"In dieser Welt ist nichts gewiss, außer dem Tod und den Steuern", schrieb der US-Staatsmann Benjamin Franklin bereits 1789, am Vorabend der Französischen Revolution. Das gilt – mit Sicherheit – auch heute noch. Alles andere im Leben bleibt jedoch ungewiss. Dennoch gehen Menschen nach wie vor nicht gerne mit Ungewissheit um. Viele streben ängstlich nach Gewissheiten, die es nicht gibt. Diese Sehnsucht nach Gewissheit ist Teil unseres emotionalen und kulturellen Erbes: Menschen suchen Trost in Religion, Astrologie und Weissagung, die einem Gewissheiten anbieten, die es eigentlich nicht gibt.
Heute haben viele Menschen das Gefühl, in den unsichersten Zeiten überhaupt zu leben. Das Gegenteil ist richtig, gerade in Europa – trotz der Finanz- und anderer gegenwärtiger Krisen. Während die Generation meiner Großeltern noch einen Weltkrieg miterlebt hat – Hunger, Flucht, Gewalt –, ist unsere körperliche Unversehrtheit heute so sicher wie noch nie zuvor. Gleichzeitig scheint immer weniger akzeptiert zu werden, dass die Welt trotz zunehmender Sicherheit immer eine riskante, ungewisse bleiben wird. So werden Kinder heute durchgeplant, von der Zeugung bis zu einem vollem Kursprogramm ab der Geburt. Und wehe, Ihr Kind sitzt einmal ohne Helm auf dem Fahrrad. Da war meine Kindheit riskanter und ungeplanter, und die meiner Eltern erst recht.
Das könnte an dem Eindruck liegen, heute alles kontrollieren und berechnen zu können, und das daher auch tun zu müssen. Doch der Eindruck der Berechenbarkeit ist natürlich eine Illusion. Umso mehr lassen wir uns dann verunsichern, wenn sich etwas einmal als unberechenbar erweist.
Unsicherheit im Umgang mit Unsicherheit – und ihre Folgen
Diese Unsicherheit im Umgang mit der Unsicherheit ist in der heutigen technologischen Gesellschaft zu einem Problem geworden. Wir werden immer wieder wellenartig von Angst erfasst und verfallen in Aktionismus. Wer erinnert sich nicht an apokalyptische Computerabsturzszenarien durch die Zeitumstellung aufs Jahr 2000? Letztlich wurde durch Y2K zwar kein versehentlicher Atomkrieg ausgelöst, aber immerhin fielen einige Spielautomaten aus. Kurz darauf dann, in den frühen 2000ern, BSE und der Rinderwahn. Zwei Minister mussten zurücktreten, weil sie falsche Sicherheit vorgegaukelt hatten. Stichwort: "Deutsches Rindfleisch ist sicher." Und wir? Wir haben eben weniger Rindfleisch gegessen, bis die infizierten Kühe wieder aus den Medien verschwunden waren. Bei der Vogelgrippe war anfangs jeder tote Vogel auf der Titelseite, dazu Menschen in Schutzanzügen. Gegen die Schweinegrippe haben wir für viele Millionen Euro Impfdosen gekauft und die meisten nicht gebraucht. Später kam noch EHEC, und die Behörden haben vor Salat gewarnt.
Trotz wellenartiger Angstschübe sind all diese Bedrohungen zum Glück recht glimpflich ausgegangen. Das soll nicht heißen, dass sie keine Aufmerksamkeit verdient hätten oder nicht untersucht werden sollten. Auch geht es nicht darum, die Ängste der Menschen als abwegig und irrational darzustellen. Vielmehr müssen wir verstehen, warum Menschen vor bestimmten Risiken mehr Angst haben als vor anderen, um mit diesen Ängsten richtig umgehen zu können.
Denn Ängste können ihrerseits zu einem Sicherheitsrisiko werden, wie sich beispielsweise nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 zeigte. Etwa 3.000 Menschen haben bei diesen Terroranschlägen ihr Leben verloren, darunter die 256 Passagiere der entführten Flugzeuge. Es folgte der sogenannte Krieg gegen den Terror und eine Ausweitung staatlicher Überwachung, die auch heute noch unsere Freiheit bedroht und deren Ausmaß uns erst durch jüngste Enthüllungen richtig bewusst geworden ist. Neben direkten Todesfällen verursachten die Anschläge jedoch auch indirekte Todesfälle: Sie erzeugten Angst, aus der heraus die Menschen reihenweise vom Flugzeug aufs Auto umgestiegen sind – mit tödlichen Folgen: Da Autofahren viel gefährlicher ist als Fliegen, gab es in den zwölf Monaten nach den Anschlägen ungefähr 1.600 Verkehrstote mehr als in den Vorjahren.
Diese Beispiele illustrieren eindrücklich, dass ein mangelhafter Umgang mit Unsicherheit zu Fehlschlüssen führen kann, mit dramatischen Auswirkungen bis hin zu vermeidbaren Todesfällen. Was ist also zu tun? Sollten wir Entscheidungen lieber von Menschen fernhalten und in Expertengremien verlagern, die dann – wohlmeinend paternalistisch – für uns die "richtigen" Entscheidungen treffen? Unter keinen Umständen! Zum einen ist auf Expertenurteile keinesfalls immer Verlass, wie sich durch einen Abgleich zwischen eingetretener Wirklichkeit und Vorhersagen durch Politik, Wissenschaft, Finanzwelt und Medizin wiederholt beobachten lässt. Darüber hinaus teilen Experten oftmals nicht unsere Werte und Ziele. Nein, wir müssen unsere Entscheidungen schon selbst in die Hand nehmen – und können das auch.
Ein Werkzeugkasten für gute Entscheidungen
Für gute Entscheidungen unter Unsicherheit müssen wir uns zunächst von dem Leibniz’schen Traum verabschieden, dass es ein universelles Werkzeug für optimale Entscheidungen gibt. Vielmehr brauchen wir einen Werkzeugkasten mit verschiedenen Entscheidungsstrategien. Dieser sollte so unterschiedliche Dinge wie statistisches Denken und Bauchgefühl enthalten. Schließlich müssen wir noch wissen, mit was für einer Art von Unsicherheit wir es zu tun haben, um das passende Werkzeug auswählen zu können.
Befinde ich mich in einer Situation, in der ich alle Optionen kenne und ungefähr weiß, mit welcher Wahrscheinlichkeit welches Ergebnis eintreten wird – wir nennen das Entscheiden unter Risiko –, dann brauche ich statistisches Denken. Das ist zum Beispiel bei vielen Entscheidungen in der Medizin der Fall, sei es, dass Sie überlegen, ein Medikament zu nehmen oder an Krebsfrüherkennung teilzunehmen. Basierend auf randomisierten, kontrollierten Studien an großen Stichproben lässt sich quantitativ ziemlich gut abschätzen, wie vielen Menschen eine medizinische Maßnahme nützt und wie vielen sie schadet – und in welchem Ausmaß. Hier lohnen sich statistisches Abwägen und auch komplexe Berechnungen beziehungsweise Modelle.
In den allermeisten Situationen kenne ich jedoch nicht einmal alle meine Optionen, geschweige denn die Wahrscheinlichkeiten verschiedener Ergebnisse. Wir nennen das Entscheiden unter Ungewissheit. Hier kommen wir mit statistischen Berechnungen nicht weiter, sondern benötigen Bauchgefühl und einfache Entscheidungsregeln ("Heuristiken"): Wir müssen Informationen ignorieren, um Entscheidungen schneller, sparsamer und mit größerer Genauigkeit zu treffen. Der Punkt der größeren Genauigkeit mag überraschend sein, hören wir doch oft, dass komplexe Probleme auch komplexe Lösungen bräuchten. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade komplexe Probleme unter Ungewissheit erfordern einfache Entscheidungsstrategien. Beispiel Finanzmarkt: Studien zeigen, dass vermeintliche Laienstrategien wie "Kaufe, was du kennst" oder "Verteile dein Geld gleichmäßig auf n Optionen" erfolgreicher sein können als Urteile von Experten und komplexe, nobelpreisgekrönte Anlagestrategien. In ähnlicher Weise sind bei erfahrenen Entscheidern oftmals schnelle Urteile besser als langsame, vermeintlich wohlüberlegte – sei es in der Medizin, im Sport oder auch bei Konsumenten.
Fazit
Unsere Welt wird immer eine unsichere bleiben. Wir sollten uns von der Illusion der umfassenden Berechen- und Kontrollierbarkeit verabschieden, ohne in Angststarre zu verfallen. Denn gute Entscheidungen sind dennoch möglich: Je berechenbarer die Situation ist ("Risiko"), desto mehr brauchen wir statistisches Denken und komplexe Modelle; je unberechenbarer die Situation ist ("Ungewissheit"), desto mehr brauchen wir einfache Heuristiken sowie Intuition (Abbildung 1).
Abbildung 1: Die Kunst eine gute Entscheidung zu treffen: welches Werkzeug brauche ich in welcher Siutation? (übernommen von Gigerenzer, G. (2014). Risk savvy: How to make good decisions. New York: Viking.)
Die Kunst des guten Entscheidens besteht darin, zu wissen, wann ich mich in welcher Situation befinde, um das jeweils passende Entscheidungswerkzeug geschickt zum Einsatz zu bringen.
Und sie erfordert den Mut, Entscheidungen nicht zu vermeiden oder zu verschieben, sondern sie beherzt in die Hand zu nehmen und die Verantwortung dafür zu tragen.
Autor
Prof. Dr. Wolfgang Gaissmaier, Jahrgang 1977, erforscht Entscheidungen unter Unsicherheit als Professor für Sozialpsychologie und Entscheidungsforschung an der Universität Konstanz. Zuvor war er leitender Wissenschaftler des Harding Zentrums für Risikokompetenz am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Er wurde u.a. mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft für herausragende wissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet und ist Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina.
[Quelle: Der Text ist dem Buch "Die Vermessung des Risikos" entnommen. Wir danken der Union Investment Institutional GmbH für die freundliche Genehmigung einer Veröffentlichung des Textes auf RiskNET]
Besuchen Sie die Vermessung des Risikos im Internet unter www.dievermessungdesrisikos.de