Die Europäische Zentralbank hat die Märkte dieser Tage aufgeschreckt. Die globalen Leistungsbilanzungleichgewichte, so schreibt sie in ihrem neuesten Monatsbericht, nähmen im Zuge der konjunkturellen Erholung wieder zu. Das sei ernst zu nehmen. Vor drei Jahren seien es diese Salden gewesen, die "erste Anzeichen der Krise" waren. Wenn jetzt nichts gegen die neuen Ungleichgewichte getan werde, dann könnte es erneut zu einer Zuspitzung kommen. Das ist starker Tobak. Müssen wir uns an den Märkten also wieder anschnallen, weil die nächsten Turbulenzen drohen?
Warnungen der EZB sind immer ernst zu nehmen. Niemand kann ein Wiederaufleben der Krise ausschließen. Es gibt viele Schwachstellen, von den Griechenland-Problemen über die weiter labile Situation vieler Banken, bis zu den jüngsten Ausfällen bei Gewerbeimmobilien. Anschnallen ist also in jedem Fall angesagt. Die globalen Leistungsbilanzungleichgewichte rangieren dabei aber eher in der zweiten Reihe. Hier übertreibt die EZB.
Grundsätzlich gilt: Leistungsbilanzsalden sind das Ergebnis der Spar- und Investitionsentscheidungen in einer Volkswirtschaft. Wenn die Menschen mehr sparen als investieren, dann ergibt sich ein Überschuss in der Leistungsbilanz. Wenn sie weniger sparen, dann haben sie ein Defizit. In einer Welt, in der die Menschen ihre Spar- und Investitionsentscheidungen unabhängig voneinander treffen, wäre es Zufall, wenn die Leistungsbilanzen immer ausgeglichen wären. Es ist die Aufgabe der Finanzmärkte, diese Salden durch entsprechende Kapitalexporte und Importe zu finanzieren.
Früher sagte man, dass reife Industrieländer einen Überschuss anstreben sollten. Er sollte über die entsprechenden Kapitalexporte den Schwellen- und Entwicklungsländern zu Gute kommen. Das war einerseits Entwicklungshilfe, andererseits konnten die entwickelten Länder über ihre Anlagen vom höheren Wachstum in der Dritten Welt profitieren. Diese Konstellation ist inzwischen vorbei. Die Welt hat sich gedreht. Die Industrieländer haben heute keinen Überschuss mehr, die Schwellen- und Entwicklungsländer kein Defizit. Man muss die Situation differenzierter sehen:
- Länder mit besonders breiten und liquiden Kapitalmärkten wie die USA können sich ein Defizit in den laufenden Posten leisten. Sie haben keine Schwierigkeiten, den Fehlbetrag zu finanzieren. Alle großen Investoren dieser Welt drängen, um in den USA ihre Gelder anzulegen. Man sagt immer, die Amerikaner seien von den chinesischen Kapitalanlagen abhängig. Richtig. Genauso gilt aber auch, dass die Chinesen von den USA abhängig sind. Sonst könnten sie ihre Währungsreserven nicht anlegen.
- Länder mit einer demographisch bedingten Alterung brauchen Leistungsbilanzüberschüsse. Sie müssen sich darauf vorbereiten, dass sie eines Tages mehr konsumieren als sie wegen Arbeitskräftemangel produzieren können. Deutschland würde einen großen Fehler machen, wenn es jetzt aus kurzfristigen Gründen die Binnennachfrage ankurbelt, um dadurch die Überschüsse abzubauen, die es später braucht.
- Schwellen- und Entwicklungsländer mit unzureichenden Sozialversicherungssystemen und engen Kapitalmärkten benötigen ebenfalls Überschüsse. Die Bevölkerung muss hier durch Ersparnisse für Alter und Krankheit vorsorgen. Sie kann diese Gelder aber mangels ausreichender Anlagemöglichkeiten nicht im Inland anlegen.
- Auch Schwellen- und Entwicklungsländern mit einer exportorientierten Wachstumsstrategie ("exported growth") wird man einen Überschuss kaum verweigern können. Man würde sie sonst ihrer Wachstumsmöglichkeiten berauben. Es gab unter Entwicklungspolitikern lange Zeit das Credo, dass die beste und wirksamste Entwicklungsstrategie das exportgetriebene Wachstum sei. Auch hier muss man den Chinesen wieder einen Bonus geben.
Es gibt also gute Gründe für positive und negative Leistungsbilanzsalden in der Welt. Man sollte nicht jeden Überschuss und jedes Defizit verurteilen. Kritisch wird es nur, wenn (a) die Salden zu groß werden. Dann steigen die internationalen Kapitalbewegungen und damit natürlich auch die Risiken. Das fängt jetzt gerade wieder an. Und wenn (b) die Salden auf einer unsoliden und falschen Wirtschaftspolitik beruhen und daher nicht nachhaltig durchhaltbar und finanzierbar sind. Das gilt etwa für Griechenland mit einer zu hohen öffentlichen Verschuldung. Es gilt aber auch für die USA, wo die Verbraucher über ihre Verhältnisse lebten und eine riesige Verschuldung aufbauten. Die USA können sich aufgrund ihres breiten Kapitalmarkts ein Leistungsbilanzdefizit leisten – der tatsächliche Fehlbetrag ist aber zu hoch. Korrekturbedarf gibt es auch dann, wenn Länder ihre Wirtschaft durch Protektionismus oder Währungsmanipulationen (China) abschotten.
Was ist zu tun, um die Leistungsbilanzsalden nicht zu groß werden zu lassen?
Theoretisch sind Überschuss- wie Defizitländer gleichermaßen gefordert. Denn Fehlbeträge könnten nur kleiner werden, wenn irgendwo anders auch die Positivsalden abnehmen. Deutschland wird sich dem internationalen Druck also nicht ganz verschließen können. Es sollte das aber nicht dadurch tun, dass es seine Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert (zum Beispiel durch höhere Löhne) sondern dadurch, dass es Wettbewerbsbarrieren in einzelnen Märkten abbaut. Dringlicher ist der Handlungsbedarf allerdings bei den Defizitländern. Sie brauchen das Geld, das die Überschussländer haben. Sonst kommen sie in Schwierigkeiten. Wenn es um Krisensymptome geht, muss man daher vor allem auf die Defizitländer schauen. Hier muss die gesamtwirtschaftliche Ersparnis (bei Privaten und vor allem beim Staat) erhöht werden.
Autor: Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.
[Bildquelle: iStockPhoto]
Kommentare zu diesem Beitrag