Am 22. Oktober 2020 verschickte die Pressestelle der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main folgende Pressemeldung: "Prüfverfahren der BaFin grundsätzlich gebilligt". Im Auftrag der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) haben die Wirtschaftswissenschaftler Hans-Joachim Böcking (Goethe-Universität) und Marius Gros (Hochschule Niederrhein) ein Gutachten erstellt, um u.a. die Frage zu beantworten, ob das bisherige Bilanzprüfverfahren den Aufgaben gewachsen sei.
Das zweistufige Enforcementsystem ("Bilanzkontrolle") wurde bereits im Jahr 2005 installiert. Vorausgegangen waren mehrere Bilanzskandale. Die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), ein privatrechtlicher Verein, prüft die vorgelegten Konzern-bilanzen als erstes. Die BaFin tritt regelmäßig nur dann als zweite Instanz auf, wenn das Unternehmen nicht kooperationsbereit ist oder die von der DPR beanstandeten Fehler abstreitet.
Die beiden Ökonomen veröffentlichten ein rund 100-seitiges Gutachten sowie Thesen zum "Gutachten zur Prüfung der Rechtsauffassung der BaFin, dass die DPR nach § 342b Abs. 4 HGB auch dann auf erster Stufe prüfen muss und kann, wenn mögliche Betrugshandlungen (einschließlich möglicher Betrugshandlungen durch das Management) im Raum stehen". Mit ihrem Gutachten wollen die Wirtschaftswissenschaftler zur Versachlichung der Debatte infolge des Wirecard-Skandals beitragen.
Stellt sich die berechtige Frage, ob dieses Ziel erreicht wurde oder es sich eher um einen plumpen Ablenkungsversuch der BaFin handelt.
Tatsache ist, dass das von der BaFin in Auftrag gegebene Professoren-Gutachten etwas bestätigen soll, was von keinem Experten in Frage gestellt wird. Nämlich das Zweistufen-Vorgehen der Kontrolle der DPR und Bafin. Wie das funktioniert kann man auf der Website der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung nachlesen. Dasselbe gilt für die Feststellung, daß die BaFin bei Betrugsverdacht zu prüfen hat.
Nicht im Auftrag für das Gutachten der Frankfurter Wirtschaftsprofessoren war die grund-legende Frage enthalten, die der Finanzausschuss und der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zum Wirecard Skandal an den BaFin Präsidenten Hufeld und den Bundesfinanzminister Olaf Scholz vergeblich gestellt haben:
Was ist der Grund dafür, dass die BaFin ihrer primären Verpflichtung zur ständigen Überwachung der börsennotierten Banken und Finanzmarktunternehmen mit Hilfe der von diesen regelmäßig zu liefernden Unterlagen bei Wirecard nicht nachgekommen ist?
Die Antwort der Befragten lautete, dies sei Staatgeheimnis.
Tatsache jedoch ist, die BaFin ist ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen, indem sie
- den Wirecard Konzern nicht in Abstimmung und Arbeitssteilung mit der DPR nach der "Verfahrensordnung der Prüfstelle" geprüft hat.
- die börsennotierten Banken und Finanzinstitute nicht ausreichen beaufsichtigt hat.
Siehe: Anlage 1: Bankenaufsicht-Pflichten der BaFin
Sowohl die Wirecard AG als auch die Wirecard Bank AG hätten sich bis zu dem Tag, an dem sie von der BaFin im November 2020 aus ihrer Unternehmensdatenbank gestrichen wurden, unter der ständigen Kontrolle der BaFin befinden müssen. Dafür bekam die BaFin monatlich die Unternehmensberichterstattung von Wirecard, wozu u.a. die Meldung zur Liquiditätssituation und die Meldung über die Vergabe von großen Darlehen gehört. Zudem war es Aufgabe der BaFin die von den Unternehmen regelmäßig zu liefernden Meldungen zum Risikomanagement nach ihren Vorschriften, den "Mindestanforderungen an das Risikomanagement" (MaRisk), zu prüfen.
In der BaFin Unternehmensdatenbank findet am 22. 10. 2020 unter den zugelassenen Finanzdienstleistungsinstituten, die monatlich an die BaFin zu berichten haben, und beispielsweise Nachweise über das Funktionieren ihres Risikomanagementsystems nach den MaRisk. Die Liste der bei BaFin zugelassenen Unternehmen findet man unter "Liste der zugelassenen Finanzdienstleistungsinstitute"). In ihr befanden sich auch im Oktober 2020 die Wirecard AG und die Wirecard Bank AG auf je einer Dokumentenseite.
Siehe: Anhang 2: BaFin Unternehmensdatenbank, Seite der Wirecard Bank AG, 22.10.2020
Am 1. Dezember 2020 konnte man im Unternehmensregister der BaFin immer noch die Wirecard Bank AG aufrufen.
Siehe: Anhang 3: BaFin Unternehmensdatenbank mit Wirecard Bank AG, 1.12.2020
Ablenkungsmanöver vom eigenen Versagen
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die BaFin unverändert bis heute mit allen Mitteln Ablenkungsmaßnahmen betreibt, um den sowohl ihren Mitarbeitern als auch dem Bundesfinanzministerium wohlbekannten Grund für den Skandal nicht an die Öffentlichkeit kommen zu lassen. Das wäre beispielsweise dann der Fall, wenn sie wahrheitsgemäß erklären würde, dass es ihr nicht gestattet war, Prüfungen bei Wirecard durchzuführen.
Es ist seit dem Jahr 2002 das Ziel der teilweise gesetzeswidrigen Regeln des Deutschen Corporate Governance Kodex, dass ausländische Inverstoren zur Kapitalanlage bei der Deutschen Börse AG – einem privaten Börsenunternehmen – gebracht werden. Dafür lässt man die Börsenunternehmen, die in den Indizes der Frankfurter Börse geführt werden, künstlich in besonders günstigem Licht escheinen. Das erreicht man dadurch, dass man die börsennotierten Konzerne durch den Kodex in die Lage versetzt, gut wirkende Geschäftsberichte zu veröffentlichen, auch wenn diese nicht gesetzeskonform und nicht den Grundsätzen ordnungsmäßiger Berichterstattung entsprechen.
Zocken statt Finanzmarktaufsicht!
Hierfür sorgt die Empfehlung D.10 des Kodex. Danach sollen die Wirtschaftsprüfer bestimmte Teile der Firmenberichterstattung bei ihrer Prüfung auslassen, wenn Ihnen der Aufsichtsrat nicht extra dafür einen Auftrag erteilt hat.
Außerdem wird dort vorgeschrieben, dass der Wirtschaftsprüfer nicht „im Prüfungsbericht vermerkt, wenn er bei Durchführung der Abschlussprüfung Tatsachen feststellt, die eine Unrichtigkeit der von Vorstand und Aufsichtsrat abgegebenen Erklärung zum Kodex ergeben.“
Die für die großen Unternehmensskandale unmittelbar verantwortliche Vorschrift, nach der sich die Wirtschaftsprüfer richten sollen, befindet sich in verklausulierter Form im „Abschnitt D., Arbeitsweise des Aufsichtsrats, III. Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer, Grundsatz 17“. Sie besagt, dass der Abschlussprüfer den in Frankfurt börsennotierten Konzernen immer ein uneingeschränktes Wirtschaftsprüfertestat im Bestätigungsvermerk zu erteilen hat.
Das gilt selbst dann, wenn der nicht zu veröffentlichende Abschlussprüferbericht erhebliche Mängel der Geschäftsberichterstattung ausweist und die Prüfer rechtswidrige Maßnahmen des Vorstands festgestellt haben. „Der Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers informiert den Kapitalmarkt über die Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung“.
Statt ihre gesetzliche Prüfungspflicht zu erfüllen, konzentrierten der Bafin-Chef Hufeld und sein Team ihre Energie darauf, Frühwarnindikatoren von Seiten investigativer Journalisten der "Financial Times" (u.a. Dan McCrum) und von Bilanzexperten (u.a. Thomas Borgwerth) mit Hilfe Münchener Staatsanwälte zu eliminieren und deren Reputation zu diskreditieren. Die Fakten wurden so verbogen, dass sie ins eigene (Prüfungs-)Weltbild passten. Der Täter Wirecard wurde als das Opfer dargestellt und die investigativen Journalisten als angebliche Täter verklagt. Statt Licht in die Wirecard-Welt zu bringen, steckten BaFin-Mitarbeiter ihre Energie in illegalen Insiderhandel mit Wirecard-Aktien. Anscheinend lautete die Strategie: Zocken statt Finanzmarktaufsicht!
Keine ordnungsmäßige Abschlussprüfung und uneingeschränkter Bestätigungsvermerk
Auch jetzt versucht man durch Aussageverweigerung dem übergeordneten Bundesfinanzministerium zu helfen. Denn es darf keinesfalls der Untersuchungsausschuss und die Öffentlichkeit je die kaum glaubhafte Wahrheit erfahren: Drei Bundesministerien haben seit dem Jahr 2002 Unternehmensvertretern der etwa 400 börsennotierten Unternehmen, die den Deutschen Corporate Governance Kodex aufstellen, eine Dauergenehmigung erteilt: Die an der Frankfurter Börse notierten Aktiengesellschaften können – ohne jegliche staatliche Einflussmöglichkeit – sich selbst Vorschriften zur Unternehmensführung geben. Dazu gehören auch Regeln, die nicht mit dem Unternehmensrecht vereinbar sind. Die Anwendung dieser Regeln verursacht seit Jahren die großen Unternehmensskandale in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Bundesministerien für Wirtschaft, Finanzen und Justiz sind gezwungen, jährlich dem neuen Deutschen Corporate Governance Kodex ihre Zustimmung zu erteilen. In der offiziellen Sprachregelung der Politiker wird der Kodex als große Errungenschaft bezeichnet. Die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz hat Anfang 2020 die Existenz des neuen Kodex im Bundesanzeiger bekannt gemacht. Darüber hinaus würdigte sie gezwungenermaßen wie alle ihre Vorgänger mit lobenden Worten das am Gesetzgeber vorbei geschaffene Regelwerk.
Der Kodex ist jedoch ein privates Regelwerk und kein Gesetz. Er wird jährlich am Parlament vorbei blind genehmigt. Die drei beteiligten Ministerien setzten seit Jahren alles daran, dies zu verheimlichen. Aufgrund der Macht der Börsenkonzerne haben alle Bundesregierungen der letzten 18 Jahren es nicht geschafft, sich aus der Klammer dieser übermächtigen Unternehmenslobby zu befreien. Die Folge ist, dass sämtliche gesetzlich legitimierten deutschen Institutionen zur Unternehmenskontrolle von Unternehmen, die bei der Firma Deutsche Börse AG, Frankfurt, als börsennotierte Unternehmen registriert sind, durch Entscheidung von deren Aufsichtsräten und Vorständen dafür sorgen können, dass keine ordnungsmäßige oder überhaupt keine Prüfung ihres Unternehmen vorgenommen wird. Das gestattet der Deutsche Corporate Governance Kodex!
Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young hat in ihrem Prüfungsbericht von Wirecard im Jahr 2018 deutlich geschrieben, dass Teile der Buchführung, insbesondere im "fernen Osten", nicht in Ordnung sind. Dies war der BaFin bekannt, da sie im Rahmen der Unternehmensaufsicht sämtliche Unterlagen, auch die Bilanzen von Wirecard zu kontrollieren hat.
Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young haben nach der Wirecard Prüfung im Jahr 2018 verantwortungsbewusst die Deutsche Rechnungsprüfung (DRP) von ihren Feststellungen benachrichtigt, die nach den geltenden Vorschriften an und für sich von der BaFin darüber hätten informiert werden müssen.
Aber so wie der Abschlussprüfer nach den oben angegebenen Regeln des Deutschen Corporate Governance Kodex nicht anders handeln konnte, war es der DRP und der BaFin verwehrt – trotz anderer gesetzlicher Vorschriften – eine Prüfung bei Wirecard durchzuführen. Man befolgte stattdessen die rechtswidrigen Regeln des Deutschen Corporate Governance Kodex, genehmigt von der Ministerin der Justiz und für Verbraucherschutz, vom Bundeswirtschaftsminister und vom Bundesfinanzminister.
Einigen Abgeordneten im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages sind diese Fakten bekannt. Derzeit sind sie erst einmal dabei, Ihrer Pflicht zur Prüfung der kriminellen Aktionen im Detail bei Wirecard nachzukommen. Ihnen ist sicherlich daran gelegen, dass der von zwei Ministerien kürzlich geschaffene Gesetzentwurf für ein "Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität" (FISG), durch das die rechtswidrigen Sonderregelungen des Kodex für Börsenkonzerne beseitigt werden sollen, so schnell wie möglich als Gesetzentwurf der Bundesregierung im Bundestag eingebracht wird.
Dieses Gesetz lässt hoffen, dass die Bundesbürger künftig bald nicht mehr unter den Folgen großer Unternehmensskandale leiden müssen.
Es sind zwar nur wenige unehrenhafte Vorstände und Aufsichtsräte von Börsenkonzernen (beispielsweise Volkswagen, Deutsche Bank oder Wirecard), denen die gesetzeswidrigen Vorschriften des Deutschen Corporate Governance Kodex kriminelle Handlungen ermöglichen. Aber der Schaden, der dadurch der Bundesrepublik Deutschland und ihren Bürgern zugefügt wird, ist unermesslich hoch.
Autor:
Dr. Carl Ehlers, Berlin
Download "Unternehmen §§ 106 ff. WpHG (Enforcement)"
[Aktualisierung des Textes am 2. Dezember 2020 | 14:10 Uhr]