Auch nach der Finanzkrise sind Risikomanager davon überzeugt, dass die Situation auf Finanzmärkten mit einem Wahrscheinlichkeitsmodell bei Arbitragefreiheit sehr korrekt beschrieben ist. Die Struktur des in der Praxis benutzten Ansatzes wird in der Wahrscheinlichkeitstheorie als Martingal bezeichnet. Im vorliegenden Beitrag werden alle diese Konzepte erklärt. Es wird auch gezeigt, dass genau diese Konzepte für die beobachtbaren Inflexibilitäten im Finanzsektor verantwortlich sind.
Die Mickey-Maus-Welt des Effizienzmodells kann an zwei grundfalschen Annahmen fest gemacht werden. Es wird unterstellt, sowohl die Informationskosten als auch die Anpassungskosten seien definitionsgemäß gleich Null. Bei Informationskosten von Null können neue Informationen unendlich schnell verarbeitet werden. Folglich sind alle Marktteilnehmer zu jedem Zeitpunkt symmetrisch informiert. In der Realität gibt es auf jedem Markt aber Informationsinsider und Informationsoutsider. Die Informationsasymmetrie ist ein empirisch beobachtbarer Tatbestand. Bei Anpassungskosten von Null können die Marktpreise mit unendlich großer Geschwindigkeit an jede neue Informationssituation angepasst werden. Alle Preise reflektieren den neuesten Informationsstand. Es gibt keine Preisdifferenzen. Daher gibt es niemals die Möglichkeit, aus Preisdifferenzen Arbitragegewinne zu erwirtschaften. In der Realität beobachtet man selbst auf Finanzmärkten erhebliche Zeitverzögerungen bei den Preisanpassungen. Dadurch erwirtschaften einige Marktteilnehmer hohe Gewinne, andere Marktteilnehmer dagegen haben große Verluste. Angesichts der genannten Gegenbeispiele zur Effizienzhypothese ist es erstaunlich, dass Banker nach wie vor an die Brauchbarkeit des Effizienzansatzes glauben. Wir erklären im Beitrag, warum sie das tun.
Das Wahrscheinlichkeitsmodell
Im herrschenden Effizienzansatz wird das Finanzmarktgeschehen als stochastischer Prozess modelliert: Wertpapierpreise und Wertpapierrenditen sind Zufallsgrößen. Jeder stochastische Prozess läuft nach mathematischen Gesetzen, die exogen gegeben sind. Die Marktteilnehmer kennen diese Gesetze und nutzen sie für ihre Ziele aus. Sie haben aber keine Chance, die Gesetze durch Eingriffe zu ändern. Das ist die in der Finanzierungstheorie betonte Irrelevanz-Eigenschaft. Damit sind alle Agency-Probleme und Anreizmechanismen definitionsgemäß unwirksam.
Das Wahrscheinlichkeitsmodell soll kurz mit dem Bild des Roulettespiels beschrieben werden. Beim Roulette spielt der aktive Spieler gegen die Roulettekugel. Die Kugel produziert Ergebnisse (Zahlen, Farben) nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung mit allgemein bekannten und konstanten Eintrittswahrscheinlichkeiten. Die Konstanz resultiert aus der Tatsache, dass die Stochastik der Kugel, regelgerechter Roulettetisch vorausgesetzt, vom Spieler nicht beeinflusst werden kann. Wichtig ist die folgende Feststellung: Das Wahrscheinlichkeitsmodell kann eine brauchbare Analysemethode sein, wenn der Gegenspieler, also die Natur oder das Schicksal, mit guter Näherung nicht reagiert, also passiv ist.
Das Spielmodell
Warum das Wahrscheinlichkeitsmodell für viele Finanzmarktfragen falsch sein muss, sieht man mit einem Blick. Auf dem Markt ist der Gegenspieler des Finanzinvestors auch ein Finanzinvestor. Es stehen sich zwei aktive Spieler gegenüber. Bei zwei aktiven Spielern weiß keiner im Voraus, was der Gegner tun wird. Bei jeder Aktion des einen Spielers müssen denkbare Reaktionen des Gegners einkalkuliert werden. Exogene Wahrscheinlichkeitsvorgaben sind nicht möglich, weil der Gegner nicht weiß, worauf er reagieren muss. Man spricht hier von strategischem oder interdependentem Verhalten.
Schach und Poker sind nun die Vorbilder. Ein Finanzinvestor muss sich wie ein Pokerspieler und nicht wie ein Roulettespieler verhalten. Das Erklärungsmodell bei strategischem Verhalten benutzt die Spieltheorie, hier als Spielmodell bezeichnet (vgl. Aliprantis / Chakrabarti 2000). Das Lösungskonzept heißt Nash-Gleichgewicht. Der Name stammt vom Spieltheoretiker John Nash, der in der Öffentlichkeit durch das Buch und den Film "A Beautiful Mind" bekannt wurde (vgl. Nasar 1998).
Das Weltbild
Nachdem wir die beiden Alternativen, Wahrscheinlichkeitsmodell und Spielmodell, vorgestellt haben, fragen wir nach den Ursachen für das Festhalten am Wahrscheinlichkeitsansatz. Natürlich ist jedes Modell eine erhebliche Vereinfachung und Abstraktion der Wirklichkeit, die es erklären will. Ein gutes Modell sollte zumindest qualitativ die wichtigsten Konturen der Realität näherungsweise widerspiegeln. Abweichungen in diesem Sinne sind zu akzeptieren, werden sie jedoch zu groß, muss das Modell revidiert oder gar verworfen werden.
Es ist unstreitig, dass die Finanzkrise Extremwerte an dramatischen Abweichungen des Wahrscheinlichkeitsmodells von der Realität der Finanzmärkte geliefert hat. Und obwohl Risikomanagern dies kaum verborgen geblieben sein dürfte, obwohl ihnen bekannt ist, dass sie es auf dem Finanzmarkt durchgehend mit aktiven Spielern – unter anderem ihren Kollegen – zu tun haben, kleben sie weiter an diesem Modell. Woher kommt diese Schizophrenie? Bewusst in Kauf genommene Modellabweichungen scheiden angesichts der dramatischen Fehlprognosen wohl aus. Also können andere Motive als das Streben nach möglichst guter und klientenfreundlicher Analyse unterstellt werden. Wir führen einiges dazu weiter unten aus.
Dem in der Finanzierungstheorie eingesetzten Wahrscheinlichkeitsmodell liegt ein Weltbild zu Grunde, das durch das Glaubensbekenntnis der Puritaner und Pietisten geprägt ist. Aus dieser Prägung folgt, dass das Weltgeschehen gerecht, fair und bibelkonform ablaufen muss. Die populäre Kurzformel lautet: Ein unfaires "Gratisessen", ein "free lunch", darf für keinen Menschen zugelassen werden. Aus dem Jahr 1975 gibt es vom Nobelpreisträger Milton Friedman ein Buch mit dem Titel: "There’s No Such Thing as a Free Lunch".
Dieser Satz steht in jedem Finanzierungslehrbuch. Wenn es auf Finanzmärkten kein "free lunch" geben darf, dann muss der Erwartungswert künftiger Renditen genauso groß sein wie die zuletzt beobachtete Renditehöhe. Dies ist die Quantifizierung der moralisch begründeten "no free lunch fairness". Ein stochastischer Prozess, der diese Forderung in formal-mathematischer Strenge erfüllt, wird von den Wahrscheinlichkeitstheoretikern als "Martingal" bezeichnet. Die Finanztheoretiker haben dafür den Begriff "Arbitragefreiheit" erfunden. Arbitragefreiheit ist der konzeptionelle Unterbau für die aktuelle Finanzmarkttheorie. Auf dieser Theorie basieren alle Entscheidungen im Risikomanagement. Dazu gehören die Preisbildungsprozesse bei Aktien, Anleihen, Derivaten aller Art und Verbriefungstranchen. Alle Preise für Finanzaktiva werden auf der Grundlage von Arbitragefreiheit berechnet (vgl. Irle 1998).
Die Wirklichkeit
Die Finanzkrise hat jedoch klar gezeigt, dass diese Methode der Preisbildung ins Chaos führen kann. Die uneingeschränkte Absicherung finanzwirtschaftlicher Preisbildungsprozesse durch das Konzept der Arbitragefreiheit ist ein Irrweg. Viele Risikomanager entschuldigen sich für die Finanzkrise mit Illusionen bei der Parameterberechung im arbitragefreien Grundmodell. Sie behaupten damit, das Grundkonzept sei richtig; man müsse lediglich die praktische Umsetzung verbessern (vgl. Stulz 2009). Aus unserer Sicht ist das ein absurder Aberglaube. Wir erlauben uns, folgende Analogie anzuführen: Die Verdrängung der faktenbasierten Astronomie durch den Aberglauben der Astrologie hätte das Experiment der Mondlandung ins Chaos geführt. Das Chaos der Finanzkrise hat gezeigt, dass die kritiklose Modellierung finanzwirtschaftlicher Marktprozesse auf der Basis von Arbitragefreiheit unsinnig ist. Es ist daher unverantwortlich, dass Experten behaupten, die Finanzkrise sei kein Anlass, das Konzept der Arbitragefreiheit zu revidieren (vgl. Föllmer 2009).
Unser Verdacht
Jetzt kommen wir zu den oben angedeuteten Motiven. Wir sind der Meinung, dass die Mehrzahl der Risikomanager sehr wohl sieht, dass die Arbitragefreiheit eine unsinnige Annahme ist. Dennoch hält man daran fest. Warum? Aus dem oben Gesagten folgt, dass die Martingal¬eigenschaft bei finanzmodellierenden Zufallsprozessen dann berechtigt postuliert wird, wenn Arbitragefreiheit des Marktes unterstellt werden kann. Jetzt erkennt man die Absicht: Die Annahme der Arbitragefreiheit, deren stochastische Modellierung (fast) zwangsläufig die Martingaleigenschaft erfordert, erschließt den Risikomanagern die hoch entwickelte Ideenwelt der Martingaltheorie mit ihren mächtigen Werkzeugen, wie etwa den Lemmata von Ito und Girsanow oder der Martingalkonvergenz. Man hat sich dadurch den Zutritt zu einer Formelwelt erschlichen, die immer eindeutige Lösungen, "closed form solutions", bereithält. Diese Lösungen sind auf Computern, Taschenrechnern, vielleicht sogar auf Smart-Phones abrufbar.
Die Eindeutigkeit von Lösungen ist aus Bankensicht der vielleicht wichtigste Gesichtspunkt für das Festhalten an der Arbitragefreiheit: Eindeutigkeit suggeriert Exaktheit und Wahrheit. Für jeden Risikomanager ist es zentral, dass er mit konkreten Zahlen argumentieren kann. So wird beispielsweise die Risikohöhe eines Finanztitels durch die Kennzahl "Volatilität", die von Finanzinstituten mit der Kennzahl "Value at Risk" gemessen. Aus Sicht der Kunden sind solche Zahlen die Garantien für eine objektive Überprüfbarkeit oder Vergleichbarkeit. Dass es sich dabei um Scheinobjektivität bzw. -genauigkeit handelt, ist möglicherweise nicht bewusst, wird aber auf Bankenseite billigend in Kauf genommen. Der Vorteil für Banken liegt auf der Hand: Der zur Wahrhaftigkeit erzogene Kunde kauft willig jedes Produkt, sobald ihm die Korrektheit der Prospektaussagen durch Hinweis auf zugrunde liegende "unfehlbare Finanzmathematik" plausibel gemacht worden ist.
Im Gegensatz dazu gibt es bei den von uns präferierten Spielmodellen nicht in jeder Situation eindeutige Lösungen. Im Regelfall müssen sich Spieler zwischen mehreren Nash-Gleichgewichten entscheiden. In derartigen Situationen muss der Risikomanager Verantwortung übernehmen. Wenn er sich falsch entschieden hat, muss er möglicherweise für den Schaden haften. Dazu ist er nicht bereit, solange er sich bedenkenlos hinter dem Wahrscheinlichkeitsmodell verschanzen kann und deshalb keine Konsequenzen zu befürchten hat.
Fazit
Es gibt noch einen weiteren sehr praktischen Grund, am Wahrscheinlichkeitsmodell wider besseres Wissen festzuhalten. Die Banker sehen sehr wohl den Schaden, den sie in der Finanzkrise angerichtet haben, fühlen sich aber aufgehoben in der Gewissheit, dass sie die Rechnung für den angerichteten Schaden nicht selber bezahlen müssen. Sie dürfen die Rechnung an den Staat weiter reichen. Damit verletzen sie sogar die eigenen Spielregeln. Sie holen sich vom Staat genau den "free lunch", den es nach ihrem eigenen Credo gar nicht geben darf. Und damit nicht genug. Sie rechtfertigen dieses Vorgehen wie folgt: Da es trotz des fairen Ansatzes der Arbitragefreiheit in der Finanzkrise zu Verlusten gekommen ist, muss eine finstere Macht im Spiel gewesen sein, von der man naturgemäß keinen Schadenersatz fordern kann. Es ist daher aus Bankensicht nur gerecht und fair, wenn der Staat die Verluste übernimmt. Zu dieser Logik fällt uns nichts mehr ein.
Literatur
Charalambos D. Aliprantis / Subir K. Chakrabarti: Games and Desision Making, Oxford 2000.
Hans Föllmer: Alles richtig und trotzdem falsch?, in: Mitteilungen der DMV, 2009, Bd 17, 3, S. 148 ff.
Milton Friedman: There’s No Such Thing as a Free Lunch, La Salle (Ill.) 1975.
Albrecht Irle: Finanzmathematik, Stuttgart 1998.
Sylvia Nasar: A Beautiful Mind, New York 1998.
Rene Stulz: Was Risikomanager falsch machen, in: Harvard Business Manager, April 2009, S. 67 ff.
Autoren:
Dr. Volker Bieta ist Lehrbeauftragter an der TU Dresden.
Dr. Hellmuth Milde ist Gastprofessor an der Universität Luxemburg.
Dr. Wolfgang Sendler, Professor für Statistik an der Universität Trier (im Ruhestand)
[Bildquelle: iStockPhoto]
Kommentare zu diesem Beitrag
@ Jo: die Banker lernen auch nichts solange das nicht in ihrem Interesse ist. Und das ist wiederum solange Staaten für sie finanziell einspringen. Es scheint, dass die Regierungen immer mehr die Rolle des Top-Managements für ihre Völker spielen. Mit den gleichen Agency-Problemen on top.
Lob an die Autoren - sehr gelungener und provozierender Artikel. Aber auch spieltheoretische Ansätze hätten zu keinen neuen Erkenntnissen geführt und schon garnicht die Finanzkrise abgemildert oder gar verhindert ;-((
@Yasmin: hier geht es nicht um die Krisen-Verhinderung oder führende Rolle der Spieltheorie. Hier geht es mehr um falsches Welt-Bild der Banker oder?
@sven: kann jemand überhaupt vernünftig erklären, was sind "systemische" bzw. "unsystemische" Banken? Wenn es hier gemeint wird, dass es um sehr wichtige für die Volkswirtschaft Banken geht, die auf keinen Fall untergehen können/dürfen/sollen, dann lache ich nur. :-)
Damit bleibt m.E. nur der Versuch ein "too big to fail" durch eine breite Diversifizierung bei geringe Interdependenz zu verhindern.
Klappt in der Natur doch auch: Was juckt's die Stubenfliege, wenn der Hai stirbt.
print version des obigen beitrages nicht geben wird. die begruendung: die print
version wird ohnehin nicht gelesen. such is life.