerländern deutscher Ausfuhren werden könnte, erregt die Öffentlichkeit weit weniger. Zu Unrecht. Für die Zukunft der Bundesrepublik kommt es weniger auf schöne Titel an als auf das reale Geschäft.
In den letzten zehn Jahren hat sich der Anteil Chinas am deutschen Export von unter 2 Prozent auf knapp 6 Prozent erhöht. Gleichzeitig ist der entsprechende Anteil der USA von fast 10 Prozent auf 6 Prozent zurückgegangen (siehe Abbildung). Der Anteil Frankreichs, traditionell der wichtigste Handelspartner der Bundesrepublik, hat sich nur leicht von 11 Prozent auf 10 Prozent ermäßigt. Wenn sich diese Entwicklung im kommenden Jahr auch nur annähernd so fortsetzt, wird China 2011 die USA als zweitwichtigster Markt für deutsche Produkte im Ausland ablösen. 2012 oder 2013 könnte China sogar der wichtigste Exportkunde werden.
Abbildung: Anteil Frankreichs, der USA und Chinas am deutschen Export [Quelle: Bundesbank, eigene Schätzung]
Dass China für die deutschen Ausfuhren eine so große Rolle spielt, widerspricht den üblichen ökonomischen Theorien. Normalerweise nimmt man an, dass die Handelsaktivität mit größerer Entfernung abnimmt. China aber liegt Tausende von Kilometern entfernt. Der Handel mit diesem Land erfordert viel Geld für Transport, Marketing, After Sales Services und Anderes. Es war schon kompliziert, in die USA zu exportieren. Um wie viel schwerer ist es bei einem Land wie China, mit dem wir viel weniger gemein haben. Das Reich der Mitte muss schon sehr attraktiv sein, dass die deutschen Unternehmen das alles in Kauf nehmen.
Die wachsende Bedeutung Chinas für den deutschen Export hat Konsequenzen. Das Positive: Deutschland ist mit China auf dem Wachstumsmarkt par excellence der Weltwirtschaft tätig. In den letzten zehn Jahren haben sich die Ausfuhren nach China vervierfacht. Die Gesamtausfuhren sind dagegen "nur" um knapp 50 Prozent gestiegen. Nimmt man an, dass die chinesische Wirtschaft auf Jahre hinaus nominal um 10 Prozent bis 15 Prozent wächst (das wäre weniger als bisher), dann bedeutet das rein rechnerisch einen Exportzuwachs von 1 bis 1,5 Prozentpunkten pro Jahr. Das steigert die gesamtwirtschaftliche Produktion um einen halben Prozentpunkt. Es ist gut, so einen Wachstumsbeschleuniger zu haben.
Das Negative: Je höher der Anteil der Exporte nach China, umso größer die Abhängigkeit von der Entwicklung in diesem Land. Wenn das chinesische Bruttoinlandsprodukt wegen der vielfachen Ungleichgewichte mal nicht oder nicht so stark zunehmen sollte, ist Deutschland unmittelbarer Leidtragender. Hinzu kommt, dass die deutschen Ausfuhren in Zukunft stärker von protektionistischen Maßnahmen tangiert sein werden. Natürlich gibt es überall auf der Welt Handelsbeschränkungen. Innerhalb der EU und auch im Verhältnis mit den Vereinigten Staaten sind die Gefahren für uns jedoch nicht so groß, weil es hier oft leichter ist, Verhandlungslösungen zu finden.
Wenn sich die Wirtschaft stärker nach China orientiert, muss das auch die Politik tun. Sie muss mit der chinesischen Führung mehr ins Gespräch kommen. Ein paar Reisen der Kanzlerin oder des Wirtschaftsministers reichen da nicht aus. Auch die G-20 als neues Gesprächsforum ist nicht genug. Die Verhandlungen mit China sind wegen der kulturellen und mentalitätsmäßigen Unterschiede erheblich schwieriger als mit den traditionellen Partnern in der EU oder den USA. Natürlich steigt auch die politische Abhängigkeit vom Reich der Mitte. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass die Chinesen ökonomische Abhängigkeiten nicht auch politisch nutzen werden. Ihr Engagement in Griechenland und Portugal zeigt, dass sie ihren Einflussbereich auch in Europa ausweiten wollen.
Nicht nur die Politik muss sich stärker nach Osten (= China, nicht so sehr Russland) orientieren. Die Gesellschaft insgesamt muss eine Kehrtwende vollziehen. Bisher schauten junge Menschen bei ihren Zukunftsplänen vor allem nach Westen, nach Europa und in die USA. Natürlich bleibt das weiter so. Dazu kommt in Zukunft aber stärker der Osten. Die jungen Leute müssen Praktika in chinesischen Unternehmen machen. Sie müssen die Sprache lernen. Sie müssen die unterschiedliche Kultur studieren. Sie müssen Sitten und Gebräuche kennen lernen.
Mit all dem bekommt die Globalisierung eine neue Qualität. Lange Zeit beschränkte sie sich für die Deutschen weitgehend auf Europa und die USA. In Zukunft rücken die Länder der früheren "Dritten Welt" auch für uns mehr ins Zentrum. Interessant ist, dass dem stärkeren Handel bisher kein entsprechender Kapitalverkehr gegenübersteht. Die gesamten Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in China beliefen sich im ersten Halbjahr dieses Jahres auf knapp EUR 2 Mrd. In den Vereinigten Staaten investierten sie in dieser Zeit mehr als EUR 13 Mrd. Das hat zum Teil Kostengründe. Bei den derzeitigen Lohnverhältnissen ist es oft billiger, in Deutschland zu produzieren und die Güter zu verschiffen. Zum Teil spielt aber auch die Angst vor dem Verlust von Know-how eine Rolle. Ich vermute freilich, dass sich das kaum so durchhalten lassen wird. Internationaler Handel zieht auch immer internationalen Kapitalverkehr nach sich. In jedem Fall werden die Chinesen versuchen, sich stärker in deutsche Firmen einzukaufen. Es wäre engstirnig, wenn deutsche Investoren im Gegenzug nicht auch stärker in China aktiv würden.
Autor: Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.
[Bildquelle: iStockPhoto]
Kommentare zu diesem Beitrag
Der Westen passt von seiner Mentalität zu uns. Der Osten ist genauso fremd wie die Taliban. Muss ich deren Sprache, Sitten und Gebräuche nun auch lernen???
Wozu eine "Kehrtwende" vollziehen? Mir reicht es wenn wir die Chinesen als neue Handelspartner begrüßen und respektvoll behandeln. Deshalb muss ich weder Katzen mit Stäbchen essen noch sonst Gewohnheiten von denen übernehmen...