Hätte vor wenigen Wochen irgendjemand die heutige Situation in Europa skizziert, wäre er wohl für verrückt erklärt worden. Doch in der Zwischenzeit ist der "Schwarze Schwan" gelandet. Er ist ein Sinnbild für extrem seltene Ereignisse mit enormen Auswirkungen. Doch wie geht es weiter? Derzeit gibt es wesentlich mehr Fragen als Antworten und das dürfte sich nicht so rasch ändern. Eines erscheint jedoch bereits absehbar: Die Welt, wie wir sie bisher kannten, wird sich drastisch verändern. Dazu ein paar systemische Überlegungen und Betrachtungen.
Anfang 2020 breitete sich in China eine neue Infektionskrankheit aus. Nicht zum ersten Mal nahm eine Epidemie oder Pandemie, also eine länderübergreifende bzw. weltweite Epidemie, ihren Ausgang in China. Jedoch konnten diese bisher immer gut eingedämmt und beherrscht werden. Doch diesmal ist alles anders.
In Mitteleuropa wurde man erstmals hellhörig, als aus China berichtet wurde, dass binnen 10 Tage ein komplettes Spital mit 1.000 Betten aus dem Boden gestampft wurde, um die Notversorgung in der hauptbetroffenen Region Wuhan aufrechterhalten zu können. Da sind wohl einige Planer in Mitteleuropa neidisch geworden. Auch die Witzesammlung rund um den Flughafen Berlin-Brandenburg wurde erweitert. Die massiven Abriegelungsmaßnahmen und die unter Quarantänestellung von Millionen Menschen löste hier häufig nur Kopfschütteln aus: "So etwas geht nur in China." Wie rasch sich die Realität ändern kann.
Falsche Lagebeurteilung
Mittlerweile ist wohl auch bei uns den meisten das Lachen vergangen. Denn diesmal hat sich die Epidemie nicht eindämmen lassen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte diese am 11. März 2020 zur COVID-19-Pandemie, der ersten nach der "Schweinegrippe" im Jahr 2009/2010. Der relativ glimpfliche Verlauf der Schweinegrippe in unseren Breiten hat wohl auch dazu beigetragen, dass COVID-19 lange unterschätzt bzw. heruntergespielt wurde. Ein fataler Irrtum mit mittlerweile mehr als 5.000 Toten allein in Italien.
Widersprüchlichkeit ist nur schwer auszuhalten
Zum anderen wollte man sich wahrscheinlich nicht wieder der Gefahr aussetzen, im Nachhinein für Überreaktionen angeprangert zu werden. In Österreich ist vor allem der Ankauf von Grippeschutzmasken noch immer im kollektiven Gedächtnis. Die Vorgangsweise mag durchaus zweifelhaft gewesen sein. Jetzt sind diese Schutzmasken wichtiger Teil der strategischen Reserve und sie werden bereits eingesetzt.
Leider ist es wie so oft nicht gelungen, den Menschen die Lage, die Entscheidungsgrundlagen und die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen zu erklären und, dass man auch in eine gewisse Unsicherheit hinein handeln musste. Ein häufiges Phänomen: Passiert nichts, oder kommt es nicht so schlimm, wie erwartet, dann werden die Maßnahmen als übertrieben wahrgenommen.
Kommt es anders, wird sofort ein Versagen unterstellt. Daher sind auch wir Teil des Problems. Transparenz und eine angemessene Sicherheitskommunikation könnte dem entgegenwirken und helfen, Fehler zu reduzieren. Die bisher gelebte österreichische Kultur, Risiken so lange es geht zu negieren bewährt sich nur so lange, bis die Realität zuschlägt. Ob das bei der Tunnelsicherheit oder beim Hochwasserschutz ist, Prävention und Vorsorge wäre immer wesentlich billiger gewesen als der nachfolgende Schaden. Und das gilt in einer vernetzten Welt noch viel mehr. Daher sollten wir endlich damit beginnen, die vielen falschen Erwartungen durch eine transparente Sicherheitskommunikation zu reduzieren. Und wider der oft geäußerten Befürchtung, kann man den meisten Menschen die Wahrheit zumuten. Sie sind sogar oft sehr dankbar dafür. Nur so kann wieder eine unverzichtbare Vertrauensbasis in die staatlichen Strukturen wiederhergestellt werden.
Italien und Europa insgesamt gelten mittlerweile als zweitgrößter Hotspot weltweit. Millionen Menschen stehen nun auch in Europa mehr oder weniger unter Quarantäne. Grenzen wurden und werden geschlossen. Es herrscht ein Zustand, in dem Freiheiten in einem bisher nicht bekannten Ausmaß eingeschränkt werden. Zum einen scheint das zwingend notwendig zu sein und gleichzeitig steigen die Sorgen, dass das auch missbraucht werden könnte, um einen umfassenden Überwachungsstaat auszubauen. Auch hier wieder eine massive Ambivalenz, also Widersprüchlichkeit, mit der wir erst umzugehen lernen müssen. Hier spießt sich wieder unser bisheriges lineares Weltbild mit einem Entweder-oder-Denken. Robustheit und Resilienz benötigen ein Sowohl-als-auch-Denken.
Wir stecken mittlerweile wohl in der größten und schwerwiegendsten Pandemie seit zumindest 100 Jahren. Das passt alles nicht mit unserem bisher erfolgreichen linearen Denken und Weltbild zusammen. Die Ignoranz von Kennzeichen komplexer Systeme rächt sich.
Unterschätzte Komplexität
Komplexität entsteht durch Vernetzung. Durch das Internet, die Globalisierung und den globalen Warenströmen wurde ein unfassbar komplexes System geschaffen, über dessen potenziell negativen Nebenwirkungen wir bisher kaum nachgedacht haben. Zumindest in der breiten Masse und in der Politik oder Wirtschaft, wo häufig nur mehr kurzfristige Ziele verfolgt werden. Mahnende Stimmen gab es genug. Diese wurden meist ignoriert oder als Schwarzmaler abgetan.
Kompliziert versus komplex
Das liegt auch an unserem Bildungssystem, das noch weitgehend auf den bisher bewährten Strukturen der Industriegesellschaft beruht und in Fächern, Disziplinen oder Instituten organisiert ist. Komplexe Systeme lassen sich jedoch nicht mit einem deterministischen Denken erfassen oder beherrschen, auch wenn das bei (komplizierten) Maschinen gut funktioniert. Eine einfache Unterscheidungsregel zwischen komplizierten und komplexen Systemen ist, dass man bei komplizierten Systemen ein Handbuch schreiben oder Prozesse definieren kann. Wenn man das dann richtig anwendet, funktioniert das immer wieder. Es ist wiederholbar, wie zum Beispiel bei einem Notfallmanagement. Bei komplexen Systemen und in Krisen stimmt das nicht mehr.
Die Grenzen zwischen kompliziert und komplex sind häufig fließend und daher oft nicht eindeutig erkennbar. Trotzdem ist es wichtig, diese Zusammenhänge zu kennen, um realistischere Beurteilungen vornehmen zu können.
Komplexe Systeme
Komplexe Systeme, wo es permanent zu einem Austausch, zu Rückkoppelungen und Veränderungen kommt, können mit den bisherigen Werkzeugen nur beschränkt beherrscht werden. Das funktioniert in stabilen Zeiten durchaus, wie wir das bisher mehr oder weniger erlebt haben. Und das verleitet auch zu falschen Schlüssen: Es geht ja eh. Zumindest bis zum Zeitpunkt, wo eine zu große Störung alles aus dem Gleichgewicht bringt. Daher war auch die Risikobeurteilung oftmals unzureichend, weil extrem seltene Ereignisse nicht ausreichend mit den bewährten Methoden behandelt werden können. Viele Wechselwirkungen und Abhängigkeiten bleiben häufig im Verborgenen.
Ein Virus in der Größe von wenigen Nanometern stößt wahrscheinlich gerade eine fundamentale Zeitenwende an. Das mag jetzt ziemlich übertrieben klingen, weil das im Alltag noch nicht spürbar ist. Aber ein Kennzeichen von komplexen Systemen ist auch, dass kleine Ursachen durch Rückkopplungseffekte und zeitverzögerten Wirkungen zu großen Auswirkungen führen können.
Gerade zeitverzögerte Wirkungen werden häufig unterschätzt. Man nehme nur den menschengemachten CO2-Ausstoß und die Auswirkungen auf die Erderwärmung her, wo wir diesen Effekt auch lange ignoriert bzw. nicht wahrgenommen haben. Wir sind ein einfaches Ursache-Wirkungsdenken gewohnt, das bisher durchaus sehr erfolgreich war. Aber das ändert sich gerade. Die jetzige Störung ist mit nichts Bekanntem vergleichbar. Wir Menschen orientieren uns aber an dem, was wir bereits erlebt haben. Daher verursacht die jetzige Situation auch bei vielen Menschen Ohnmacht und Orientierungslosigkeit.
Folgekrisen
Es wurde eine Lawine losgetreten, wo wir noch nicht abschätzen können, wo sie zum Stillstand kommen wird. Es zeichnen sich aber bereits jetzt eine Reihe von Folgekrisen ab, auf die weder die Menschen noch die Unternehmen oder die Staaten insgesamt vorbereitet sind. Unser derzeitiger Fokus liegt auf den kurzfristigen Entwicklungen, vor allem im Gesundheitsbereich. Das ist wichtig, um die unmittelbar lebensbedrohlichen Schäden zu minimieren. Aber das wird bei weitem nicht ausreichen, um die erwartbaren weiteren Folgen bewältigen zu können. Je früher wir uns aber darauf einstellen und anpassen, desto eher wird es uns gelingen, wieder Fuß zu fassen.
Irreversibilität
Denn ein weiteres Kennzeichen von komplexen Systemen ist die Irreversibilität. Das bedeutet, dass wir nicht mehr einfach zu einer Welt zurückkehren werden, wie sie für viele Menschen noch vor wenigen Wochen als völlig unverrückbar wahrgenommen wurde. Viele Menschen wurden bereits in den vergangenen Monaten und Jahren von der steigenden Dynamik in der Arbeitswelt gefordert und zum Teil auch überfordert.
Eine steigende Dynamik ist ein weiteres Kennzeichen von komplexen Systemen, wenn sie falsch designt sind bzw. die Rückkoppelungsmöglichkeiten nicht ausreichend berücksichtigt und abgefedert werden. Die jetzige Dynamik, also permanente Veränderungen wird aber wohl vieles noch in den Schatten stellen und sie wird in den nächsten Wochen wohl noch deutlich zunehmen. Eine kleine Ursache, die zu unfassbaren Folgewirkungen und Veränderungen führt.
Der Kollaps von komplexen Systemen
Hoffen wir, dass sie nicht im völligen Chaos endet. Wobei der Kollaps von komplexen Systemen kein Fehler ist, sondern ganz im Gegenteil, ein Designmerkmal: Damit wird in der Natur eine periodische Erneuerung und Anpassung sichergestellt. Zum Beispiel mit den Jahreszeiten oder der begrenzten Lebenszeit von Lebewesen. Alles Lebendige ist in komplexen Systemen organisiert, die mit der Umwelt interagieren. Damit der Schaden nicht zu groß werden kann, hat sich evolutionär "small-is-beautiful" durchgesetzt. Als Basis dienen zellulare Strukturen, also autonome funktionale Einheiten. Auch das ist selten bekannt oder bewusst.
Aktionismus ist gefährlich
Die Politik versucht zu vermitteln, alles im Griff zu haben: "Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet." In der Realität zeigt sich jedoch häufig, dass Vorbereitung durch Improvisation ersetzt wird. Durch "Quick-and-dirty" Lösungen entsteht sogar die Gefahr, das Ganze noch zu verschlimmern. Denn wie aus der System- und Komplexitätswissenschaft bekannt ist, führen scheinbar kurzfristig erfolgreiche Lösungen häufig langfristig zu mehr Problemen und Schäden. Langfristig erfolgreiche Lösungen erfordern hingegen meist kurzfristige Einschnitte und Entbehrungen. Man denke hier nur an das Change-Management. Aktionismus ist daher gefährlich, da sich jeder Eingriff in ein komplexes System an vielen unterschiedlichen Stellen und vor allem auch zeitverzögert auswirkt. Aber nicht handeln oder entscheiden ist genauso gefährlich. Auch hier haben wir wieder das Dilemma mit der Widersprüchlichkeit. Mit einem einfachen Ursache-Wirkungsdenken ist das Scheitern vorprogrammiert.
Vernetzte Krisen werden unterschätzt
Die Möglichkeit einer Pandemie oder eines europaweiten Strom- und Infrastrukturausfalls ("Blackout") wurde bisher weitgehend ignoriert. Vorsorgemaßnahmen wurden nur halbherzig umgesetzt. Jetzt müssen wir unter enormen Zeitdruck handeln. Durch die fehlende Vorsorge fehlen auch die Handlungskompetenzen, um gleichzeitig mit den vielen Dimensionen von vernetzten Krisen umgehen zu können. Daher besteht die große Gefahr, dass wir uns nur auf das konzentrieren, was unmittelbar akut erscheint. Wie das etwa aus dem Rettungsdienst bekannt ist, wo wir ohne Ausbildung und Training dazu neigen, jenen zuerst zu helfen, die am lautesten schreien, die aber möglicherweise am wenigsten dringend eine Soforthilfe benötigen. Diese Gefahr droht jetzt im wirtschaftlichen Umfeld. Daher ist es unverzichtbar, dass bei weitreichenden Entscheidungen auch die potenziellen und langfristigen Nebenwirkungen mitbetrachtet werden. Was derzeit nicht erkennbar ist bzw. nicht transparent gemacht wird.
Steigende Blackout-Gefahr
Mit dem aktuellen "Lockdown" und den wirtschaftlichen Einbrüchen steigt auch die Gefahr für ein Blackout. Die Energieversorgungsunternehmen beteuern, dass sie alles unternehmen, um die Versorgungssicherheit und die Handlungsfähigkeit des eigenen Personals aufrechtzuerhalten. Jedoch gibt es eine Reihe von Faktoren, welche neben der potenziellen Erkrankung von wichtigem Personal die Systemstabilität gefährden.
So kommt es durch den Wirtschaftseinbruch zu einer sinkenden Stromnachfrage. Damit entsteht zu bestimmten Zeiten ein enormer Stromüberschuss. Aufgrund der derzeitigen regulatorischen Vorgaben, speziell in Deutschland, muss aber Strom aus Erneuerbare Energien (EE) Erzeugungsanlagen vorrangig abgenommen werden. Ein Gegensteuern wäre hier rasch notwendig, ist aber nicht absehbar.
Denn was zwar für den Klimaschutz erfreulich ist, führt gleichzeitig zu einer wenig beachteten Nebenwirkung. Diese betreffen vor allem die rotierenden Massen (Generatoren), welche ohne Steuerungseingriffe die immanente und systemkritische Stabilität und Ausregelung des fragilen Systems sicherstellen. Durch die sinkenden Strompreise werden konventionelle Kraftwerke und damit die rotierenden Massen aus dem Markt gedrängt (Merit-Order-Effekt). Diese kritische Systemdienstleistung kann bisher nur mit rotierenden Massen im großen Stil erbracht werden. Batteriegroßspeicher können zwar auch kurzfristig einspringen, aber es braucht dann wieder flexible, rasch und verlässlich verfügbare Kraftwerke, die eine Abweichung über einen längeren Zeitraum als für ein paar Sekunden oder Minuten ausgleichen können müssen. Diese rechnen sich jedoch nicht im derzeitigen Marktumfeld.
Viele konventionelle Kraftwerke können bei einem derart niedrigen Strompreis nicht einmal mehr die eigenen Betriebskosten decken. Die wirtschaftlichen Folgen sind absehbar. Auf kurze Sicht mag das durchaus positiv klingen. Sowohl für den Klimaschutz als auch was den Strompreis für die Endkunden betrifft. Jedoch ist das nicht zu Ende gedacht. Denn sollte es zu einem Blackout kommen, wäre der gesellschaftliche Schaden unbezahlbar. Der niedrige Strompreis kommt ebenfalls nicht bei den Endkunden an, weil die Kosten für die steigenden Eingriffe zur Stabilisierung ("Redispatching") auch an die Kunden weiterverrechnet werden.
Hinzu kommt, dass sich der Bau von für die Energiewende unverzichtbaren Speichersystemen, wie Pumpspeicherkraftwerken oder rasch einsetzbaren, flexiblen Kraftwerken, um die volatile Erzeugung aus Windkraft- und PV-Anlagen ausgleichen zu können, weiter verzögern wird. Diese Anlagen haben sich bisher nicht gerechnet und werden das nun noch weniger tun. Und wenn sie es tun, ist es bereits zu spät, da Infrastrukturprojekte nicht von heute auf morgen umgesetzt werden können. Ein gefährlicher Teufelskreis, wo massive regulatorische Eingriffe erforderlich wären. Diese müssten aber in eine völlig andere Richtung gehen als bisher, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Damit steigt die kurz- bis mittelfristige Blackout-Gefahr.
Too-big-to-fail
Hinzu kommt, dass das europäische Stromversorgungssystem zu den "too-big-to-fail" Systemen gehört. Aufgrund des vorrangigen betriebswirtschaftlichen Fokus zählten in den vergangenen Jahren fast nur kleingeistige betriebswirtschaftliche Betrachtungen allein. Reserven und Redundanzen mussten auch hier wie in allen anderen Bereichen als "totes Kapital" zurückgefahren werden und damit auch die ehemalige zellulare Struktur. Das spiegelt sich etwa im grenzüberschreitenden Stromaustausch wider, der zudem deutlich erhöht werden soll. Störungen können sich daher heute wesentlich leichter ausbreiten, wenn sie einmal eine gewisse Größe erreicht haben. Vieles davon haben wir in den letzten Tagen bei der Ausbreitung der Pandemie gesehen. Das Österreichische Bundesheer, als vermeintliche strategische Reserve der Republik, kann kaum mehr ausreichend qualifizierte Hilfe leisten. Nicht, weil man nicht möchte, sondern weil die Ressourcen fehlen. Der Aufschrei des ehemaligen Verteidigungsministers im vergangenen Sommer ist wirkungslos verhalt. Die Realität wird uns in den nächsten Wochen einholen.
Lieferketten
Ein weiteres massives Problem wird erst in den nächsten Wochen durch die langen Transportwege sichtbar werden. Lieferverzögerungen und -unterbrechungen von Waren aus China und wohl bald auch aus anderen Weltregionen, ja selbst in Europa, sind absehbar. Während das in einigen Bereichen eher nachrangig sein wird, weil etwa die ganze Autoindustrie heruntergefahren wird, kann das im medizinischen Umfeld und bei der Medikamentenversorgung zu dramatischen Konsequenzen führen. Ein Großteil der Medikamenten- und vor allem Antibiotikaproduktion erfolgt mittlerweile in China und Indien. Indien ist der weltgrößte Generikahersteller und bezieht gleichzeitig rund 70% der Ausgangsstoffe aus China. Indien steuert gerade auf einen Lockdown zu. In China bereitet man sich auf die zweite Welle bei der Ausbreitung des Corona-Virus vor.
Eine Unterbrechung der Lieferketten ("Supply Chains") gehört seit Jahren zu den gefürchtetsten Top-Risiken in Unternehmen. Die aktuelle und noch erwartbare Dimension war wohl für kaum einen Risikomanager vorstellbar. Nicht einmal in den schlimmsten Alpträumen. Noch weniger klar ist, wie die ganze Synchronisation wiederhergestellt werden kann und wie lange das dauern wird. Denn die Kette ist bekanntlich so stark, wie ihr schwächstes Glied.
Massenarbeitslosigkeit
Auch eine Massenarbeitslosigkeit zeichnet sich bereits ab und viele kleinere Unternehmen werden die nächsten Wochen nicht überstehen, wenn hier nicht rasch neue und innovative Denkmodelle umgesetzt werden. Allein in Österreich ist die Arbeitslosenzahl in der Woche vom 16. März um knapp 100.000 Menschen angestiegen. Im Februar gab es noch rund 330.000 Menschen ohne Arbeit. Ein weiterer Anstieg ist zu erwarten. Das wird auch enorme Auswirkungen auf die Stimmung und Psyche der betroffenen Menschen nach sich ziehen.
Aber auch viele große Unternehmen werden ins Wanken geraten, nicht zuletzt, weil sie häufig von vielen kleinen abhängig sind. Das ganze Wirtschaftssystem kann aus den Fugen geraten. Hinzu kommt, dass wir aus den Systemwissenschaften wissen, dass ein System, das nur durch permanentes Wachstum überleben kann, nicht auf Dauer lebensfähig ist. Hier zeichnet sich eine dramatische Bereinigung ab.
Finanzcrash
Und damit sind wir wohl auch mitten im größten Finanzcrash, den es jemals gab. Galt bisher häufig "so lange die Musik spielt, einfach weitertanzen", dürfte die Party nun endgültig vorbei sein. Denn hier gibt es kein Auffangnetz mehr, auch wenn jetzt Milliarden und Abermilliarden in Aussicht gestellt und ins System gepumpt werden. Das zerstörte Grundvertrauen und der tiefe Schock wird nicht so einfach bzw. nur langsam zu überwinden sein. Man erinnere sich nur an die letzte Finanzkrise vor nicht einmal 15 Jahren. Eine Dystopie könnte wohl nicht schlimmer ausformuliert werden. Dabei wurden hier nur einige wenige Aspekte betrachtet. Die wirkliche Dimension ist wohl noch um vieles größer und facettenreicher.
Wie kann es nun weitergehen?
Es ist noch viel zu früh, um eine seriöse Einschätzung abgeben zu können. Eines scheint aber klar zu sein: Ein weiter wie bisher ist äußerst unwahrscheinlich. Schon Albert Einstein hat dazu gesagt, dass man Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen kann, mit der sie entstanden sind.
Grundsätzlich gibt es ein umfangreiches Know-how, wie sich in der Natur lebensfähige (komplexe) Systeme bewährt und überlebt haben: "Small-is-beautiful", Energiebedarfssenkung, dezentrale funktionale Einheiten oder Fehlerfreundlichkeit sind nur ein paar wichtige Stichwörter, die uns weiterhelfen können. Wenn wir wieder eine robuste Gesellschaft werden wollen, werden wir uns an diesen erfolgreichen Designprinzipien orientieren müssen. Alles andere würde uns nur noch anfälliger machen. Daher muss wohl auch überlegt werden, welche aktuellen Denkverbote aufgegeben werden müssen. Es wird nicht ohne eine offene und transparente Diskussion gehen.
Wer soll das machen?
Viele Menschen erwarten noch, dass irgendjemand da "oben" schon wissen wird, wie es geht und der das machen wird. Das ist eine Illusion. Komplexe Systeme oder ein kollabiertes System lassen sich nicht mit einem Masterplan beherrschen. Und warum sollten gerade die es wissen, welche die jetzige Situation auch nicht kommen sehen haben? Wir alle sind nun gefragt. Denn eine weitere Eskalation, in welchen Bereichen auch immer, werden wir nur durch eine dezentrale Selbstorganisation bewältigen können. Also in der Nachbarschaft und in den Gemeinden oder Regionen. Kleinteilige Ver- und Vorsorgemaßnahmen. Wir wissen nicht, wie die richtigen Lösungen aussehen. Daher geht es auch um Diversität, ebenfalls ein wichtiges Robustheitsmerkmal. Wir müssen Dinge ausprobieren und rasch an die neuen Bedingungen anpassen. Jetzt zählt nur, was einen Mehrwert für die gesamte Gesellschaft bringt. Alles andere wird vielleicht irgendwann wieder gebraucht werden. Kurzfristig müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren.
Lern- und Anpassungsfähigkeit
Auch wenn das jetzt für Viele hart und übertrieben klingen mag, wird es wahrscheinlich wenig bringen, den Kopf weiterhin in den Sand zu stecken. Resilienz bedeutet nicht nur Widerstandsfähigkeit, sondern vor allem Lern- und Anpassungsfähigkeit. Je früher wir die neue Realität akzeptieren und uns darauf einlassen sowie neue Lösungswege ausprobieren, desto eher werden wir wieder eine neue Stabilität erreichen. Es gibt kein zurück.
Und das ist die positive Aussicht: Nach jedem schweren Rückschlag und Schock ging es in der Menschheitsgeschichte langfristig besser weiter. Wir haben nun nicht nur eine unvorstellbare Krise vor uns, sondern auch eine große Chance, die bisherigen Dinge und Verläufe zu hinterfragen und neu zu organisieren (Stichwort: Wachstumsökonomie und Konsumgesellschaft). Beginnen wir damit jetzt! Dokumentieren wir, was gut läuft und was weniger, damit wir die Geschichte nicht wiederholen müssen.
Selbstwirksamkeit
Die bisherigen Ausarbeitungen und Vorbereitungen auf ein mögliches Blackout sind mit Sicherheit eine nützliche Hilfestellung, um rasch die eigene und gesellschaftliche Selbstwirksamkeit zu erhöhen. Hoffen wir, dass wir nicht die ganze Palette benötigen werden. Blauäugig sollten wir dennoch nicht sein. Wir entscheiden jetzt mit unserem Verhalten und unseren Aktivitäten, wie sich die Zukunft gestalten wird. Wir sind selbst die Baumeister.
Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 22.03.20 fertig gestellt und spiegelt den Stand der Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt wider.
Autor
Herbert Saurugg, Experte für die Vorbereitung auf den Ausfall lebenswichtiger Infrastrukturen und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge, war 15 Jahre Berufsoffizier des Österreichischen Bundesheeres, zuletzt im Bereich IKT-/Cyber-Sicherheit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit den möglichen Folgen der steigenden Vernetzung und Komplexität, insbesondere mit dem Szenario eines europaweiten Strom- und Infrastrukturausfalls ("Blackout"). Er betreibt dazu einen umfangreichen Fachblog (www.saurugg.net) und ist über die Grenzen Österreichs hinaus als weitsichtiger Querdenker und Keynote-Speaker bekannt.
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