In einem aktuellen FTD-Kommentar weist Alan Greenspan, bis Anfang 2006 Vorsitzender der US-Notenbank, darauf hin, dass Risikomodelle "zwar extrem komplex geworden sind, aber immer noch so simpel sind, als dass sie die volle Bandbreite an Variablen berücksichtigen könnten, die die Weltwirtschaft antreiben." Greenspan unterstellt in seinem Kommentar, dass die Modelle des Risikomanagements versagt hätten. Als Begründung führt er an: "Die glaubwürdigste Erklärung besagt, dass die einem Modell zugrundeliegenden Daten sowohl aus Zeiten der Euphorie als aus Phasen der Furcht stammen, also aus Zeiten deutlich unterschiedlicher Dynamik." Die Modelle berücksichtigen nicht in vollem Umfang die angeborenen menschlichen Reaktionen, die zwischen Euphorie und Furcht schwanken und sich ohne spürbare Lerneffekte von Generation zu Generation wiederholen. Greenspan weist darauf hin, dass die Erklärungsvariable "rationales versus irrationales Verhalten" in den Risikomanagement-Methoden und in den makroökonomischen Modellen fehlt.
Die modernen Risikomanagement-Methoden unterschätzten Extremereignisse
Die von Greenspan vorgebrachte Kritik ist weder neu noch innovativ. Einer der prominentesten Kritiker von klassischen Finanzmarktmodellen ist der französische Mathematiker Benoît B. Mandelbrot, der als Erfinder der fraktalen Geometrie und Mitbegründer der Chaostheorie gilt. Im Kern richtet sich Mandelbrots Kritik an den klassischen Finanzmarktmodellen gegen die Verwendung der Gauß'schen Glockenkurve zur Berechnung von Aktienkursveränderungen. Diese Kurve, die von dem deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß zur Ermittlung der Normalverteilung vorgeschlagen wurde, schien lange dazu geeignet, die Wahrscheinlichkeit der Aktienkursveränderungen an der Börse zu ermitteln und half dabei, sehr viele kleine Variationen und sehr wenige große Kurssprünge sichtbar zu machen. Doch diese Rechnung will so recht nicht auf die Realität des Aktienmarktes passen. So konnte in Analysen nachgewiesen werden, dass nach dem Gauß’schen Modell ein Börsencrash – wie etwa im Oktober 1987 – nur einmal in 1087 Jahren eintreten dürfte. Die empirische Beobachtung hat jedoch gezeigt, dass derartige Crashs etwa alle 38 Jahre eintreten.
Viele Risikomanagement-Modelle machen blind gegenüber der Realität
Vor der Krise des Hedge Funds "Long Term Capital Management" (LTCM) im Jahr 1998 hatten Risiko-Spezialisten erwartet, dass bestimmte widrige Umstände nur einmal alle 1.000.000.000.000.000.000 Jahre eintreten würden. In Wirklichkeit kam es jedoch zweimal innerhalb weniger Tage zu diesen äußerst ungünstigen Umständen.
Kurzum: Wer sich auf die Normalverteilung und Modelle der geometrischen Brownschen Bewegung verlässt, blendet Risiken systematisch aus und wird irgendwann von der Realität an den Finanzmärkten überholt. Die nachfolgenden Abbildungen skizzieren den Verlauf des Eurostoxx im Zeitraum 1987 bis 2008.
Abb. 1: Eurostoxx simuliert basierend auf einem GBM-Modell (1987 bis 2008), © RiskNET GmbH
Abb. 2: Historischer Verlauf des Eurostoxx von 1987 bis 2008, © RiskNET GmbH
Es ist deutlich zu erkennen, dass die Ergebnisse des "modernen" Risikomodells stark vom tatsächlichen Eurostoxx-Verlauf abweichen. Kurzum: Das Modell macht "blind" gegenüber der Realität. Risikomanagement kann nicht auf die Erkenntnisse der Brownschen Bewegung reduziert werden. Generationen von Studenten haben die Modelle von Markowitz, Black, Scholes, Merton als die "einzige Wahrheit" eingetrichtert bekommen und wenden sie in ihren Entscheidungen ohne Bedenken an.
Der klassische Werkzeugkasten der Risikomanager ist veraltet
Die Werkzeuge der modernen Finanzmathematik wurden um das Jahr 1900 von Louis Bachelier zusammengestellt. Bacheliers Lehren fanden an der Wall Street bereitwillig Schüler und wurden "zum Katechismus für das, was man heute als ‚moderne’ Finanztheorie bezeichnet", so Benoît B. Mandelbrot. So geht auch der Ansatz des CAPM (Capital Asset Pricing Model), der in den frühen sechziger Jahren von William F. Sharpe entwickelt wurde, auf die Ansätze von Bachelier zurück. Ebenfalls zu den von Bachelier angeregten Werkzeugen gehört die Moderne Portfoliotheorie, die in den fünfziger Jahren von Harry M. Markowitz entwickelt wurde.
Bleibt die Frage offen: Welche Alternativen bietet der Werkzeugkasten des modernen Risikomanagements? Mandelbrot bietet die Alternative der fraktalen fraktalen Geometrie. Basierend auf der biblischen Prophezeiung der "sieben fetten und sieben mageren Jahre” versteht Mandelbrot unter dem Joseph-Effekt gemäß der Legende, dass Joseph durch die Vorhersage von sieben Hungersjahren Ägypten vor einer Katastrophe bewahrte, das langfristige Gedächtnis der Kurse. Der Noah-Effekt hingegen beschreibt die abrupte Änderung von Kursen. Dem Verständnis des fraktalen Mathematikers nach ist es mithilfe dieser beiden Effekte möglich, regelmäßige Muster in der Unordnung der Kurssprünge zu sehen.
Unterwegs mit beschlagener Frontscheibe
Im Risikomanagement verhalten sich viele Banken wie der Autofahrer, dessen Frontscheibe beschlagen ist und der deshalb mit Hilfe des Rückspiegels fährt. Traditionelles, reaktives Risikomanagement unterstellt eine Ursache-Wirkungs-Folge und geht bei der Modellierung von Risiken von exogen gegebenen Verteilungsfunktionen oder exogen gegebenen Zufallsprozessen aus. Oder einfacher ausgedrückt: Die historischen Daten werden einfach in die Zukunft extrapoliert.
Die Realität sieht jedoch etwas anders und komplexer aus: Finanzmärkte und Unternehmen können insgesamt als zielgerichtete, offene und hochgradig komplexe sozioökonomische Systeme charakterisiert werden. Sie zeichnen sich durch eine Vielzahl sehr hetero¬gener Elemente aus, die durch zahlreiche unterschiedliche Beziehungen sowohl miteinander als auch mit anderen Umweltelementen verknüpft sind, wobei diese Elemente und Beziehungen ständigen – häufig auch sehr starken und abrupten – Veränderungen unterworfen sind. Unternehmen sind komplexe Netzwerke ohne einfache Ursache-Wirkungs-Logik.
Verhaltensrisiken werden im Risikomanagement leider zu häufig ausgeblendet
Alle relevanten und existenzbedrohenden Risiken im Finanzsektor sind vor allem Verhaltensrisiken. Sehr häufig führen vor allem abrupte Verhaltensänderungen und Strategiewechsel zu Instabilitäten – eben auch an den Finanzmärkten. Kurzum: Das Anpassungsverhalten der Marktakteure ist der entscheidende Faktor dafür, dass völlig neue Daten in der Gegenwart und in der Zukunft vorliegen können.
Die Spieltheorie liefert den Werkzeugkasten, um derartige "qualitative" Verhaltensrisiken im Risikomanagement zu berücksichtigen. Finanzmarktteilnehmer müssen sich von dem Irrglauben verabschieben, dass Risikomanagement ausschließlich ein Problem von statistischen Messbarkeiten ist.