Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) stellt wesentliche gesetzliche Vorschriften zur Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften dar und enthält in Form von Empfehlungen und Anregungen international und national anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung. So viel zum theoretischen Rahmen des Kodex, nachzulesen auf den DCGK-Seiten. Doch wie verhält es sich in der Praxis – knapp ein Jahr nach den Änderungen des Kodex? Wir sprachen mit Professor Gregor Bachmann, LL.M., Humboldt-Universität zu Berlin über Erwartungen, den Überarbeitungsbedarf sowie die mittelfristigen Entwicklungen des Kodex.
Seit April 2017 gelten die Änderungen des Deutschen Corporate Governance Kodex, kurz DCGK. Dort ist viel von mehr Transparenz und Compliance die Rede. Erfüllt der geänderte Kodex aus Ihrer Sicht diese Erwartungen?
Gregor Bachmann: Das hängt von der Erwartungshaltung ab, die man gegenüber dem Kodex hat. Manche Emittenten werden über die Neuerungen und den damit verbundenen Mehraufwand vielleicht klagen. Aber die Erwartungshaltung der Investoren geht eindeutig in diese Richtung, und die Kodex-Kommission hat sich ja auch bemüht, zwischen zum Teil noch weiterreichenden Forderungen und dem für die Unternehmen Machbaren einen vernünftigen Kompromiss zu finden. Das ist Ihr aus meiner Sicht ganz gut gelungen.
Einige Kritiker aus der Praxis und Wissenschaft bemängeln eine Verrechtlichung des Kodex. Vermisst wird vor allem eine stärkere betriebswirtschaftliche Diktion und Struktur des Kodex. Würden Sie das bestätigen? Wo sehen Sie konkreten Überarbeitungsbedarf?
Gregor Bachmann: Nein, das würde ich so nicht bestätigen. Wenn man den Kodex einmal neben die Paragrafen des Aktiengesetzes legt und mit diesem vergleicht, sieht man schon, dass der Kodex nicht nur eine wesentlich einfachere Sprache wählt, sondern auch anders strukturiert ist. Eine "Präambel" mit wesentlichen Leitgedanken der deutschen Unternehmensverfassung etwa gibt es im AktG nicht, und ebenso fehlen dort Vorschriften über das "Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat", die für die Praxis sehr wichtig sind und im Kodex in Ziffer 3 gebündelt werden.
Sicherlich kann man sprachlich und strukturell noch manches verbessern, aber Bedarf für eine Totalrevision sehe ich nicht. Die Kodex-Kommission steckt hier auch in einer Zwickmühle: Formuliert sie zu einfach, erhält sie Schelte von Juristen. Formuliert sie zu juristisch, hagelt es Kritik von anderer Seite. So gesehen ist die jetzige Lösung aus meiner Sicht passabel. Hilfreich könnte es vielleicht sein, optisch stärker deutlich zu machen, was im Kodex bloße Wiedergabe des Gesetzes ist und was darüber hinausgehende Empfehlungen oder Anregungen sind. Der österreichische Kodex könnte da Vorbild sein.
Apropos Compliance. Der Kodex sieht unter anderem die Konkretisierung eines Compliance-Management-Systems vor. Wird damit nicht eine weitere Insel im Organisationsumfeld aufgeschüttet oder wie kann sich der Leser die Verzahnung des Systems mit dem Risikomanagement oder auch einem internen Kontrollsystem (IKS) vorstellen?
Gregor Bachmann: Die seit 2017 ausgesprochene Empfehlung, ein Compliance-Management-System (CMS) zu etablieren, ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Compliance-Bewusstsein in einigen Unternehmen noch nicht klar genug ausgeprägt ist. Das wird durch immer neue Compliance-Fälle ja bestätigt.
Insofern geht es der Kommission vor allem darum, die Bedeutung der Rechtstreue in den Unternehmen zu stärken und den Compliance-Verantwortlichen mit der neuen Empfehlung auch eine Hilfe in die Hand zu geben, etwa wenn diese – was durchaus geschieht – dort auf Widerstände stoßen. Das Erfordernis eines Risikomanagementsystems (RMS) wird im Kodex separat ausgesprochen. Die Frage, wie RMS, IKS und CMS zusammenhängen, lässt der Kodex bewusst offen. Sie wird vom Gesetz selbst auch nicht beantwortet, und der Kodex will den Unternehmen bei der Ausgestaltung dieser Systeme keine peniblen Vorgaben machen, sondern unternehmensspezifische Lösungen zulassen. Man mag Compliance als Teil des RMS ansehen, denn gravierende Rechtsverstöße stellen immer auch Risiken dar. Weil ein gravierender Rechtsverstoß aber nun einmal etwas anderes als ein schlechter Geschäftsabschluss ist, tut der Kodex gut daran, beide Bereiche getrennt zu adressieren.
Ein kurzer Exkurs in die Welt der Banken: Die Mehrzahl der Großbanken sind eher heterogen und international aufgestellt. Es hat den Anschein, als würde mit dem Thema Compliance sowie dem Ruf nach strengeren Sanktionen das komplexe Thema nicht zu Ende gedacht. Denn Menschen und Kulturen sind bekanntlich unterschiedlich. Muss Compliance und damit auch der DCGK nicht viel stärker diesen wichtigen Faktor berücksichtigen?
Gregor Bachmann: Diese Frage sollte man in erster Linie dem Gesetzgeber und den Aufsichtsbehörden stellen, die die Banken – und übrigens auch die Versicherungen - seit der Finanzkrise mit immer neuen Detailregelungen überziehen. Der Kodex verhält sich hier vergleichsweise zurückhaltend, weil er bewusst auf ein one-size-fits-all Schema verzichtet. Es gab nach der Krise einmal die Überlegung, einen eigenen Bankenkodex aufzustellen, aber diese Idee konnte sich nicht durchsetzen. Das wäre denn wohl auch des Guten etwas zu viel. Im Übrigen muss man sehen, dass ein Großteil der Bankenregulierung heute auf internationalen Vorgaben beruht.
Ein Blick auf den Punkt der Vorstandsvergütung: Die damit zusammenhängenden Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen, sprich dem individuellen Fehlverhalten, des Topmanagements sind gut gemeint. Bleibt es aber an dieser Stelle nicht bei einem Papiertiger, wenn man sich die hohen Boni-Zahlungen in der Bankenwelt ansieht, trotz des vielfachen Fehlverhaltens der Entscheider?
Gregor Bachmann: Das ist eine schwierige und seit langem kontrovers diskutierte Frage. Was die Vergütung anbelangt, muss man sehen, dass der deutsche und der europäische Gesetzgeber diese seit der Finanzkrise mehrfach schärfer reguliert haben, wobei für den Bankenbereich nochmals schärfere Regeln gelten. Der Kodex ergänzt dieses Regelwerk dann noch mit eigenen Empfehlungen, beispielsweise zur Begrenzung von Abfindungen. Das Problem steckt darin, dass sich bestimmte Vergütungshöhen international etabliert haben, und dass es für Aufsichtsräte schwer ist, dahinter zurück zu bleiben. Allerdings könnte die Vergütung deutlich vereinfacht werden, was von institutionellen Anlegern auch immer stärker gefordert wird.
Eine scharfe Haftung ist meines Erachtens als Antwort auf überzogene Vergütung ungeeignet. Besser wäre es, bei der überhöhten Vergütung direkt anzusetzen und beispielsweise Klauseln zu vereinbaren, nach denen bei Fehlperformance bestimmte Beträge zurückzuzahlen sind. Hier könnte der Kodex in Zukunft noch weiter gehen. Vorerst bleibt aber abzuwarten, wie der deutsche Gesetzgeber die neue Aktionärsrechtrichtlinie der EU umsetzt, in der unter anderem auch Vorgaben zur Vergütung enthalten sind.
Ein Ziel der Regierung ist es, die Frauenquote in den Führungsetagen der Unternehmen zu erhöhen. Nun soll im Lagebericht oder auf den Internetseiten des jeweiligen Unternehmens über das Erreichen oder Nichterreichen der Quote berichtet werden. Ist das in dieser Form zielführend, wenn man sich die dünne Frauenquote auf Entscheiderebene in deutschen Unternehmen ansieht?
Gregor Bachmann: Für den Aufsichtsrat großer Unternehmen gibt es ja schon jetzt eine zwingende Quote, die auch Wirkung zeigt (was angesichts ihres zwingenden Charakters auch nicht weiter verwunderlich ist). Diese Zwangsquote könnte man auf weitere Unternehmen ausweiten, was allerdings immer auch einen starken Eingriff in unternehmerische Freiheiten darstellt. Das eigentliche Problem liegt bei den Vorständen. Eine Zwangsquote ist nach meiner Auffassung hier der falsche Weg. Denn zum einen wird die Erhöhung des Frauenanteils im Aufsichtsrat sich mittelbar auch auf den Frauenanteil im Vorstand auswirken, zum anderen und vor allem liegt das Problem in der Vereinbarkeit von Beruf (genauer: Karriere) und Familie. Kinderlose Frauen werden es in Zukunft leichter haben, in Vorstandsetagen vorzustoßen, für die anderen wird es schwierig bleiben, solange nicht mehr Väter bereit sind, ihrerseits größere Teile der familiären Lasten zu tragen. Das kann durch eine Quote nicht erzwungen werden, da muss der Gesetzgeber andere Wege gehen.
Welche Entwicklungen muss der DCGK Ihrer Einschätzung nach nehmen, um als Instrument mehr Durchschlagskraft in den Unternehmen zu erhalten?
Gregor Bachmann: Der Kodex hat schon jetzt eine hohe Durchschlagskraft, wenn Sie sich einmal die hohen Befolgungsquoten der wichtigsten Empfehlungen ansehen. Wo die Befolgungsquoten gering sind, kann der Kodex selbst wenig machen. Da müsste der Gesetzgeber mit zwingenden Regelungen eingreifen, aber das sollte man sich gut überlegen. Wichtig wäre, dass das Abhaken der Kodex-Empfehlungen in den Führungsetagen nicht bloß als lästige Pflichtübung angesehen wird, sondern dass man sich dort ernsthaft mit den Empfehlungen auseinandersetzt.
Manche wollen das dadurch erreichen, dass Sie den Kodex völlig umgestalten und auf weiche Prinzipien reduzieren wollen, zu denen sich die Unternehmen dann ausführlich erklären müssen. Aber ich bezweifele, dass man auf diesem Weg mehr erreichen kann, denn schon jetzt zwingt der Kodex zu einer gewissen Selbstreflexion. Und es findet auch eine Debatte mit (institutionellen) Investoren statt, wenn auch weitgehend hinter verschlossenen Türen.
Welche Entwicklungen beim DCGK erwarten Sie für die mittelfristige Zukunft?
Gregor Bachmann: In der Kodex-Kommission wird derzeit eifrig über mögliche Reformen beraten. Da ich selbst nicht Mitglied der Kommission bin, kann ich über den Ausgang dieser Überlegungen nur mutmaßen. Eine Radikalreform, wie sie von manchen vorgeschlagen wird, kann ich mir kaum vorstellen. Dafür scheint mir der Kodex in seiner gegenwärtigen Form zu gut etabliert. Möglich wären eine weitere Verschlankung und "Entrümpelung", vielleicht auch eine stärkere Anpassung an internationale Vorgaben und ein längerer Überarbeitungszyklus, wie es der amtierende Kommissionsvorsitzende Nonnenmacher angedeutet hat.
Ansonsten wird es sicher weiter inhaltliche Anpassungen geben. Dabei wird man mit Spannung zu beobachten haben, ob der Kodex sich weiter für ethische Anliegen öffnen wird, wie er es zuletzt mit der neugefassten Präambel getan hat. An der zwingenden Mitbestimmung, die von manchen als Hemmschuh guter Corporate Governance gesehen wird, kann der Kodex jedenfalls nichts ändern.
Gregor Bachmann (geb. 1966 in Düsseldorf) studierte Rechtswissenschaft an den Universitäten Passau und München. 1993 Promotion an der Universität Passau mit einer strafprozessualen Arbeit bei Werner Beulke. Nach dem Master-Studium an der University of Michigan (LL.M. 1994) und dem Referendariat in Berlin und Washington (D.C.) zunächst Rechtsanwalt in einer Großkanzlei. 1998 Wechsel an die Humboldt-Universität, dort 2004 Habilitation bei Christine Windbichler mit einer Schrift über private Rechtsetzung.
Von 2004 bis 2009 Professor an der Universität Trier, von 2009 bis 2016 Professor an der Freien Universität Berlin. Rufe an die Universitäten Jena, Mainz, München und an die Bucerius Law School. 2010 Referent und 2014 Gutachter für den Deutschen Juristentag. 2015/2016 Research Fellow am King's College London und Professor am Center for Transnational Legal Studies (London). Seit 2016 Professor für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des dortigen Notarinstituts.
Gregor Bachmann ist Mitglied des Vorstands der Zivilrechtslehrervereinigung (ZLV), des Beirats der Wissenschaftlichen Vereinigung für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (VGR) sowie des Advisory Board des German Law Journal (GLJ). Er gehört dem Herausgeberkreis der "Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht" (ZHR) an und berät das Bundesfinanzministerium in Fragen der Finanzmarktregulierung. Seit 2016 ist Gregor Bachmann Teilnehmer des jährlich tagenden Auswahlkreises "Juristische Bücher des Jahres".
Forschungs- und Tätigkeitsschwerpunkte: Deutsches und Europäisches Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, insbesondere Recht der Unternehmensverfassung (Corporate Governance), Haftung und Verantwortlichkeit von Organmitgliedern, Beilegung gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten (einschließlich Tätigkeit als Schiedsrichter).