Die Blockchain – oder besser die zugrundeliegende Distributed Ledger Technology (DLT) – bietet erhebliche Chancen, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, Prozesse zu optimieren und zusätzliche Mehrwerte zu generieren. Durch eine zunehmende Dezentralisierung können Finanzdienstleistungen weitgehend ohne die Einschaltung von Finanzintermediären angeboten werden. Dazu wirkt die Tokenisierung von Vermögensgegenständen, Zahlungsmitteln und Rechten, die verschlüsselt als Kryptowerte in verteilten Transaktionsregistern digital abgebildet werden, als wesentlicher Treiber. Visionäre sehen schon heute den Beginn einer Revolution des Geldes, das in Zukunft Open Source und komplett dezentral sein wird. Das neue, auf DLT basierende Web 3.0 soll bisher schwer erhältliche Güter, Produkte und Dienstleistungen erschwinglicher und einer breiteren Masse zugänglich machen.
Für Banken und Finanzdienstleister birgt diese Entwicklung große Chancen, aber auch potenzielle Risiken. Beispielsweise können Banken und Finanzdienstleister mit neuen Angeboten wie Krypto-Verwahrdiensten oder -Handel ihr bestehendes Portfolio erweitern, um zusätzliche Geschäftsfelder zu erschließen. Fast 10.000 verschiedene Kryptowährungen existieren aktuell weltweit – damit hat sich ihre Zahl allein in den vergangenen zwei Jahren mehr als verdoppelt. Die enorme Vielfalt und Volatilität der Cyberwährungen und ihre Unabhängigkeit von Banken offenbaren gleichwohl gewisse Risikopotenziale. Überdies sind die Möglichkeiten von Krypto Assets auch Cyberkriminellen nicht verborgen geblieben. Krypto-Transaktion ist normalerweise klar verfolgbar, können aber technisch so vervielfältigt und mit Multiplikatoren versehen werden, dass sie nur noch schwer nachzuvollziehen sind. Für Akteure im Finanzdienstleistungsbereich ist daher ein Grundverständnis für die Technologie des Krypto- und Infrastrukturmarktes, von Sicherheitsaspekten, dem Innovationspotenzial und den staatlichen Rahmenbedingungen unerlässlich.
Unsere RiskNET-Redaktion sprach mit den Krypto-Experten Dirk Kruwinnus (Börse Stuttgart) und Sebastian Seitz (hiqs GmbH) über Risiken, Regulierung, Nachhaltigkeit und die Strategie bei Kryptowährungen.
Sebastian Seitz ist COO der hiqs GmbH, Heilbronn. Er hat Wirtschaftsinformatik an der Universität Mannheim studiert und ist einer der renommiertesten Krypto-Pioniere in Deutschland. Er ist seit über zehn Jahren in der Blockchain-Szene aktiv und hat mehrere Start-ups und FinTech-Unternehmen gegründet.
Dirk Kruwinnus arbeitet bei der Börse Stuttgart im Bereich Group Strategy & M&A und hat zuvor mit klassischem Emissionsgeschäft sowie der sich hieraus dank DLT entwickelnden Tokenisierung beschäftigt. Er ist zudem Vorstand bei blockLAB Stuttgart e.V. und beschäftigt sich mit Tokenisierung, Decentralized Finance und Krypto Assets vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung im Bereich der Finanz- und Kapitalmärkte.
RiskNET: Immer wieder sieht man staatliche Vorstöße, Kryptowährungen zu verbieten (beispielsweise China, Indien, Türkei, Russland). Nationalstaaten wollen ungerne ihr Monopol auf die Ausgabe von Währungen aus der Hand geben. Dennoch scheitern die Prohibitionsversuche bislang regelmäßig – warum?
Seitz: Die Gründe sind vielfältig und teilweise sehr unterschiedlich für die genannten Länder. Grundsätzlich sind diese Verbote schwer umzusetzen, da man dezentrale Währungen nicht einfach abschalten kann.
RiskNET: Je mehr institutionelle Investoren für ihre Kunden Kryptowerte halten, desto unwahrscheinlicher wird eine harte Regulierung gegen Krypto. In Deutschland gibt es schon heute einen ausgeprägten regulatorischen Rahmen, der vor allem Rechtssicherheit für alle Akteure bietet. Ist gute Regulierung ein Standortvorteil?
Seitz: Ja, definitiv. Jedes seriöse Unternehmen profitiert von einem sicheren Umfeld. Deutschland hat hier von Anfang an eine Vorreiterrolle inne, die die Entwicklung von Security Token Offerings stark begünstigt hat. Auf der anderen Seite sieht man große Probleme in den USA, wo die SEC recht abstrakte Kriterien verwendet, wie den Howey Test (Anmerkung der Redaktion: Eine Klassifizerung von Wertpapieren, bei dem das Geschäftsmodell einer Citrusfarm vor 90 Jahren als Referenzrahmen angewendet wird), um den Charakter eines Tokens zu bewerten. Hierbei sind große Auslegungsspielräume vorhanden, sodass die Vorhersage über eine Bewertung unmöglich wird. In der Praxis führt das dazu, dass praktisch alle Token-Projekte US-Amerikaner von der Teilnahme ausschließen.
Kruwinnus: Letzteres haben aber Token-Projekte nicht exklusiv – auch bei der Emission klassischer Wertpapiere werden US-Amerikaner, auch Kanadier oder Japaner in der Regel ausgeschlossen, wenn auch aus anderen Gründen. Ich stimme ebenfalls zu, dass eine gute Regulierung ein Standortvorteil ist. Allerdings helfen in meinen Augen nationale Alleingänge nur bedingt – zwar kann man auf diese Weise Akteure insbesondere Emittenten „gewinnen“ – mit Blick auf in der Regel international anlegte Token-Platzierungen und -nutzung bedarf es aber einer Harmonisierung von Standards, Klassifizierung und Regulierung. Hier könnte sich Europa gemeinsam einen Standortvorteil erarbeiten.
RiskNET: Im Krypto-Markt herrscht noch viel Wildwuchs, aber auch Goldgräberstimmung. Die jungen Unternehmen sind offensichtlich noch nicht durchgehend in der Lage, die aufsichtsrechtlichen Anforderungen zu erfüllen. Wie hoch sind die Anforderung und das Geschäftsrisiko?
Seitz: Die Anforderungen sind sehr hoch. Beispielsweise wird für die Verwahrung von Token eine Kryptoverwahrlizenz benötigt und für das Anbieten über eine Webseite mindestens ein Status als gebundener Anlagevermittler unter einem Haftungsdach. Um dies zu erfüllen, steigt der Kapitalbedarf für Start-ups erheblich, die Hürden für einen Markteintritt sind hoch.
Kruwinnus: Viele Projekte sind sich schlichtweg der Tatsache nicht bewusst, dass sie sich mit ihrem Vorhaben und insbesondere der geplanten Nutzung ihrer Tokens sehr schnell im Bereich von Finanzinstrumenten, Wertpapieren, Zahlungs-, Finanz- oder Bankdienstleistungen, d.h. im regulierten Finanzbereich bewegen. Und folglich ja – die regulatorischen Anforderungen sind deshalb verständlicher- und berechtigterweise sehr hoch. Blockchain/DLT ist in erster Linie eine neue Technologie, die zur vollen Ausschöpfung ihrer Potenziale sicherlich noch der Anpassungen von Gesetzen bedarf, aber die kein Argument sein darf, die für die jeweilige Nutzung bestehenden Gesetze zu ignorieren.
RiskNET: Wenn man sich einmal die fünf größten DeFi-Risiken ansieht, muss man eigentlich zum Schluss kommen, dass sich das Risikouniversum gar nicht so sehr von der klassischen Risikobetrachtung unterscheidet: Governance Risk, Marktrisiken, Liquiditätsrisiken, OpRisk, Cybercrime. Funktioniert somit auch für DeFi das klassische Risikomanagement?
Seitz: Teilweise sicherlich. Es gibt eine Reihe weiterer Risiken, die mit etablierten Methoden nur bedingt kontrolliert werden können, z.B. Schwachstellen in Contracts, betrügerische Projekte und die teils extreme Volatilität der Assets.
Kruwinnus: Unabhängig vom Risikomanagement kann man sicherlich auf einer ausreichend hohen Abstraktionsebene Neues in weiten Teilen in bestehende Muster pressen. Dennoch müssen gegebenenfalls bekannte "Disziplinen" aufgrund der neuen Technologie auch neu gedacht werden, beispielsweise Crypto Compliance von Know-Your-Customer, über Know-Your-Transaction zu Know-Your-Token.
RiskNET: Ein großer Nachteil beim Bitcoin ist der enorme Energieverbrauch durch das Mining. Krypto Assets auf Kosten der Nachhaltigkeit können kein Zukunftsmodell sein. Wenn man wollte, ließe sich Bitcoin-Mining auch mit weniger Ressourcenverbrauch und energieeffizienter gestalten. Hierfür müsste vom Proof of Work-Konsens auf Proof of Stake umgestiegen werden. Wo liegt das Problem?
Seitz: Bei Proof-of-Stake wird Rechenleistung durch den Einsatz an Kryptowährung ersetzt. Mit dem Start des Bitcoin-Netzwerkes hatte jedoch niemand Bitcoin. Diese wurden erst nach und nach an die Pioniere verteilt, die das Netzwerk zum Validieren von Transaktionen aufgebaut haben. Zu Beginn war Proof-of-Work also alternativlos. Mittlerweile sind 90 % aller Bitcoin im Umlauf, ein Wechsel auf Proof-of-Stake wäre theoretisch möglich. Technisch ist dies jedoch nicht trivial. Ethereum versucht seit Jahren, diesen Schritt zu gehen. Durch immer neue Herausforderungen wurde die Umstellung bereits mehrmals verschoben. Im August wird ein neuer Versuch unternommen, sollte dieser erfolgreich sein, steigt auch die Chance für eine Umstellung bei Bitcoin. Darüber hinaus hat Bitcoin die Rolle einer Leitwährung inne. Probleme bei Bitcoin hätten Auswirkungen auf die komplette Kryptoindustrie. Die Bitcoin-Entwicklercommunity ist daher traditionell sehr zurückhaltend mit größeren Änderungen am Protokoll.
Kruwinnus: Da kann ich mich nur anschließen. Man denke nur ganz allgemein an die Komplexität von IT-Infrastruktur-Migrationsprojekten und kann sich ein grobes Bild machen, wie komplex es wird, wenn dabei noch zentrale zugrundeliegende Logiken (im Falle von Ethereum den Konsensmechanismus) fundamental geändert werden.
RiskNET: Neben dem Handel mit Kryptowährungen experimentieren Banken auch mit der Tokenisierung von Vermögenswerten, wodurch etwa Kunstobjekte, Musik, Wein oder Immobilien durch Fraktionalisierung auch für Privatkunden zugänglich gemacht werden. Die Attraktivität für Anleger ist hier noch höher als bei Kryptowerten, oder?
Seitz: In jedem Fall sind sie vertrauter damit. Die Attraktivität von Kryptowährungen kommt durch die gigantischen Kurssteigerungen, die manche Projekte in kurzer Zeit erleben. Damit einher geht leider auch ein immenses Risiko, das die meisten Investoren sicher nicht richtig einschätzen können. Das dürfte für viele Investoren anderer Anlageklassen allerdings ebenso zutreffen.
Kruwinnus: Schon heute kann man nahezu jeden Vermögenswert strukturieren und in einer beliebigen „Fraktionierung“ emittieren – von Schiffen und Schiffscontainern über Wälder bis hin zu Immobilien. Großer Nachteil des klassischen Weges ist, dass man die "Anteile" – sofern als Vermögensanlagen verbrieft – nicht ohne Weiteres transferieren kann. Die rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen vorausgesetzt (beispielsweise Übertragung von Eigentumsanteilen an Immobilien), kann Tokenisierung helfen, Anlegern neue Assetklassen einfacher zugänglich zu machen. Dabei muss jedem klar sein, dass – wie auch heute schon – nicht jede Assetklasse für jeden Anleger geeignet ist.
RiskNET: Die BaFin warnt Privatanleger vor Risiken bei Investitionen in Kryptowerte und Anlagetipps in sozialen Medien. Es drohen Totalverlust, Betrug und Falschinformationen. Laut DSGV-Präsident Präsident Helmut Schleweis ähneln Kryptowährungen Schnellballsystemen. Wie hoch sind Verlustrisiken wirklich?
Seitz: Tatsächlich sind Influencer auf Social Media ein Problem. Man trifft immer wieder auf Personen, die ihre so erlangten Geheimtipps teilen. Diese Influencer verfolgen zumeist eigene Interessen und treiben beispielsweise durch Pump & Dump den Kurs einer Währung in die Höhe um selbst daran zu verdienen. Gerade kleinere Kryptowährungen sind anfällig für so etwas. Viele Aussagen zeigen nach wie vor eine erschreckende Unkenntnis zu dem Thema und deutliche Parallelen zu Einschätzungen von Experten beim Aufkommen des Internets, dem keinerlei Relevanz beigemessen wurde. Kryptowährungen ermöglichen die Unveränderbarkeit von Blockchain-Netzwerken. Die Blockchain-Technologie ermöglicht eine automatische Beglaubigung digitaler Transaktionen. Was wir derzeit erleben, ist vergleichbar mit dem Aufbau des Eisenbahnnetzes Ende des 19 Jahrhunderts. Viele Gesellschaften bauen kleine Strecken mit unterschiedlichen Tarifsystemen. Genau diese Fragmentierung sehen wir bei Kryptowährungen. Haben sich bestimmte technische Standards etabliert und bewährt, wird eine Konsolidierung einsetzen und die Blockchain-Technologie wird wie das Internet aus unserem Alltag nicht mehr weg zu denken sein.
Kruwinnus: Diese Warnhinweise der BaFin sind absolut berechtigt und wichtig – aber auch nichts was Kryptowährungen und Token exklusiv haben. Ich möchte die Risiken aus Blockchain-Projekten keinesfalls beschönigen, aber unseriöse "Anlageangebote", vor denen die BaFin dankenswerterweise die Privatanleger warnt, sind in meinen Augen nicht primär eine Frage der Abbildung/Verbriefung in Form von Token oder klassischen Vermögensanlagen oder vermeintlichen Wertpapieren.
RiskNET: Auf der anderen Seite wollen viele Institute zeitnah mit einem Service für Kryptowährungen starten und somit Millionen Kunden potenziell in den Markt für Kryptowerte öffnen. Wie passt das zusammen?
Seitz: Es ist nach wie vor nicht ganz einfach, Kryptowährungen zu handeln. Schnell landet man auf ausländischen Börsen, die eher an erfahrenerer Trader ausgerichtet sind. Hinzu kommen sprachliche Barrieren und komplizierte KYC-Verfahren. Ein bequemer Kauf über die Hausbank würde sicher von vielen Investoren genutzt werden. Dieses Geschäftspotenzial möchten Banken natürlich nutzen.
Kruwinnus: Es zeigt ganz offensichtlich, dass Kryptowährungen dabei sind, sich als Anlageklasse zu etablieren. Etablierte Kryptowährungen den eigenen Kunden zugänglich zu machen, ist ein Schritt, an dem in meinen Augen mittelfristig niemand vorbeikommen wird.
RiskNET: Die hohe Nachfrage von Privatkunden stellt Banken vor strategische Herausforderungen: Ein fehlendes Angebot im Bereich Digital Assets wird dazu führen, dass Kunden ihre Investments bei anderen Marktteilnehmern tätigen. Wird die Nachfrage den Markt regeln?
Seitz: Es lohnt sich, schnell zu sein. Mit jedem neuen Angebot sinkt das Potenzial für neue Marktteilnehmer.
Kruwinnus: Je nach Ausgangslage und Strategie sind Kooperationsmodelle sicherlich ein valider Weg seinen Kunden einen Zugang anzubieten – wie beispielsweise die jüngst publizierte Kooperation von flatex/degiro und BISON (Börse Stuttgart) zeigt.
RiskNET: Lieber Sebastian, lieber Dirk, vielen Dank für dieses Interview.
Die Fragen stellt Dr. Stefan Hirschmann.