Ursachenanalyse und Risikoanalyse der Humanfaktoren

Die Havarie der Costa Concordia


Die Havarie der Costa Concordia: Ursachenanalyse und Risikoanalyse der Humanfaktoren Studie

Am 13. Januar 2012 um 21:45:07 kollidiert das Kreuzfahrtschiff Costa Concordia mit einer Geschwindigkeit von 16 Knoten (30 Km/h) mit dem Felsen "Le Scole" vor der Insel Giglio in Italien. An Bord des Schiffes, das zur Carnival Cruises Corporation gehört, befanden sich zu diesem Zeitpunkt 4229 Menschen (3206 Passagiere und 1023 Besatzungsangehörige). Das Schiff hatte kurz zuvor den Hafen Civitavecchia verlassen und hatte Kurs auf Savona genommen. Die 2006 vom Stapel gelaufene Costa Concordia war mit 114.000 Bruttoregistertonnen, 13 Decks, 290 Metern Länge, 35 Meter Breite und 8 Meter Tiefgang zum damaligen Zeitpunkt das größte italienische Kreuzfahrtschiff, was jemals gebaut worden war. Bei dem Unglück verloren 32 Menschen ihr Leben, 60 wurden zum Teil schwer verletzt.

Wie kann ein solches Unglück passieren? Was sind die Ursachen dieser Katastrophe?

Abb. 01: Die Costa Concordia vor der Havarie [Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Costa_Concordia, Abruf: März 2014]


Abb. 01: Die Costa Concordia vor der Havarie [Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Costa_Concordia, Abruf: März 2014]




Abb. 02: Die Costa Concordia nach der Havarie [Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Costa_Concordia, Abruf: März 2014]


Abb. 02: Die Costa Concordia nach der Havarie [Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Costa_Concordia, Abruf: März 2014]


 
Diese Fragen können oberflächlich beantwortet werden, indem man einfach dem Kapitän die Schuld zuschiebt. Diese Erklärung des Unfalls greift aber viel zu kurz, obwohl sie bereits darauf hindeutet, dass der Mensch in seiner Natur fehlerhaft ist und die wirklichen Ursachen dieser und anderer Katastrophen in den "Humanfaktoren" liegen.  

Die Schuldfrage wird von den Gerichten auf der Grundlage der Bestimmungen des Strafrechts geklärt. Das Ziel des Strafprozesses besteht darin, den oder die Schuldigen festzustellen und diese zu bestrafen.

Die nachfolgende Untersuchung verfolgt einen anderen Zweck: Die Tourismusindustrie im Allgemeinen und die Kreuzschifffahrt im Besonderen sind bestrebt, den Kunden besondere Erlebnisse und Emotionen zu vermitteln. Dieses Ziel darf aber nicht zu Lasten der Sicherheit verfolgt werden, sondern immer nur unter strenger Beachtung der Sicherheit. Dabei spielt der Mensch die zentrale Rolle. Die Berücksichtigung der Humanfaktoren ist eine der zentralen Anforderungen an ein erfolgreiches Risikomanagement.


Schadenfallanalyse

Risikomanagement-Methode zur Aufdeckung der Humanfaktoren

Risikomanagement ist definiert als "Prozesse und Verhaltensweisen, die darauf ausgerichtet sind, eine Organisation bezüglich Risiken zu steuern" [vgl. ONR 49000 (2014), Ziff. 2.2.25]. Das Ergebnis des Risikomanagements besteht darin, dass in einer Organisation eine Risikokultur entsteht. Diese umfasst das "Denken, Handeln und Verhalten einer Organisation und ihrer Führungskräfte und Mitarbeiter nach den Regeln des Risikomanagements" [vgl. ONR 49000 (2014), Ziff. 2.2.24]. Die Risikokultur ihrerseits ist wiederum eine Voraussetzung, dass das Risikomanagement als Führungsinstrument wirksam ist und dadurch Fehlentwicklungen und Schadenpotenziale frühzeitig erkannt und vorsorglich günstig beeinflusst werden. Zum Risikomanagement gehört auch das Notfall- und Krisenmanagement, das zum Ziel hat, trotz präventiver Maßnahmen eingetretene Restrisiken in Grenzen zu halten.

Wichtige Aufgaben im Risikomanagement sind die Risikoidentifikation, die Risikoanalyse und die Risikobewertung. Diese können mit einer Risikobeurteilung vorgenommen werden, wofür es verschiedene Methoden gibt. Eine davon ist die Schadenfallanalyse, die ein eingetretenes Ereignis eingehend untersucht. Aus den Erkenntnissen werden Konsequenzen bzw. Maßnahmen abgeleitet, um gleichartige oder ähnliche schwere Unfälle zu vermeiden oder wenigstens begrenzend zu beeinflussen.  

Eine Methode der Schadenfallanalyse ist das sogenannte "London Protokoll" von Sally Taylor und Charles Vincent [Taylor-Adams/Vincent 1998] und stammt aus dem Bereich der Akutmedizin. Es umfasst eine systemische Analyse von klinischen Zwischenfällen und gibt gleichzeitig Anweisungen für die Abklärung von schweren Schadenereignissen. Weil im Risikomanagement der Akutmedizin als Hochrisikobereich ebenfalls die Humanfaktoren eine bedeutende Rolle spielen, verwenden wir die Methode des London Protokolls für die Identifikation und Analyse der Risikoursachen, die zur Havarie der Costa Concordia geführt haben.

Systemanalyse von schweren Zwischenfällen

Die Analysemethode des London Protokolls geht davon aus, dass es für einen schweren Zwischenfall nicht nur eine unbestimmte Verkettung unglücklicher Umstände braucht. Vielmehr werden die Elemente bestimmt, die das Ereignis auslösen. Es sind deren vier:

  1. Zuerst schaffen Mängel in der Organisation, im Management und im kulturellen  Rahmen die Voraussetzungen für einen schweren Unfall. Das London Protokoll ist eine typische Top-down Betrachtung und konzentriert sich zuerst auf die Aspekte der Unternehmensführung.
  2. Als Zweites führen ungünstige Einflussfaktoren zu einem schweren Zwischenfalls. Es sind dies die Arbeitsumgebung, menschliche Faktoren sowie die sie umgebende Organisation und Technik.
  3. Das Dritte betrifft unsichere Handlungen, die auch als aktive Fehler auftreten. Sie liegen in menschlichen Unzulänglichkeiten, entweder als Unfähigkeit oder Irrtum. Menschen verstoßen oft auch gegen Regeln und Vorschriften, unbewusst oder aber mit Absicht.
  4. Schließlich kennen wir in Organisationen und technischen Systemen auch Barrieren bzw. Kontrollmechanismen, die das letzte Glied in der Kette bilden. Wenn dazu noch Barrieren versagen, tritt der schwere Unfall ein.


Das London Protokoll wurde von seinen Autoren für das klinische Umfeld in der folgenden Art graphisch dargestellt:

Abb. 03: London Protokoll, System analysis of clinical incidents 
Abb. 03: London Protokoll, System analysis of clinical incidents

Zusätzlich zu diesem ersten Teil des London Protokolls geben die Autoren auch Hinweise darauf, wie in einer Organisation des Gesundheitswesens eingetretene Schadenfälle untersucht werden können. Dabei braucht es einen formellen Auftrag zur Untersuchung, das Untersuchungsteam muss zusammengestellt werden, die relevanten Daten  und Informationen werden identifiziert und gesammelt, bevor die Analyse beginnt [Taylor-Adams/Vincent 1998, S. 8].

Die Analyse baut auf der Chronologie der Ereignisse auf, also auf dem Ablauf des Geschehens, das mit dem schweren Zwischenfall endete. Die aufgeführten Tätigkeiten werden nach Unsicherheiten und Fehlern untersucht, diese mit den Einflussfaktoren in Verbindung gebracht.  

Einflussfaktoren von Risiken  

Die Einflussfaktoren [Taylor-Adams/Vincent 1998, S. 5] werden im London Protokoll weit gefasst und schließen auch die Management-Faktoren, die menschlichen Fehler (falsche Einschätzung von Sachverhalten und Verstöße gegen bzw. Nicht-Einhalten von Vorgaben und Richtlinien) und das Versagen von Barrieren ein. Es sind folgende Faktoren:  

Aufgabenfaktoren:

Die Aufgabengestaltung, Ziele von Handlungen und die Klarheit der Aufgabenstellung sind Bestandteile dieses Faktors. Waren im Ablauf des Geschehens Aufgaben, Anweisungen und Befehle klar definiert und verständlich?

Verfahrensfaktoren:

Sind genutzte Verfahren für alle Beteiligten klar und bekannt? Wurde von Verfahren abgewichen, wenn ja, warum? Stehen alle Verfahren in Einklang mit geltenden Vorschriften, Regularien und Gesetzen?

Individuelle Faktoren:

Haben alle beteiligten Personen die Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen, um die gestellten Aufgaben innerhalb der generellen Vorgaben zu erfüllen? Wurden die beteiligten Personen durch bestimmte Einflüsse an etwaigen Handlungen gehindert? Ebenfalls von Bedeutung ist, ob Personen Handlungen korrekt und gewissenhaft ausgeführt haben.

Teamfaktoren:

Die Teamfaktoren umfassen die Kommunikation im Team, die Supervision, die Teamstruktur und Hierarchie. Darunter fallen auch die Verhaltensweisen der einzelnen Teammitglieder bei der Entscheidungsfindung und kritischen Situationen.

Faktoren der Arbeitsumgebung:

Darunter fallen Arbeitsbelastung und Qualifikation des Personals, auch der Zustand von technischen Geräten und Ausstattungen. Zudem spielt die physische Umgebung eine Rolle wie Wetter, Tag, Nacht, Sichtverhältnisse, Geräusche, Störfaktoren usw.

Organisation und Management:

Dieser Faktor beschreibt den Einfluss der obersten Leitung auf den Hergang des Ereignisses. Welche Unternehmens- und Risikopolitik beeinflussen die Verhaltenskultur, welche Anweisungen oder Verfahren sind gültig und werden beachtet. Wird sichergestellt, dass sicherheitsrelevante Aspekte unter Kontrolle sind, wird das Personal entsprechend aus- und fortgebildet?

Faktoren des institutionellen Rahmens:

Das Management wird durch den institutionellen Rahmen beeinflusst. Dieser umfasst finanzielle, wirtschaftliche und politische Einflüsse, Regeln und Gesetze.

Wenn die Einflussfaktoren definiert sind, kann die Untersuchung des Unfalls beginnen.

Ablauf der Ereignisse und ungünstige Einflussfaktoren

Einführung in den Unfallablauf

Die Costa Concordia befand sich zunächst auf der durch den 2. Offizier geplanten und durch den Kapitän geprüften Route von Civitavecchia in Richtung Savona. Allerdings enthielt die Route eine Abweichung, um das Schiff nahe an die Insel Giglio zu steuern und eine sogenannte "Verneigung" durchzuführen.

Dieses Manöver war einerseits eine Bitte des Restaurantmanagers, der auf der Insel Giglio geboren war. Der Kapitän wollte dadurch auch seinen Mentor und früheren Kapitän der Costa Concordia, der zum Zeitpunkt des Unglücks auf der Insel lebte, grüßen. Die Kursabweichung wurde mit dem 2. Offizier besprochen, der daraufhin eine neue Route in die nautischen Karten einzeichnete.   

Der durch den Kapitän vorgegebene Sicherheitsabstand zu einer kleinen Felsformation vor der Insel "Le Scole" sollte 0.5 NM betragen, rund 900 Meter.

 Abb. 04: Standard Route von Civitavecchia nach Savona, und die geplante Abweichung am 13. Januar 2012 [Quelle: Open Source Sea Map]



Abb. 04: Standard Route von Civitavecchia nach Savona, und die geplante Abweichung am 13. Januar 2012 [Quelle: Open Source Sea Map]

Allerdings kam die "Costa Concordia" auf ungefähr 100 Meter an die Felsformation heran. An dieser Stelle traf der Rumpf, der einen Tiefgang von ca. 8,3 Metern hatte, in einer Tiefe von 7,3 Metern auf felsigen Untergrund.

Abb. 05 und 06: Die Felsformation
Abb. 05 und 06: Die Felsformation "Le Scole" und der mögliche Kontaktpunkt der Costa Concordia mit dem Meeresboden [Quellen: Nautischen Karten IIM 74 (l.) und IT50074B (r.)]

Der Ausgang des Unglücks ist bekannt. Die Costa Concordia kam nach dem Kontakt mit dem Felsen nur rund 500 Meter nördlich des Hafens von Giglio mit erheblicher Schlagseite zu liegen und sank teilweise, nur durch den Untergrund noch über der Wasseroberfläche gehalten. Die Evakuation des Schiffes dauerte über sechs Stunden, anstatt der geplanten 80 Minuten.

Chronologie des Ablaufs

Nachfolgend werden die zeitlichen Abläufe des Unglücks der Costa Concordia am 13. Januar 2012 dargestellt. Die diensthabende Crew auf der Brücke an diesem Abend besteht aus dem 1. Offizier, dem 2. Offizier, dem 3. Offizier, einem Auszubildenden und dem Steuermann [Vgl. Ministry of Infrastructures and Transports 2012, S.27ff.].

Zeit

Handlung / Abläufe

19:18:00

Die Costa Concordia verlässt den Hafen Civitavecchia mit dem Ziel Savona. An Bord befinden sich 3206 Passagiere und 1023 Besatzungsmitglieder.

21:00:10

Das Schiff befindet sich jetzt ca. 14NM vor der Insel Giglio. Der Kurs beträgt 302° bei einer Geschwindigkeit von 15,8 Knoten.

21:03:00

Das Schiff beginnt nach links zu drehen.

21:11:35

Die Drehung ist beendet. Das Schiff läuft mit Kurs 279° und einer Geschwindigkeit von 16 Knoten direkt auf die Insel Giglio zu.

21:19:02

Der 1. Offizier kontaktiert den Kapitän, wie bei der Abfahrt angewiesen, per Telefon und informiert ihn, dass sich das Schiff ca. 6NM von Giglio entfernt befindet und sie ca. um 21:44 längs der Insel seien.

Aufgrund der geplanten Route und der gefahrenen Geschwindigkeit wird angenommen, dass das Schiff den geplanten Routenpunkt zum Drehen an der Insel Giglio um ca. 21:39 erreichen würde.

Anmerkung

Auf der Brücke befinden sich nun auch der Chief Purser, der Maitre und der Catering Service Manager.

21:34:36

Der Kapitän erscheint auf der Brücke und befiehlt dem Steuermann, den Auto Track Pilot zu deaktivieren und die Steuerung des Schiffes auf manuellen Betrieb zu schalten.

21:36:02

Der 1. Offizier weist den Steuermann an, auf Kurs 285° und dann eine Minute später auf Kurs 290° zu gehen.

21:36:35

Der Kapitän ordnet an, auf dem Schiffsradar einen Sicherheitsring mit einem Radius von 0,5NM einzustellen.

21:37:11

Der Kapitän führt ein Telefonat mit einer Person, die er über den sicheren Abstand zur Insel Giglio befragt und wo die Gewässer für das Schiff tief genug sind. Die Person antwortet, dass es bis zu einem Abstand von ca. 0,3 bis 0,4 NM sicher ist.

21:38:47

Der Kapitän beendet sein Telefonat.

21:39:14

Bei einem Kurs von 290° übernimmt der Kapitän das Kommando der Brückenwache.

21:39:30

Der Kapitän weist den Steuermann an, auf Kurs 300° zu drehen.

21:40:00

Der Kapitän weist an, die Geschwindigkeit auf 16 Knoten zu erhöhen und dann sanft auf Kurs 310° zu drehen.

Anmerkung

Zu diesem Zeitpunkt ist das Schiff noch immer auf dem geplanten Kurs. Der gefahrene Bogen führt das Schiff auf „Punta Capo Marino“ zu. Die Entfernung zur Insel ist 1,35 NM, die Geschwindigkeit beträgt 15,4 Knoten.

 

Der Kapitän gibt nun den Befehl an den Steuermann, nach Steuerbord (rechts) zu drehen. Dies geschieht aber in einem weiteren Radius als geplant. Das Schiff nähert sich weiter der Insel Giglio.

21:40:48

Der Kapitän gibt (auf Englisch) den Befehl „....325°....“, der Steuermann antwortet zur Bestätigung „...315°...“, der 1. Offizier schreitet zur Korrektur ein und gibt als Kurs „....335°...“ an. Der Kapitän wiederholt daraufhin seine Anweisung  mit „...325°...“, die der Steuermann dann korrekt bestätigt.

 

Das Schiff ist nun nur noch 0,5NM von der Küste entfernt. Der Sicherheitsring auf dem Radar berührt die Küstenlinie der Insel Giglio und wird deaktiviert.

21:42:07

Kurs 330° wird angeordnet und durch den Steuermann korrekt bestätigt.

21:42:40

Der Kapitän schickt den 2. Offizier auf den linken Ausguck. Die Geschwindigkeit des Schiffes beträgt 16 Knoten.

21:43:08

Kurs 335 wird angeordnet.

21:43:33

Kurs 340 wird angeordnet.

21:43:44

Die Geschwindigkeit beträgt 15,9 Knoten. Der Kapitän befiehlt (immer auf Englisch) Kurs „....350...“, der Steuermann antwortet inkorrekt mit  „...340...“ und der Befehl wird wiederholt. Die Anweisung wird mit Begriff „Starboard“ spezifiziert und davor gewarnt, das Schiff auf Grund zu setzen.

Anmerkung

Die Videoaufzeichnung auf der Brücke zeigt um 21:43:46 einen Ruderkurs von 327°.

21:44:05

Die Kurve des Schiffes ist noch nicht beendet. Es fährt mit einer Geschwindigkeit von 16 Knoten immer noch in Richtung „Le Scole“. Der Kurvenradius hat das Schiff 0,5NM südwestlich der eigentlich geplanten Route gebracht, also viel näher zur Küste als eigentlich geplant.

Anmerkung

Der Kapitän beginnt nun die Befehle für Kursänderungen nicht mehr mit dem gewünschten Kurs, sondern mit Ruderwinkel zu geben.

21:44:11

„Starboard 10“ – 10 Grad Steuerbord (rechts)

21:44:15

„Starboard 20“ – 20 Grad Steuerbord (rechts)

21:44:20

„Hard to Starboard“ – Voller Ruderausschlag Steuerbord

21:44:36

Die Mitte des Schiffes ist weniger als 150 Meter von den Felsen entfernt. Das Schiff ist nun 809 Meter vom geplanten Kurs abgewichen.

21:44:43

„Port 10“ – 10 Grad Backbord (links), der Steuermann steuert aber nur 5 Grad nach links.

21:44:45

„Port 20“ – 20 Grad Backbord, nach diesem Befehl steuert der Steuermann fälschlicherweise wieder nach rechts, erkennt seinen Fehler und korrigiert. Diese Korrektur dauerte ca. 8 Sekunden.

21:45:05

„Hard to Port“ – Ruder hard Backbord. Dies wird korrekt ausgeführt. Der 2. Offizier aus dem linken Ausguck warnt den Kapitän, dass die linke Seite des Schiffes auf Grund läuft.

21:45:07

Ein lautes Geräusch ertönt und das Schiff kollidiert mit dem „Le Scole“ Felsen. Die Geschwindigkeit fällt auf 8,3 Knoten und das Schiff hält den Kurs 350°.

 

Der Kapitän realisiert die Kollision mit dem Felsen. Er ordnet das Schließen der Schotts und aller wasserdichten Türen an.

21:45:33

Der Kapitän befiehlt dem Steuermann volles Ruder nach links zu geben und nach einem erneuten Missverständnis zwischen ihm, dem Steuermann und dem 1. Offizier wird der Befehl ausgeführt.

21:45:48

Der Kapitän ordnet an, den Autopiloten mit dem Ruder in neutraler Geradeausstellung einzuschalten.

21:45:58

Es kommt zum Black Out auf der Brücke. Das Ruder und die Pumpen haben keinen Strom mehr.

An diesem Punkt nimmt die Tragödie ihren Lauf. Das Schiff ist ab 21:45:58 zu keinem Zeitpunkt mehr in irgendeiner Art und Weise manövrierfähig. Die finale Lage auf dem Felsen der Insel Giglio kam ausschließlich durch die vorherrschenden Windbedingungen und die zufällige Ruderstellung (voll Steuerbord) an diesem Abend zustande.

Analyse der unsicheren Handlungen und Einflussfaktoren

Das London Protokoll identifiziert nach der Ermittlung des chronologischen Ablaufs die unsicheren Handlungen und deren Einflussfaktoren, um die Schwächen des Systems aufzudecken: 

 

Zeit

Ereignis

Unsichere Handlungen

Einflussfaktoren

1

Vor dem Auslaufen

Änderung der originalen Route

Die Änderung der Route erfolgte auf Nachfrage des Restaurantmanagers. Der Kapitän kam diesem Wunsch nach und änderte die geplante Route, um nahe an der Insel Giglio vorbeizufahren. Siehe 4.1

Organisation und Management Faktor,

Individueller Faktor

2

Ab 21:11

Mangelnde Planung der Route

Die zur Planung genutzten Karten waren ungeeignet. Die Route wurde nicht nach geltenden Vorschriften geplant. Siehe 4.2

Verfahrensfaktor

Individueller Faktor

3

Ab 21:19

Brückenteam Verhalten

Das Brückenteam demonstrierte kein effizientes Verhalten. Vorhandene Ressourcen wurden nicht genutzt. Die Kommunikation war unzureichend. Siehe 4.3

Individueller Faktor

Team Faktor

4

Ab 21:39

Steuerung des Schiffes

Bei der Steuerung des Schiffes wurden elementare Fehler begangen. Der geplante Sicherheitsabstand wurde dabei unterschritten. Das Schiff lief um 21:45:07 auf den Felsen „Le Scole“ auf Grund. Siehe 4.4

Individueller Faktor

Team Faktor

Umwelt Faktor

5

Ab 21:34

Verhalten des Kapitäns

Der Kapitän war nicht in der Lage, sein Team oder das Schiff sicher zu führen.

Siehe 4.5

Individueller Faktor

Management Faktor


Die wichtigsten Fehler

1. Änderung der originalen Route

Der erste fehlerhafte Vorgang war die Absicht des Kapitäns, die normale Route so zu ändern, dass die Insel Giglio in einer nahen Vorbeifahrt passiert wurde. Dieses Vorgehen war weder mit den Verantwortlichen vor Ort, noch mit der Reederei koordiniert. Der frühere Mentor des Kapitäns, der auf der Insel wohnt, beschreibt diese Art von Navigation als "touristische Navigation", die regelmäßig Teil des Kreuzfahrtprogramms für die Passagiere und Personen an Land war. Der Mentor des Kapitäns gibt auch an, dass diese Vorbeifahrten eigentlich mit einer weitaus geringeren Geschwindigkeit (nur rund 5 Knoten) durchgeführt würden und immer mit den Verantwortlichen vor Ort abgestimmt wären. Diese Aussage impliziert, dass diese Vorgehensweise, wenn auch nicht ausdrücklich durch offizielle Verfahren belegt, durchaus ein gängiges Verfahren darstellte. Für den Kapitän war die Änderung der Route also eine Routinetätigkeit, die schon öfters durchgeführt wurde.

Die Entscheidung des Kapitäns, diese Kursabweichung durchzuführen, geschah auf Anfrage des Restaurantmanagers. Dieser Bitte hat der Kapitän umso mehr nachgegeben, als er die Abweichung mit der Chance verband, seinem Mentor auf der Insel eine besondere Ehre zu erweisen. Da die Vorbeifahrt für den Kapitän eine gängige Praxis darstellte, erschien ihm das Risiko der Durchführung auch als äußerst gering oder sogar gar nicht vorhanden. Dieser individuelle Fehler der Routenänderung wird zusätzlich indirekt durch die Organisation und das Management begünstigt, weil vorherige ähnliche Manöver geduldet oder sogar erwünscht waren.

2. Mangelnde Planung der Route

Der zweite fehlerhafte Vorgang war die mangelnde Planung und Überwachung der veränderten Route. Nach Angabe des Sicherheitsoffiziers an Bord, der kurz nach der Kollision mit dem Felsen die Brücke betrat, wurde die ursprüngliche "normale" Route auf der Navigationskarte eingezeichnet. Die Kursabweichung war nur auf einer anderen Karte n.6 Maßstab 1:100.000 eingezeichnet, basierend auf einem Navigationspunkt weit südlich der geplanten Route. Diese Tatsche weist auf die ungenügende Planung der Kursabweichung hin. Die neue Route wurde zwar in das INS (Inertia Navigation System) programmiert, jedoch muss jeder Kurs auch in die Papierkarte eingezeichnet werden, da diese die Hauptnavigationsgrundlage darstellt. Die Tatsache, dass die sehr detaillierten Karten n.119 Maßstab 1:20.000 und n.74 Maßstab 1:5.000 für die Planung zur Verfügung standen, aber nicht genutzt wurden, verdeutlicht die mangelnde Sorgfalt bei der Routenplanung.

Die Routenplanung ist die Aufgabe des Planungsoffiziers, der sich vor dem Auslaufen in Civitavecchia mit dem Kapitän traf, um die Kursabweichung zu besprechen. Bei diesem Treffen wurde durch Anraten des Planungsoffiziers vom Kapitän ebenfalls der Sicherheitsabstand von 0,5 NM zur Insel Giglio festgelegt. Dieser Sicherheitsabstand ist ein kritischer Punkt bei der Planung von Fahrten in Küstennähe. Die Untersuchungen ergaben, dass dieser Sicherheitsabstand nicht auf die "Go – NoGo Linie" (entspricht der 10 Meter Tiefenlinie) berechnet wurde. Zudem wurde ein ungeeigneter Navigationspunkt für den gewünschten Sicherheitsabstand gewählt. Statt als Bezugspunkt für das Einleiten der Kurve den Felsen nahe der Stadt Giglio zu nutzen (gut sichtbar durch beleuchtete Stadt), wurde als Referenzpunkt in der Mitte des "Le Scole" Felsens eine nicht sehr prägnante Stelle innerhalb der Küste gewählt (Punta del Faro, fast unbewohntes Gebiet, mit wenig Beleuchtung). Dieser war auf der benutzten Karte n.6 Maßstab 1:100.000 kaum sichtbar. 
                              
Abb. 07: Karte (Chart n.6 IIM 1:100.000), die zur Planung der Kursabweichung benutzt wurde. Details, oder gar Hindernisse unter Wasser sind nicht zu erkennen [Quelle: Nautische Karten IIM, Genova]
Abb. 07: Karte (Chart n.6 IIM 1:100.000), die zur Planung der Kursabweichung benutzt wurde. Details, oder gar Hindernisse unter Wasser sind nicht zu erkennen [Quelle: Nautische Karten IIM, Genova]

Diese mangelnde Planung wurde durch den Kapitän akzeptiert. Die Art der Planung lässt darauf schließen, dass die Routenänderung bei der Planung nicht als große Herausforderung und Risiko gesehen wurde, deshalb wurde vermutlich auch auf die nötige Sorgfalt verzichtet.

3. Brückenteamverhalten

Das Brückenteamverhalten ist im Bereich des BRM (Bridge Resource Managements) (BRM) anzusiedeln. BRM in der Schifffahrt ist vergleichbar mit dem CRM (Crew Resource Management) in der Luftfahrt. Es ist anzumerken, dass diese Ausbildung in der Schifffahrt im Gegensatz zur Luftfahrt (noch) nicht vorgeschrieben ist. Dem Kapitän fällt in der Rolle als Teamleader eine besondere Verantwortung zu. Demonstriert er entsprechende Fähigkeiten, trägt dies direkt zum Gelingen eines effektiven BRMs bei.

Der Kapitän erschien erst kurz vor dem Manöver auf der Brücke. Das Schiff war zu diesem Zeitpunkt rund 5 NM von der Insel Giglio entfernt. Diese Tatsache lässt Rückschlüsse auf die subjektive Risikoeinschätzung des Kapitäns zu. Anscheinend war die Kursabweichung für ihn keine große seemännische Herausforderung.

Auf der Brücke fanden keine formelle Kommandoübergabe und kein Briefing für den Kapitän statt. Die Übergabe zwischen dem Kapitän und dem 1. Offizier war unkorrekt und unzureichend. Nicht alle Besatzungsmitglieder auf der Brücke waren überhaupt in die Pläne des Kapitäns eingeweiht. Auch während des Manövers wurde der Informationsaustausch nicht verbessert. Die Anwesenheit des Restaurantpersonals auf der Brücke hat vermutlich zu einem nicht optimalen Teamverhalten geführt und lenkte den Kapitän unnötig ab. Der Kapitän übernahm erst unmittelbar vor dem Manöver die Kontrolle über das Schiff. Dabei fand keine ausreichende Kommunikation über die aktuelle Situation des Schiffes mit dem "Safety Officer of the Watch" (SOOW) statt. Obwohl die neue Route durch den SOOW nur mangelhaft verfolgt wurde, scheint es, als hätte der SOOW eine durchaus andere Risikoeinschätzung der Situation. Er versuchte einmal kurz mit einer Kurskorrektur nach Steuerbord einzugreifen, wurde aber durch den Kapitän überstimmt (21:40:48 Uhr). Dies führte schließlich zur Halbierung des eigentlich geplanten Sicherheitsabstandes von 0,5NM auf nur 0,25NM.

                     
Abb. 08: Simulation des IMO Marine Safety Commitee (MSC). Die durch den SOOW geforderte Kurskorrektur hätte um 21:37 erfolgen müssen, um das Schiff in einem Radius von 2NM bei einer Geschwindigkeit von 15,4 Knoten in einem Abstand von 0,5 NM (also wie geplant) an der Insel Giglio vorbei zu führen. Die gebogene Kurslinie stellt den hypothetischen Kurs der eingeleiteten Kurve dar. Die gerade Linie zeigt den momentanen Kurs des Schiffes um 21:37. Der Kreis symbolisiert den 0,5NM Sicherheitsring.
Abb. 08: Simulation des IMO Marine Safety Commitee (MSC). Die durch den SOOW geforderte Kurskorrektur hätte um 21:37 erfolgen müssen, um das Schiff in einem Radius von 2NM bei einer Geschwindigkeit von 15,4 Knoten in einem Abstand von 0,5 NM (also wie geplant) an der Insel Giglio vorbei zu führen. Die gebogene Kurslinie stellt den hypothetischen Kurs der eingeleiteten Kurve dar. Die gerade Linie zeigt den momentanen Kurs des Schiffes um 21:37. Der Kreis symbolisiert den 0,5NM Sicherheitsring.

Die personelle Stärke der Brückenbesatzung war mehr als ausreichend, um alle benötigten Aufgaben zur Navigation des Schiffes zu bewältigen. Trotzdem war niemand in der Lage, die dazu erforderliche situative Aufmerksamkeit (beispielsweise Schiffslenkung, Überprüfung der Schiffsposition, Ausguck) zu erhalten.

Keiner der verantwortlichen Offiziere auf der Brücke erkannte die Gefahr und die mangelnde Navigation bis zur Kollision mit dem Felsen. Generell war das Teamverhalten eher passiver Natur, obwohl innerhalb der Brückenbesatzung Bedenken bezüglich der Routenabweichung bestanden. Keiner der Offiziere sah sich gezwungen einzugreifen. Die Kommunikation zwischen den Offizieren war unzureichend, da weder eine Übergabe stattfand, noch klare Kommandos gegeben wurden. Zudem wich der Kapitän in der kritischen Phase der Navigation von der eigentlich verwendeten Schiffssprache Italienisch ab und gab seine Steuerbefehle in Englisch.

4. Steuerung des Schiffes

Der vierte Fehler betrifft die direkte Führung und Steuerung des Schiffes. Es war der entscheidende Fehler in der Kette der Ereignisse. Die nach den begangenen Fehlern noch vorhandenen Barrieren (INS-Navigationssystem) wurden teils außer Kraft gesetzt.

Das Ziel des Kapitäns war es, in einem kontrollierten, aber weiten Bogen sehr nahe bei Giglio vorbeizufahren. Allerdings wurde die Kurve zu spät eingeleitet. Auch die Befehle des Kapitäns an den Steuermann mit Kursanweisungen, anstatt der in diesem Fall besser geeigneten Ruderstellung, trugen zur Verzögerung von Kursänderungen und zu Missverständnissen bei. Die zur Kommunikation genutzte Sprache war zudem nicht wie in der Bordanweisung vorgeschrieben Italienisch, sondern erfolgte in Englisch. Als sich im Zuge des Manövers abzeichnete, dass der Sicherheitsabstand von 0,5NM unterschritten werden würde, führte das nicht zu einer direkten Korrektur der Navigation. Der Kapitän verließ sich offensichtlich auf seine visuelle Wahrnehmung. Er hatte zudem Schwierigkeiten, die Informationen des Radarschirms in vollem Umfang zu interpretieren, da er seine Lesebrille nicht trug. Die Bordsysteme zur Navigation des Schiffes wurden unangemessen oder fehlerhaft benutzt bzw. teilweise deaktiviert. Der Kapitän änderte den Kurs mit einem zu kleinen Ruderwinkel, dies bei einer viel zu hohen Geschwindigkeit von 16 Knoten. Erst als er den Felsen von Le Scole visuell identifizierte reagierte er mit dem Befehl hart Steuerbord.

Das Ergebnis der schlechten Routenplanung endet in Kombination mit der mangelnden Navigation, Kommunikation und Ablenkung durch das Restaurantpersonal auf der Brücke fast zwangsläufig auf dem Felsen. Auch am Morgen nach dem Unfall zeigte sich der Kapitän über die Existenz des Felsens immer noch überrascht.

Die Navigation nach Sicht war für die vorherrschenden Umweltbedingungen (Nacht) ungeeignet. Die Brücke ist vollständig von Glasfenstern umschlossen. Es war von dort nicht möglich, visuell im Freien nach Hindernissen zu suchen. Zusätzlich erschweren die Lichtverhältnisse von innen (Beleuchtung der Brücke) nach außen (Dunkelheit) die Augenadaption des Brückenbesatzung und des Kapitäns. Das Telefonat des Kapitäns, das nichts mit der unmittelbaren Navigation des Schiffes zu tun hatte, war ein letzter Fehler, der zum Unfall beitrug.
Der Aufprall auf den Felsen hätte sogar bis 30 Sekunden vor dem Kontakt noch verhindert werden können, wenn dann hart auf Kurs 335 gesteuert worden wäre. Auch diese Tatsache spricht dafür, dass kein adäquates Situationsbewusstsein vorlag.

5. Verhalten des Kapitäns

Nach der ersten Analyse der Vorgänge an Bord der Costa Concordia bis zum Unfall ist es unschwer zu erkennen, dass der Kapitän eine zentrale Rolle innerhalb der Fehlerkette einnimmt. Das ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass er ohnehin die offizielle Verantwortung für das Schiff und die 4.229 Menschen an Bord hatte. Vielmehr hat er mehrere falsche oder keine Entscheidungen getroffen bis zum Aufsetzen des Schiffes auf dem Felsen. Der Kapitän ist an allen Fehlern der Kette bis zum Ende eine zentral beteiligte Figur. Dies beginnt mit der Entscheidung über die Vorbeifahrt an der Insel, und endet mit mangelhafter Steuerung des Schiffes und der zu hohen Geschwindigkeit bis zum Aufprall auf den Felsen.

Die neue Route war korrekt in das INS programmiert worden. Hätte man den Autopiloten das Schiff steuern lassen, wäre das Schiff in 0,5NM Abstand an Giglio vorbeigefahren. Warum der Kapitän den Autopiloten deaktivieren ließ, ist schwer nachzuvollziehen. Vielleicht war er der Meinung, so eine bessere Kontrolle über das Schiff zu haben. Vertraute er dem Autopiloten nicht? Vielleicht war es aber auch an Bord der Costa Concordia gängige Praxis, den Autopiloten nicht zu benutzen. Fehlte hier nur das Vertrauen in die Technik, obwohl diese an anderer Stelle (INS Navigation) durchaus eingesetzt wurde (vor manueller Routenplanung auf Papierkarten)? Oder war der Kapitän "Old School"? – er wollte das Schiff in dieser Phase unbedingt selbst steuern, um vor seinen Gästen seine seemännische Kompetenz zu beweisen.

Die Untersuchung ergab, dass der Kapitän schon öfters Vorbeifahrten dieser Art erfolgreich durchgeführt hatte. Diese regelmäßigen Verstöße gegen bestehende Regeln und Verfahren bezeugen ein ungenügendes Risikobewusstsein. Der Kapitän war sich der Gefahr nicht bewusst. Das wird allein dadurch unterstrichen, dass er erst kurz vor dem Ereignis die Brücke betrat. Danach verletzte er Verfahren und Vorschriften. Betrachtet man die Aktionen des Kapitäns genauer, werden zwei weitere Fehler besonders sichtbar: Die Beibehaltung einer zu hohen Geschwindigkeit (16 Knoten) bei Nacht in unmittelbarer Nähe der Küstenlinie und das Übersteuern des Versuchs des SOOW, korrigierend in die Navigation einzugreifen.

6. Versagen von Abwehrmechanismen

In derart komplexen Arbeitsabläufen sind in der Regel immer zahlreiche Abwehrmechanismen bzw. Barrieren installiert, die dafür sorgen sollen, einen potentiellen Unfall nach Versagen vorheriger Ebenen zu verhindern. Solche Abwehrmechanismen waren auch an Bord der Costa Concordia vorhanden. In dieser Nacht hätten folgende Abwehrmechanismen für die küstennahe Navigation der Costa Concordia beachtet werden müssen:

  • Verfahren zur Durchführung von Routenplanung und Überwachung – Es existieren genau beschriebene Verfahren (IMO 1999) darüber, wie Routen zu planen sind, welche Sicherheitsabstände eingehalten werden müssen, wie diese zu dokumentieren sind oder welche Mittel als primäre Planungs- / Navigationsmittel zugelassen sind. Zusätzlich existieren bei der Navigation in Nähe von Hindernissen oder anderen Schiffen genaue Vorschriften, wie der Kurs des Schiffes zu überwachen ist, und welche Positionen an Bord des Schiffes zur Überwachung durch Personal besetzt sein müssen.
  • Das GPS gestützte Integrated Navigation System (INS) – Dieses wird dazu genutzt, die Navigation auf den Papierkarten zu unterstützen. Die Funktionen dieses Systems beinhalten auch eine kontinuierliche Positionsbestimmung durch das GPS und eine Projektion der Schiffsposition auf eine elektronische Karte. Außerdem sind verschiedene Alarmfunktionen und Anzeigen zur Navigationshilfe programmierbar. Der SOOW ist für das Management dieses Gerätes verantwortlich, hat dieses aber nicht genutzt.
  • Der Autopilot des Schiffes ("Track Pilot") – Diese Funktion, die in das INS integriert ist, hält das Schiff präzise auf einem vorher definierten Kurs. Die dabei einzuhaltenden Limitierungen werden durch den SOOW festgelegt. Die Genauigkeit des Systems basiert auf den vorhandenen GPS Daten und anderen Navigationssensoren des Schiffes.


Betrachtet man diese Fehler, stellt man schnell fest, dass bei Einhaltung oder korrekter Funktion nur eines einzelnen dieser Punkte, der Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre.

Zusammenfassung: Die menschlichen Fehler in dieser Nacht

Die Leistung und das Verhalten des Brückenteams waren fehlerhaft. Es befand sich in einer passiven Rolle, wurde verschiedentlich abgelenkt und nahm nachts und in Küstennähe eine erhöhte Sorgfaltspflicht nicht wahr.

  • Das Brückenteam stand der Vorbeifahrt ablehnend gegenüber und sah durchaus ein erhöhtes Risiko in dem Manöver. Trotzdem kam niemand in ausreichendem Maße seinen normalen Aufgaben nach oder zeigte eine erhöhte Aufmerksamkeit.
  • Der Kurs des Schiffes wurde nicht überwacht. Niemand im Brückenteam warnte den Kapitän vor der sich schnell nähernden Küste.
  • Die Ablehnung der versuchten Kurskorrektur des SOOW durch den Kapitän in letzter Sekunde führte zur Resignation.  
  • Die vorherrschende Führungskultur und die Autorität des Kapitäns mögen dafür verantwortlich sein, dass nur ein halbherziger Versuch unternommen wurde, in die Steuerführung des Schiffes korrigierend einzugreifen.  


Negative menschliche Verhaltensweisen:

  • Show Syndrom beim Kapitän – Er wollte durch die spektakuläre Vorbeifahrt den Wunsch des Restaurantmanagers erfüllen und seinen Mentor beeindrucken.
  • Fehlende Disziplin – Das Einhalten von Regeln und Vorschriften dient zum Schutz der Menschen im System. Das ist nicht immer einfach zu erkennen.


Führungsverhalten:

  • Der Kapitän führte keine korrekte Übergabe durch.
  • Mangelnde Führung durch den Kapitän – geltende Vorschriften zur Kursplanung wurden nicht eingehalten.
  • Personal wurde nicht für entsprechende Aufgaben während des Manövers eingeteilt.
  • Steuerung des Schiffes per Hand und nicht per Autopilot nach Anweisung des Kapitäns.   


Entscheidungsfindung:

  • Entscheidung zur Vorbeifahrt basierte nur auf emotionalen Gründen und hatte keinen erkennbaren Nutzen, außer dem der Selbstdarstellung.
  • Zögerliche Entscheidungen in der letzten Navigationsphase. Diese führte zu unangemessenen Steuerbefehlen.
  • Eingesetzte "go-nogo" Kriterien (Sicherheitsabstand) wurden unterschritten und ignoriert. Es erfolgte keine rechtzeitige Kurskorrektur. 


Teamverhalten:

  • Passives Teamverhalten.
  • Keine Warnung an den Kapitän während des gesamten Vorganges.
  • Obwohl sich einzelne Mitglieder des Brückenteams über das erhöhte Risiko bewusst waren und das geplante Manöver nicht guthießen, wurden keine Handlungen angestrebt, das Risiko zu kontrollieren.
  • Kein Brückenmitglied nahm aus eigenem Antrieb heraus seine eigentlichen Aufgaben war.


Mangelndes Situationsbewusstsein:

  • Die angenommene Lage der Situation stimmte nicht mit der realen Welt überein.
  • Das Schiff wurde nicht entsprechend den Umweltbedingungen manövriert.
  • Bordeigene Mittel zur Navigation des Schiffes und zur Positionsbestimmung wurden nicht entsprechend genutzt.
  • Durch das mangelnde Situationsbewusstsein konnte keine objektive Risikobeurteilung stattfinden.
  • Das Risiko der Vorbeifahrt wurde durch den Kapitän völlig unterschätzt. 


Mangelnde Kommunikation:

  • Schiffssprache Italienisch wurde in der kritischen Navigationsphase nicht benutzt.
  • Verbales Kommunikationsproblem mit dem Steuermann durch Verwendung von Englisch anstelle von Italienisch.
  • Kommunikation innerhalb der Brückenbesatzung nur unzureichend. Keine Warnungen oder Sorgen wurden kommuniziert.  



Schlussfolgerungen

Allgemeines: Risikomanagement als Führungsaufgabe

Nach Analyse der Vorgänge, die zum Unfall der Costa Concordia am 13. Januar 2012 führten, wurde im offiziellen Untersuchungsbericht festgestellt, dass die Hauptursache der Havarie der Costa Concordia in den Humanfaktoren, insbesondere in der Wahrnehmung der Aufgaben und Sorgfalt von Kapitän und Brückenteam liegt.

Aus der Sicht der Systemanalyse des London Protokolls werden die begangenen Fehler besonders gut sichtbar. Auch wenn die Hauptursache des Unfalls im Bereich des menschlichen Verhaltens einzuordnen ist, so hat die Organisation durch verschiedene Rahmenbedingungen zugelassen, dass sich eine Kultur entwickeln konnte, in der Regeln und Vorschriften situationsbedingt angepasst oder abgeändert werden konnten, ohne dass es bis zur Katastrophe irgendwelche negativen Auswirkungen gehabt hätte. Ein Kapitän hat die alleinige Verantwortung und Macht über sein Schiff. Es gab keinerlei Kontrollorgane, die in irgendeiner Art und Weise diese Machtkonzentration hätten entschärfen können. So entstand über die Jahre eine Kultur mit niedrigen Sicherheits- und Risikobewusstsein, die sich ihre Regeln selber zurechtlegte. Es gab keinerlei übergeordnete Kontrolle durch die Organisation. Durch geduldete Abweichungen von Verfahren oder ähnlicher Manöver wie das, das zum Unfall führte, beeinflusste die Organisation unbewusst das Entstehen einer solchen Kultur. Insofern trägt die Carnival Cruises Corporation durchaus eine tragende Verantwortung innerhalb der Fehlerkette. Es bleibt zu hoffen, dass der Strafprozess diesem Umstand gebührend Rechnung trägt.

Ergänzend zum offiziellen Untersuchungsbericht können folgende Maßnahmen als Sofortmaßnahmen und als längerfristige Maßnahmen aufgeführt werden:  

Sofortmaßnahmen

 

Maßnahmen

1.

Verbot von Routenänderungen zur Durchführung von Vorbeifahrten von Kreuzfahrtschiffen zu Zwecken touristischer Attraktion o.ä.

2.

Einführung eines genau definierten Prozesses zur Routenplanung und Genehmigung. Routenplanungen werden vor Auslaufen des Schiffes an die Organisation zur Prüfung und Genehmigung übersandt. Eine willkürliche Änderung danach ist nicht zulässig.

3.

Einführung von geeigneten Kontrollinstrumenten auf Stufe der Reederei zur Überwachung der Routenplanung und Verfolgung der tatsächlichen Route der reedereieigenen Schiffe.

4.

Einführung eines mit Bordsystemen vernetzten Sicherheitssystems, das bei gefährlichen Situationen oder Annäherungen in der Sicherheitszentrale der Organisation für eine Alarmierung sorgt.

5.

Speicherung der Dokumentation von Routenplanungen in geeignetem Archiv.

 

Langfristigere Maßnahmen

 

Maßnahmen

1.

Einführung der Bridge Resource Management (BRM) Ausbildung.

Jedes Mitglied einer Schifffahrtbesatzung muss eine BRM Ausbildung abgeschlossen haben. Inhalte der Ausbildung  werden gestaffelt nach Kapitänen und Offizieren. Inhalte:

Teamverhalten und Leadershiptraining

Zusätzlich für Kapitäne: BRM Ausbilder Kurs

Anderes Personal: BRM Grundlagenkurs

2.

Einführung eines Safety Management Systems in der Organisation der Reederei nach Vorbild der Luftfahrt und nach den Anforderungen des Risikomanagements:

Festlegen einer Sicherheitsstrategie und Risikomanagement-Politik

Einführung von Risikoanalysen als integraler Bestandteil der Operationsplanung

Einführung eines aktiven Incident Reporting Systems und freiwilligen Fehlermeldesystems.

Aktive Forcierung von Sicherheitsstandards durch die Organisationsführung.

Vorgehen:

Stufe 1: Einführungsphase

Stufe 2: Operationsphase

Stufe 3: Volle Funktion und Effizienz

Stufe 4: Regelmäßige und unabhängige Systembewertung und -Verbesserung

3.

Ausbildung von Schifffahrtsbesatzungen:

Anpassung der Ausbildung für Besatzungsmitglieder zur vollen Nutzung der Funktionen der vorhandenen technischen Systeme  

4.

Anpassung der Auswahlkriterien für Schifffahrtbesatzungen:

Genauere Definition und Festlegung von Anforderungsprofilen für Personal auf wichtigen Positionen.

5.

Durchführung von regelmäßigen Überprüfungen von Personal:

Nach Vorbild der Überprüfungen von Luftfahrtbesatzungen (Line Oriented Safety Audits - LOSA) wird empfohlen, in regelmäßigen Abständen Überprüfungen von Schifffahrtbesatzungen durchzuführen (1 mal pro Jahr)

6.

Durchführung von regelmäßigen (jährlichen) Sicherheits-Audits auf Kreuzfahrtschiffen unter normalen Operationsbedingungen durch externe Experten und interne Auditoren (zum Beispiel Kapitäne anderer Schiffe der Reederei)

  

Autoren:

Bruno Brühwiler ist Geschäftsführer der Euro Risk AG in Zürich, Professor für Risikomanagement an der Technischen Hochschule Deggendorf und Vorsitzender ISO TC 262 WG Bruno Brühwiler ist Geschäftsführer der Euro Risk AG in Zürich, Professor für Risikomanagement an der Technischen Hochschule Deggendorf und Vorsitzender ISO TC 262 WG "Core risk management standards".

 

  

  

Christian Rode ist Head of Aviation Services der Firma MARServices in Haag (bei München), er war Kampfflugzeugpilot und Fluglehrer, zuletzt zuständig für die Ausbildung in Christian Rode ist Head of Aviation Services der Firma MARServices in Haag (bei München), er war Kampfflugzeugpilot und Fluglehrer, zuletzt zuständig für die Ausbildung in "Human Factors" der Bundeswehr und Flugsicherheitsstabsoffizier des Luftwaffenführungskommandos.   




 

 

   

Quellenverzeichnis sowie weiterführende Literaturangaben:

Austrian Standards (2014): ONR 4900x:2014 Risikomanagement für Organisationen und Systeme, Umsetzung der ISO 31000 in die Praxis, Wien 2014.

Brühwiler, Bruno 2011): Risikomanagement als Führungsaufgabe, Bern, Stuttgart, Wien, 3. Aufl. 2011.

International Civil Aviation Organization, ICAO (2002): LOSA, Doc 9803-AN761.

International Maritime Organization, IMO (2011): Report of the Correspondence Group on e-navigation to the Sub-Committee on Safety on Navigation, NAV 57/6.

International Standard Organization (2009): ISO 31000:2009 Risk management – Principles and guidelines.

Ministry of Infrastructures and Transports (2012): Marine Casualties Investigative Body, Cruise Ship Costa Concordia, Marine Casualty on January 13, 2012, Report on the safety technical investigation.

Reason, James (1997): Managing the risks of organizational accidents, Ashgate 1997.

SAM Electronics: NACOS Operator Manuals (Multipilot 1100 and Chartpilot 1100)

Sidney, Dekker (2001): The Field Guide to Human Error Investigations, Ashgate 2001.

Taylor-Adams, S./Vincent, Ch. (1998): System analysis of clinical incidents. The London protocol. Clinical Safety Research Unit. Imperial College London. Department of Surgical Oncology and Technology. London 1998.

Tyler, David (2012): Costa Concordia Aftermath, "When is it ok, to challenge a Captains decision?" Professional Maritime Journal 2012
.

Internetquellen:

de.wikipedia.org/wiki/Costa_Concordia, März 2014;


www.google.ch; März 2014

 

Verwendete Abkürzungen:

BRM

Bridge Resource Management

CRM

Crew Resource Management

GPS

Global Positioning System

IIM

Istituto Idrografico della Marina, Genova

IMO

International Maritime Organization

INS

Integrated Navigation System

ISO

International Standards Organization

LOSA

Line Oriented Safety Audit

MSC

Marine Safety Committee

n.

Nummer

NM

Nautische Meile = 1.852 Km

ONR

Abkürzung für Regelwerk des Österreichischen Normungsinstituts

SOOW

Safety Officer of the Watch

TC

Technical Committee

WG

Working Group

 


[Bildquelle oben: © biancia - Fotolia.com]

Kommentare zu diesem Beitrag

Fred /04.04.2014 09:25
Exzellente Analyse der Concordia-Katastrophe. Ich kannte bisher nur die einseitige Berichterstattung aus den Medien. Danke!
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