Das Risiko der selbsterfüllenden Prophezeiung


"Du bist Deutschland!" - "Deutschland wird Weltmeister!" - "Wir werden Marktführer!" Solche Aussagen begegnen jedem. Immer wieder und allerorten. Wiederholung und Präsenz sind die Waffen im Kampf um das knappe Gut Aufmerksamkeit. Hier geht es nicht um Prognosen, die zugrundegelegte Annahmen offen legen und beständig überprüfen müssen; Was hier von Talentoffensiven, Teamchefs oder Vorständen beschworen wird, ist etwas anderes: die Macht der selbsterfüllenden Prophezeiung.

Risikomanagement versteht sich nicht als Kunst der Propheterie, sondern liefert Prognosen zur besseren Steuerung von Risiken. Wir fragen hier umgekehrt: was ist das Risiko der Prophezeiung und wann ist es wohl begründet? Ist die Prophezeiung am Ende der blinde Fleck der Prognose?

Vergleichen wir: die Prognose macht anhand von Regeln, die in Vergangenheit und Gegenwart bestätigt werden konnten, eine Aussage über die Zukunft. Sie agiert damit strukturell konservativ – das Neue vermag sie prinzipiell nicht zu denken. Ihre Methodik orientiert sich an gegenwärtig Bekanntem und extrapoliert dessen Struktur in die gänzlich ungewisse Zukunft. Die Prophezeiung umgeht diese strikte Methodik durch eine fast totalitäre Arroganz: sie kennt keine Fakten, außer denen, die sie selbst geschaffen hat. Widerstrebende Wirklichkeiten lässt sie einfach nicht als solche zu. Was möglich oder unmöglich ist, definiert sie selbst – auch die Erfahrung lehrt sie nichts.

Schließlich  paart sie diese erkenntnistheoretische Überheblichkeit mit einer kaum zu ertragenden Penetranz: Eine Prophezeiung wird "[...] man nicht los, bis man [sie] zur Erfüllung bringt"1 . So besticht die Prophezeiung durch die oft entwaffnende Klarheit ihrer bedingungslosen Logik. Als Logik des Scheiterns nimmt sie nur in den Focus, was ein Misslingen auch befördert. Prägnant fasst dies die berühmte Regel zusammen, die dem amerikanischen Luftwaffeningenieur Ed Murphy zugeschrieben wird: "If anything can go wrong, it will."  Komplementär ergänzt diese Denkungsart der Glücklosen eine Logik des Gelingens. Sie schielt nicht auf das worst case scenario, sondern geht aufs Ganze. Sie weiß: "Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße."2

Wie auch anders sollten Man-ager, die noch vor 20 Jahren Teen-ager waren, eine Unternehmenskultur verändern, die sich in einem Traditionsunternehmen in Generationen etabliert hat? – Sie lassen die Möglichkeit des Scheiterns gar nicht erst zu. Als moderne Propheten implementieren sie eine neue Kultur, indem sie überzeugend so agieren, als bestünde sie bereits. Genauso braucht ein Verkäufer, egal ob er nun Meinungen oder Produkte zu Markte trägt, notwendigerweise den Glauben an die den Erfolg garantierende Qualität seiner Unternehmung. Nur wer selbst brennt, kann andere entzünden – die prophetische Logik des Gelingens ist ein Spiel mit dem Feuer.

Die Macht der selbsterfüllenden Prophezeiung täuscht, weil sie überfordert. Die Zukunft ist nämlich nur dem vorhersehbar, "der die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt"3 , wie Immanuel Kant zu bedenken gibt. Der redliche Prophet wäre also an eine Allzuständigkeit gebunden, die eine chronische Überforderung bedeutete. Seiner Stimme wird trotzdem gerade in Zeiten allgemeiner Verwirrung und Überforderung Gehör geschenkt. Sein Credo des "Alles oder Nichts" reduziert die als überkomplex empfundene Wirklichkeit auf eine einfache Alternative und verschafft so Orientierung. Daß die Welt die Frage "Alles oder Nichts?" gerne mit "Nichts!" beantwortet, muß den seinen Macher-Habitus pflegenden Propheten moderner Prägung dabei nicht irritieren.  Man gilt eben nichts im eigenen Land und "ist nicht der Mund für diese Ohren!"4  Das System Prophezeiung ist einwandsimmun und im Gegensatz zur Logik der Prognose nicht fehlertolerant. Eine Prognose ist per definitionem mehr oder weniger falsch – eine Prophezeiung bewahrheitet sich oder war gar keine.

So bleiben Recht und Macht der Prophezeiung auf ihre motivierende Kraft beschränkt. Sie potenziert Gefahrenlagen, indem sie Katastrophenrisiken produziert. Denn wer das Scheitern als Möglichkeit ausschließt, der wird im Ernstfall als Gescheiterter ausgeschlossen.

Ähnlich kann auch die vorsichtigste Maxime nicht vor einem Unglück schützen, das man nicht selbst zu verantworten hat. Prophezeiungen unterstellen letztlich der Welt einen einheitlichen und einfachen Sinn, den sie nicht haben kann. Mehr als die eigene Perspektive zulässt kann man eben nicht sehen, sondern höchstens erahnen. Um die "neue [und allgemeine] Unübersichtlichkeit"5  und deren Risiken bestmöglich zu meistern, reicht deswegen eine immer feinere Prognostik nicht hin. Auch ein feines Sensorium für ungeahnte Möglichkeiten ist von Nöten. Hier liegt der blinde Fleck der Prognose, die im prophetischen Denken eine Kultur der Ahnung6  finden und sich nutzbar machen kann. Motivation und Ahnung sind  Kompetenzen, die trotz der vielen "falschen Propheten" die selbsterfüllende Prophezeiung in ihr Recht setzen. Nicht jede Kassandra muß ungehört sterben.

 

1: Frisch, Max: Tagebuch 1966-1971, Frankfurt a. M. 1972, S. 33

2: Walser, Martin: Jenseits der Liebe, Frankfurt a. M. 1976, S. 136 „Es gibt nicht nur die Gefahr, daß du zuviel riskierst, es gibt auch die Gefahr, daß du zu wenig riskierst. Dem Gehenden...“ 

3: Kant, Immanuel: Streit der Fakultäten, A 132

4: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra,  München 1999, Vorrede, 5, 26f

5: Habermas, Jürgen: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1996

6: Hogrebe, Wolfram: Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt a. M. 2002

 

Zu den Autoren:

Henrik Pontzen arbeitet an einer Dissertation zum Thema Risikoethik und ist parallel als Finanzberater in Düsseldorf tätig.

Thomas Schindler arbeitet als freier Autor in Köln und ist u.a. für das ARD Morgenmagazin tätig.

E-Mail: henrikpontzen@hotmail.com

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