Die jüngsten Verwerfungen an den Finanzmärkten rund um Griechenland machen vor allem eins deutlich: Schwarze Schwäne werden in Zukunft immer wieder und vermutlich auch häufiger auftauchen. Das Bild des "Schwarzen Schwans" hatte der Finanzmathematiker und philosophische Essayist Nassim Nicholas Taleb geprägt. In seinem Buch "Black Swan" setzt er sich besonders kritisch mit der grundsätzlichen Aussagefähigkeit von Modellen in den Sozialwissenschaften, speziell auch in der Volkswirtschaft und im Risikomanagement, auseinander. Er verweist auf die schon erwähnte herausragende Bedeutung sehr seltener und nahezu unvorhersehbarer Einzelereignisse für die Entwicklung der Gesellschaft und insbesondere auch der Wissenschaft. Derartige außergewöhnliche Einzelereignisse, die er "Schwarzen Schwan" (Black Swan) nennt, sind "Ausreißer", die außerhalb des üblichen Bereichs der Erwartung liegt, da in der Vergangenheit nichts Vergleichbares geschehen ist.
Bevor Australien entdeckt wurde, waren die Menschen in der Alten Welt überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz anscheinend völlig bestätigt wurde. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, wurde das bisherige Gedankengebäude schwer erschüttert. Die Schwarze-Schwan-Illustration veranschaulicht eine schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung und die Zerbrechlichkeit unseres (historischen) Wissens. Da die meisten Beobachter über den eigenen Tellerrand nicht hinausschauen, war für sie klar, dass alle Schwäne weiß sind. Es lag schlichtweg außerhalb der eigenen Erfahrungen und Vorstellungskraft, dass schwarze (Trauer-)Schwäne in allen Bundesstaaten Australiens vorkommen, sowohl auf dem Festland wie auch in Tasmanien.
Taleb behauptet, dass wir systematisch die schmerzhaften Folgen von Extremereignissen unterschätzen. Talebs Analyse ist einfach und schlicht: Wir denken in schlüssigen Geschichten, verknüpfen Fakten zu einem stimmigen Bild, nehmen die Vergangenheit als Modell für die Zukunft. So schaffen wir uns eine Welt, in der wir uns zurechtfinden. Aber die Wirklichkeit ist anders: chaotisch, überraschend, unberechenbar.
Platonischer Fehlschluss
Taleb glaubt, dass die meisten Menschen "schwarze Schwäne" ignorieren, weil es für uns angenehmer ist, die Welt als geordnet und verständlich zu betrachten. Taleb nennt diese Blindheit "platonischer Fehlschluss" und legt dar, dass dies zu drei Verzerrungen führt:
- Erzählerische Täuschung (narrative fallacy): Das nachträgliche Schaffen einer Erzählung, um einem Ereignis einen erkennbaren Grund zu verleihen.
- Spieltäuschung (ludic fallacy): Der Glaube daran, dass der strukturierte Zufall, wie er in Spielen anzutreffen ist, dem unstrukturierten Zufall im Leben gleicht. Taleb beanstandet Modelle der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie wie den Random Walk.
- Statistisch-regressive Täuschung (statistical regress fallacy): Der Glaube, dass sich das Wesen einer Zufallsverteilung aus einer Messreihe erschließen lässt.
Neue "fat tails" in der Folge der Kernschmelze
Wann diese "tail risks", also statistisch (zumindest bislang) als unwahrscheinlich erachteten Turbulenzen zuschlagen, ist per definitionem äußerst schwer zu prognostizieren. Die Antwort nach dem Wo lässt sich da schon besser eingrenzen - nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit an den weltweiten Bondmärkten. Warum das so ist, ist recht einfach zu verstehen.
Als Folge der Kernschmelze weiter Teile des weltweiten Finanzsystems nach dem Untergang von Lehman Brothers wurden die Risiken aus den Bank-Bilanzen direkt und indirekt auf die Schultern der Regierungen verlagert. Noch belastender für die Staatssäckel sind allerdings die einbrechenden Steuereinnahmen aufgrund der scharfen Kontraktion der Weltwirtschaft. Das Ergebnis sind Defizite, wie man sie sonst nur aus Kriegszeiten kannte. Angesichts langfristig nur mittelmäßiger Wachstumserwartungen und ungünstiger demographischer Entwicklungen in vielen Ländern ist zudem unklar, wie die Defizite in Zukunft abgebaut werden sollen. Wie zuletzt teilweise schwierig verlaufende Auktionen bei Staatsanleihen und vor allem das Beispiel Griechenland verdeutlichen, werden auch die Bondinvestoren zunehmend nervös und verlangen höhere Risikoaufschläge. Das wiederum verschärft die Probleme zusehends, da eine Konsolidierung bei erhöhten Refinanzierungskosten sich umso schwieriger gestaltet; ein Teufelskreis also.
Wie groß sind die Gefahren für die Aktienmärkte? Kurzfristig vermutlich eher gering, mittel- bis langfristig hoch. Ein Zahlungsausfall Griechenlands in diesem Jahr ist äußerst unwahrscheinlich, und das nicht nur weil EZB-Präsident Jean-Claude Trichet ein solches Szenario für praktisch ausgeschlossen hält. Auch Deutschland, das sich bislang am heftigsten gegen ein klares Hilfspaket stemmt, hat kein Interesse an einem Default - dafür ist das Exposure des deutschen Bankensystems in das Mittelmeerland hinein zu groß. Die Kosten einer Stabilisierung würden die Kosten für einen Bailout vermutlich bei weitem übersteigen. Es ist also davon auszugehen, dass die Griechenland-Panik schon bald wieder aus dem Markt weichen wird, was Aktien weiteres beschränktes Aufwärtspotenzial eröffnen sollte. Dabei könnte die in der kommenden Woche beginnende Berichtssaison in den USA neuen Treibstoff für die Kurse liefern. Alcoa eröffnet traditionell den Zahlenreigen, mit Intel, J.P. Morgan, Google, General Electric, AMD und Bank of America folgen dann in kurzer Foge wichtige Schwergewichte. Zuletzt verbesserte Konjunkturdaten weltweit sprechen dafür, dass sich auch diese Saison gut gelaufen ist. Dabei würden vor allem Hinweise von den Investoren honoriert werden, die dafür sprechen, dass auch die Umsätze zu wachsen beginnen.
Europas Unternehmen sollten dabei noch zusätzlich von der Euro-Schwäche profitiert haben. Dennoch werden die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Dafür sind schon zu viele positive Nachrichten in den Kursen eingepreist. Derzeit werden für den MSCI World im Konsens Gewinnsteigerungen für die Jahre 2010 und 2011 von 20 % bis 30 % erwartet. Sollten diese ambitionierten Erwartungen nicht erfüllt werden, ist mit einer scharfen Korrektur an den weltweiten Börsen zu rechnen. Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass sich das Chance-Risiko-Profil mit Notierungen über 6.000 Punkten im DAX zu Ungunsten der Anleger entwickelt hat. Das Hauptrisiko für die Investoren stellen aber nicht die Gewinnschätzungen der Analysten dar, sondern wie bereits erwähnt neue Verwerfungen an den Bondmärkten. Während für Griechenland noch eine Lösung gefunden werden dürfte, stellten Turbulenzen etwa am spanischen Anleihemarkt aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung des Landes für die Eurozone schon wesentlich größere Herausforderungen dar. Einer solchen Entwicklung würde sich vermutlich auch der bislang als sicherer Hafen geltende deutsche Rentenmarkt nicht entziehen können. Auch bei Aktien wäre angesichts der in der Folge wieder steigenden Risikoaversion mit einem Abverkauf zu rechnen. Ob und wann es dazu kommt, ist aber nicht vorhersehbar. Optimisten verweisen auf das Beispiel Japan. Trotz einer Staatsverschuldung um die 200 % des BIP fallen die Zinsen dort seit Jahren. Das ist aber noch lange keine Garantie dafür, dass es auch in den kommenden Jahren so weitergehen wird. Die Anleger tun gut daran, sich der systemimmanenten Schwarzen Schwäne bewusst zu sein.
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Kommentare zu diesem Beitrag
Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) hat die internationale Gemeinschaft dazu aufgerufen, das globale Finanzsystem weiter zu stärken und damit eine neue Finanzkrise zu vermeiden. "Wir haben die absolute Pflicht, das Finanzsystem solider und tragfähiger zu machen", sagte Jean-Claude Trichet am Freitag in Mailand.
Eine solch "dramatische Lage auf globalem Niveau" wie bei der weltweiten Finanzkrise könne man sich nicht noch einmal leisten. "Wir können nicht erwarten, dass der Steuerzahler wieder dazu bereit sein wird, mehr als 25% des Bruttoinlandsprodukts zu riskieren, um einen Zusammenbruch des Finanzsektors zu verhindern", sagte Trichet.
Dank der noch nie da gewesenen Stützungsmaßnahmen der weltweiten Notenbanken und Regierungen sei die Weltwirtschaft mittlerweile über den Berg. Die Erholung bleibe jedoch anfällig. Mit Blick auf Europa sagte Trichet, die Erholung werde moderat und ungleichmäßig ausfallen. Die Inflation dürfte über den geldpolitischen Horizont hinaus moderat bleiben.