Aus einer internationalen Perspektive gelten Deutsche allgemein als Angsthasen oder auch eine Gesellschaft mit "Vollkaskomentalität". Angst ist allgemein ein Grundgefühl, welches sich in als bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und unlustbetonte Erregung äußert. Anscheinend lebt die deutsche Gesellschaft auf einem Fundament einer unbegründeten diffusen Furcht. "German Angst" hat sich fest in der englischen Sprache eingebürgert und bezeichnet hier eine generalisierte Angststörung. Als Beispiel für „German Angst“ wird häufig die defensive Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands nach der Wiedervereinigung bezeichnet, etwa auch in Bezug auf den zweiten Golfkrieg. Die Diskussionen um Vogelgrippe H5N1 oder BSE sowie die aktuellen Diskussionen um die Digitalisierung oder disruptive Innovationen sind weitere Beispiele für eine diffuse Furcht oder Angststörung.
Doch wie steht es tatsächlich um die Angst der Deutschen. Sind die Deutschen wirklich die Angsthasen, als die sie international bezeichnet werden? Die Deutschen haben mehr und deutlich größere Sorgen als noch vor einem Jahr - so das Ergebnis der repräsentativen Studie "Die Ängste der Deutschen 2016". Erstmals an der Spitze steht die Angst vor Terroranschlägen, gefolgt von der Furcht vor Extremismus und vor Spannungen durch den Zuzug weiterer Ausländer.
Terrorrisiko und politischer Extremismus stehen auf der Risikoliste ganz oben
Die aktuellen politischen Themen treiben die Sorgen der Deutschen auf Spitzenwerte - so das Ergebnis der repräsentativen R+V-Studie "Die Ängste der Deutschen 2016". Insbesondere die Attentate der Terror-Miliz IS in Europa schüren die Angst vor terroristischen Anschlägen massiv. Sie steigt um 21 Prozentpunkte und erreicht damit ihren bisherigen Höchstwert - und erstmals Platz 1 des Ängste-Rankings. Extrem angewachsen sind auch die Ängste vor politischem Extremismus und vor Spannungen durch weiteren Zuzug von Ausländern. Beide Themen schrecken in diesem Jahr mehr als zwei Drittel aller Bundesbürger und klettern auf die Plätze 2 und 3. Auffällig: Die überwiegende Mehrheit der Deutschen befürchtet auch, dass die Politiker von ihren Aufgaben überfordert sind und dass die Behörden bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise überlastet sind.
Abbildung 01: Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York 2001 hat sich die Furcht vor terroristischen Attentaten im Durchschnitt nahezu verdoppelt. 2016 ist sie mit 73 Prozent so hoch wie nie zuvor und erstmals auf Platz 1.
Zum 25. Mal wurden rund 2.400 Bürger nach ihren größten politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Sorgen befragt. Der Angstindex - der Durchschnitt der langjährig abgefragten Sorgen - steigt sprunghaft um 10 Prozentpunkte und erreicht mit 49 Prozent ein enorm hohes Niveau. Das resultiert aus dem ungewöhnlich hohen Anstieg einzelner Sorgen: Ganze zwölf der insgesamt 20 abgefragten Ängste überspringen zum Teil deutlich die 50-Prozent-Marke. Im vergangenen Jahr ängstigten nur vier Themen mehr als die Hälfte der Befragten.
Das Jahr der Ängste
"2016 ist das Jahr der Ängste", kommentiert Professor Dr. Manfred G. Schmidt, Politologe an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, dieses Ergebnis. Er registriert "erdrutschartige Verschiebungen" im Ranking: "Die Sorgen um Geld, Gesundheit und Umwelt - in früheren Jahren noch Top-Themen - sind nicht verschwunden. Aber jetzt werden sie von schwerwiegenden Gefährdungen wie Terror, Extremismus oder EU-Schuldenkrise überlagert." 2016 kommt ein weiterer Angstfaktor hinzu, so Professor Schmidt: "Die große Mehrheit der Deutschen ängstigt der Kontrollverlust des Staates in der Flüchtlingskrise und die Überforderung der Politiker - ein katastrophales Urteil für die politische Klasse." Konkret: Zwei Drittel der Bundesbürger befürchten, dass die große Zahl der Flüchtlinge die Deutschen und ihre Behörden überfordert (66 Prozent) und dass die Politiker ihren Aufgaben nicht gewachsen sind (65 Prozent).
Angst vor Eskalation der Gewalt und vor Konflikten durch Zuwanderung
Unter dem Eindruck der Attentate der IS-Terrormiliz und der Flüchtlingswelle in Europa hat sich das Bedrohungsgefühl der Bundesbürger gravierend erhöht. Manfred G. Schmidt nennt die Gründe: "Terroranschläge, Ausschreitungen von Extremisten, aber auch die politische Polarisierung infolge der unkontrollierten Massenzuwanderung erschüttern das ausgeprägte Sicherheitsbedürfnis der Deutschen." Die intensive Berichterstattung in den Medien sensibilisiert die Bürger noch weiter, ebenso wie Warnungen des Bundeskriminalamts, dass Deutschland im Visier von Terroristen ist. Wie schon im Vorjahr ist die Angst vor Terror am stärksten gestiegen - bei Männern und Frauen, in Ost und West. Sie springt mit 73 Prozent (+ 21 Prozentpunkte) von Platz 3 erstmals auf den Spitzenplatz der Umfrage.
Interessant ist hier auch ein Blick auf den Langzeitvergleich: "Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York 2001 hat sich die Angst vor terroristischen Attentaten im Durchschnitt der Jahre bis 2014 nahezu verdoppelt - und nahm 2015 und vor allem 2016 noch weiter zu", so Brigitte Römstedt. Politischer Extremismus, der vor einem Jahr etwa die Hälfte der Bevölkerung beunruhigte, schreckt jetzt über zwei Drittel der Deutschen (68 Prozent) - Platz 2 des diesjährigen Ängste-Rankings. Höher als je zuvor ist auch die Befürchtung, dass es durch weitere Zuwanderung zu Spannungen zwischen Deutschen und hier lebenden Ausländern kommen könnte. Nach einem Zuwachs um 18 Prozentpunkte klettert diese Angst mit 67 Prozent von Platz 4 auf Platz 3 der Skala.
Angst vor Kosten der Euro-Schuldenkrise stagniert auf hohem Niveau
Erhebliche Sorgen bereitet den Deutschen 2016 erneut die Angst ums Geld. Allerdings hat sich die Ursache in Laufe der Studie verschoben. "Nach der Einführung der Euro-Währung war die Furcht vor steigenden Lebenshaltungskosten jahrelang der Angstmacher Nummer 1 und stand insgesamt 11 Mal an der Spitze des Ängste-Rankings, zuletzt 2010", sagt Römstedt. Seit sechs Jahren sind die Kosten der Euro-Schuldenkrise in den Vordergrund gerückt. 2016 befürchten 65 Prozent (2015: 64 Prozent) der Befragten, dass die Euro-Schuldenkrise teuer für den Deutschen Steuerzahler wird.
Weitere Ergebnisse der Studie in Kurzform:
- Sehr hoch ist auch die Besorgnis der Deutschen, im Alter pflegebedürftig zu werden (57 Prozent) oder schwer zu erkranken (55 Prozent). Traditionell sind diese Sorgen bei Frauen größer (Pflege 61 Prozent, Krankheit 58 Prozent) - sie tragen bei der Betreuung der Angehörigen meist die größte Last. Bei den Männern äußert jeweils etwa die Hälfte der Befragten große Angst.
- Die Angst vor Naturkatastrophen bleibt mit 52 Prozent unverändert hoch. Interessant: Bei dieser Umweltfrage zeigt sich der größte Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland. Im Westen belastet das Thema die überwiegende Mehrheit der Bürger (54 Prozent), im Osten sind es nur 41 Prozent, 10 Prozentpunkte weniger als im vergangenen Jahr. Erneut zeigt sich: "Grüne Themen" sind im Westen Deutschlands stärker verankert.
- Eines hat sich in den 25 Ängste-Studien nie geändert: Trotz hoher Scheidungsraten ist die Furcht vor dem Zerbrechen der Partnerschaft stets das Schlusslicht im Ranking. Auch 2016 liegt diese Angst mit 21 Prozent auf dem letzten Platz.
Die 7 größten Ängste bei Frauen und Männern
Abbildung 02: Traditionell sind die Sorgen bei Frauen insgesamt etwas größer als bei Männern - auch 2016. So lösen beispielsweise Bedrohungen durch Terroristen oder Extremisten bei Frauen deutlich mehr Angst aus. Zudem ist die Vorstellung, im Alter als Pflegefall anderen zur Last zu fallen, für sie viel beängstigender. Bei allen anderen Top-Ängsten gibt es kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Die 7 größten Ängste in West und Ost
Abbildung 03: 2016 ist die Rangfolge der sieben größten Ängste in West- und Ostdeutschland nahezu identisch - ebenso wie die Intensität der einzelnen Sorgen. Einziger Unterschied im Ranking: Die Angst, im Alter auf Pflege angewiesen zu sein, gehört im Westen mit 58 Prozent noch zu den Top-Sorgen. Im Osten liegt diese Angst mit 57 Prozent auf Platz 8 und wird übertroffen von der Sorge, dass die Lebenshaltungskosten steigen (West: 53 Prozent, Platz 11).
Die Deutschen sind keine Angsthasen
Wie der Rückblick auf 25 Jahre zeigt, haben die Sorgen der Bundesbürger durchaus einen realen Hintergrund. Anfang der neunziger Jahre dominierten Ängste vor Krankheit und Pflegefall. Damals begannen die öffentlichen Diskussionen über die Renten- und Gesundheitsform. Zudem rückte erstmals das Thema demografischer Wandel in den Fokus.
Abbildung 04: Die Ängste der Deutschen im Zeitverlauf
Ab Mitte der neunziger Jahre fürchteten sich viele Deutsche vor Arbeitslosigkeit und steigenden Lebenshaltungskosten – Rezession, Massenentlassungen und auch die Ernüchterung nach der Wende prägten diese Zeit.
Um die Jahrtausendwende – nach der Einführung des Euro – war die Hauptsorge vieler Bundesbürger, dass das Leben immer teurer wird. Nach 2001 trieb das Attentat auf das World-Trade-Center die Angst vor Terroranschlägen dauerhaft in die Höhe.
Während der Finanz- und Wirtschaftskrise rückten ab 2007 wirtschaftliche Sorgen in den Mittelpunkt. Und der Orkan Kyrill erhöhte die Sensibilität für Naturkatastrophen.
In jüngster Zeit schließlich machen die Auswirkungen der Euro-Schuldenkrise und die Flüchtlingskrise massiv Angst. Beide Themen verstärken auch die Furcht der Bürger, dass die Politiker von ihren Aufgaben überfordert sind.