Vor gut einem halben Jahr hielt der französische Ökonom Olivier Blanchard eine Rede, die für erhebliche Aufregung sorgte. Auf der renommierten Jahrestagung der American Economic Association stellte er die These auf, dass die niedrigen Zinsen bei gleichzeitig anhaltendem Wirtschaftswachstum eine Neubewertung der Finanzpolitik erforderlich machten. Etwas provokant formulierte er: "Öffentliche Schulden sind schlecht, sie sind aber keine Katastrophe. Man kann sie eingehen, man muss es aber richtig machen."
Damit rüttelte er an den Grundfesten der traditionellen finanzpolitischen Diskussion vor allem in Europa. Was haben wir in den vergangenen Jahren nicht alles für Anstrengungen unternommen, um die Staatsverschuldung zu reduzieren? Und das soll jetzt alles falsch sein? Wenn die neue Theorie recht hätte, dann hätte das auch erhebliche Auswirkungen auf die aktuelle Finanzpolitik. Es lohnt sich daher, der Sache nachzugehen.
Staatsverschuldung Euroraum, USA [Quelle: Eurostat, Fred]
Im Mittelpunkt der neuen Überlegungen steht die Differenz "R – G". R steht für die langfristigen Kapitalmarktzinsen, G für das gesamtwirtschaftliche Wachstum. Die Differenz von R und G ist derzeit negativ, das heißt die Zinsen sind niedriger als das Wachstum. Das gilt nicht nur für die USA mit Zinsen gerade mal etwas über 2 Prozent und einer nominalen Wachstumsrate von über 5 Prozent. Im Euroraum liegt die 10-jährige Bondrendite gemessen an den deutschen Bundesanleihen im Augenblick unter null, das Wirtschaftswachstum dagegen bei 3 Prozent.
Diese Konstellation hat für die Staatsfinanzen in der Tat erhebliche Bedeutung. Wenn die Zinsen so niedrig sind, muss der Staat nicht so viel für den Schuldendienst ausgeben. Das entlastet den Finanzminister. Es war einer der Gründe für die "Schwarze Null" im deutschen Bundeshaushalt in den letzten Jahren.
Wenn andererseits die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate hoch ist, dann wirkt sich das positiv auf die Höhe der Gesamtverschuldung aus (in % des Bruttoinlandsproduktes). Sie geht zurück. Auch das hat sich in den letzten Jahren in Deutschland gezeigt, als sich die Verschuldung von über 80 Prozent auf inzwischen 61 Prozent verringerte. Auch im Euroraum ist die Quote kleiner geworden, allerdings nicht ganz so spektakulär (von 92 Prozent auf 85 Prozent). Siehe Grafik.
Voraussetzung ist natürlich, dass der Staat nicht gleichzeitig hohe Budgetdefizite "fährt" und damit den positiven Effekt auf die Verschuldung konterkariert. Das ist der Pferdefuß an den dargestellten Zusammenhängen (der in der Theorie leider nicht erwähnt wird). Er ist beispielsweise in den USA zu beobachten, wo die Steuern 2018 massiv gesenkt wurden. Die Verschuldung hat sich deshalb nicht ermäßigt, sondern im Gegenteil weiter erhöht, wenn auch in geringerem Tempo (Grafik). Auch in Ländern Europas droht diese Gefahr.
Damit ist die Geschichte von "R – G" aber noch nicht zu Ende. Blanchard fügt diesen Überlegungen noch einen weiteren Gedanken hinzu. Jeder erwartet, dass "R – G" in erster Linie wegen der aktuell ultralockeren Geldpolitik negativ ist. Das ist aber nicht der Fall. Wenn man sich die gesamte Nachkriegszeit anschaut, dann gibt es zwar erhebliche Schwankungen von "R – G". Nach der Ölkrise in den 80er Jahren waren die Zinsen zeitweise erheblich höher als das gesamtwirtschaftliche Wachstum. Im Durchschnitt über alle Jahre zusammengenommen, war "R – G" jedoch auch bei dieser langfristigen Betrachtung negativ. Das gilt sowohl für die USA wie auch – in noch stärkerem Maße – für Europa.
Das relativiert die Bedeutung der "R – G"-Theorie. Sie ist kein neues Phänomen, das mit der aktuellen Niedrigzinspolitik zusammenhängt. Die Zusammenhänge gab es vielmehr schon immer, mal stärker mal weniger stark. Man hat sie nur nicht beachtet.
Insgesamt bringt uns "R – G" also nicht so viel weiter. Sie ist alter Wein in neuen Schläuchen. Trotzdem fällt sie in der gegebenen gesamtwirtschaftlichen Situation natürlich auf fruchtbaren Boden. Die Konjunktur schwächt sich stärker ab als erwartet. Ein größerer Einbruch kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Die Geldpolitik steht Gewehr bei Fuß, um gegenzusteuern. Ihre Munition ist aber nach den vielen Jahren mit niedrigen Zinsen und hoher Liquidität begrenzt. Da sind die Finanzminister eigentlich gefordert. In einer solchen Situation kommt ihnen zu Pass, wenn ihnen Argumente für eine expansivere Politik geliefert werden.
Umso wichtiger ist, dass man die Gefahren, die mit einem Umsteuern verbunden sind, nicht übersieht. Nach wie vor befindet sich die Finanzpolitik in einer prekären Situation. Die Verschuldung der meisten Länder ist sehr hoch. Sie verunsichert die Märkte, "R – G" hin oder her. Sie wirkt damit auch negativ auf Konjunktur und Investitionen aus.
Auch ich halte gegenwärtig eine expansivere Finanzpolitik für erforderlich. Sie sollte aber zweistufig vorgehen. Vorangehen sollten die Länder mit aktuell niedriger Verschuldung wie etwa Deutschland. Sie können sich Steuersenkungen und mehr Infrastrukturinvestitionen leisten. Sie agieren damit als Lokomotiven. Alle anderen müssen einen Rückfall in das "Deficit Spending" früherer Jahre vermeiden und sich stattdessen auf Impulse von außen verlassen. So eine Arbeitsteilung müsste in einer Gemeinschaft wie der EU eigentlich machbar sein. Sie wäre die richtige Anwendung für "R – G".
Richten Sie sich darauf ein, dass nicht nur die Geld-, sondern auch die Finanzpolitik expansiver wird, je länger die Konjunkturflaute anhält. Das hilft der gesamtwirtschaftlichen Aktivität und den Gewinnen. Andererseits ist es eine Belastung, wenn der Staat mehr Geld aufnimmt. Es könnte zu stärkeren Schwankungen an den Märkten führen.
Autor:
Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.